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Ich nehme die Achterlounge in Beschlag, um dort die Befragung der Crew durchzuführen.
Vel verbringt mehrere Stunden mit irgendwelchem technischen Zeugs, das mir nicht das Geringste sagt. Es ist zwar äußerst praktisch, dass er so bewandert ist in diesen Dingen, aber irgendwie auch seltsam, da er doch eigentlich Künstler werden wollte. Also frage ich nach.
»Wie bist du eigentlich Kopfgeldjäger geworden? Du hast mir davon erzählt, wie du Trapper Farley getroffen hast, aber wolltest du nicht eigentlich Maler werden oder so, nachdem du Ithiss-Tor verlassen hast?«
Velith blickt mich kurz an. »Ich habe keine guten Erfahrungen damit gemacht, Sirantha. Es … kommt nichts Gescheites dabei heraus, wenn ich male. Außerdem gibt es schon so viele Künstler im Universum.«
Interessant. Träume werden nicht immer wahr. Allzu oft gehen sie zu Bruch, und die Splitter bleiben unter der Haut, lange nachdem die äußere Wunde verheilt scheint. Anscheinend möchte Vel nicht über seine gescheiterte Künstlerkarriere reden, also belasse ich es dabei. Unwillkürlich betaste ich seine Malerei auf meinem Hals. In gewissem Sinne bin ich eine lebendige Leinwand, ein wandelndes Mahnmal für das Leben, das er nie haben wird. Und das macht mich traurig.
Wie sich herausstellt, kommt erst mal nur ein Besatzungsmitglied in Betracht. Vel hat zwar Dutzende gefunden, die um die zwei Meter groß sind, aber von denen hat nur einer das Schiff verlassen. Natürlich könnte das Logbuch manipuliert worden sein, aber das kann nicht jeder. Erst, wenn bei der Befragung nichts herauskommt, werden wir uns die Leute ansehen, die so etwas könnten.
Ich ziehe mir eine gediegene Kombination aus schwarzer Jacke und Hose an, die mir die Ausstrahlung einer gewissen Autorität verleiht, ohne mich einer bestimmten Gruppe zuzuordnen. Es ist ein gutes Gefühl, einmal nicht diese dämliche goldene Robe zu tragen. In den letzten Tagen habe ich – wen wundert’s? – eine gewisse Abneigung gegen diese Farbe entwickelt.
Mein Haar ist erstaunlich stark gewachsen, seit wir hier sind, und hängt bis über die Schultern herab. Etwas an der Luft hier scheint ihm gutzutun, wahrscheinlich dasselbe Zeug, das die Pflanzen zum Blühen bringt. Unsere Innenarchitekten würden bestimmt einiges dafür hinblättern, um zu erfahren, wie der Trick funktioniert. Ich beschließe, mir die Locken nach hinten zu einem Zopf zu binden. Mit Vel neben mir sehe ich damit bestimmt streng und einschüchternd aus. Das ist zumindest schon mal ein Anfang.
Wirklich praktisch, dass standardmäßig jedes Verlassen und Betreten des Schiffs protokolliert wird. Ich werfe noch mal einen Blick auf die Angaben über unseren »Hauptverdächtigen«, die Vel mir auf das Datapad überspielt hat. Es steht nicht viel drin, nur die Blutgruppe und die nächsten Verwandten. Trotzdem müssen wir mit ihm sprechen, also lassen wir nach ihm schicken.
Stocksteif, die Arme an die Seiten gepresst, steht er da. Er ist ziemlich groß, sonst wäre er auch nicht hier, aber er kann kaum älter als achtzehn sein. Ich frage mich, was ihn dazu getrieben hat, sich der Crew anzuschließen. Wollte er endlich weg von dem öden Dreckklumpen, den sie Lachion nennen? Vielleicht steckt ja ein Kolonist in ihm, den es schon immer zu den Sternen gezogen hat.
Er vermeidet jeden Augenkontakt, als hätte er Angst, wir könnten es ihm als Respektlosigkeit auslegen. Vielleicht hat er auch etwas zu verbergen, oder er kann Vels Anblick nicht ertragen. Ich wünschte, Constance wäre hier und könnte die Vitalfunktionen des Jungen scannen. Ich habe vergessen, Vel danach zu fragen, ob er mit seiner Augenkamera auch Wärmebilder machen kann.
»Argus Dahlgren?« Ich lege das Datapad beiseite.
»Ja, Botschafterin.« Er entspannt sich immer noch kein bisschen.
»Warum setzen Sie sich nicht?«
Vel hat mehrere Stunden gebraucht, um den Stuhl, auf dem Argus Platz nimt, mit speziellen Kontaktpunkten auszustatten und als Lügendetektor zu präparieren.
Ich weiß nicht einmal, ob Argus überhaupt den Raumhafen verlassen hat. Er hatte strikte Anweisung, auf dem Schiff zu bleiben, und vielleicht ist es das, warum er so nervös ist. Könnte eine harmlose Wette gewesen sein, irgendwas, womit er zuhause angeben kann. Oder vielleicht auch mehr. Genau das werden wir jetzt herausfinden.
Endlich blickt er mich mit seinen hellen Augen kurz an, und ich zucke innerlich zusammen. Sie sind quecksilberfarben mit eisblauen Sprenkeln darin. Zusammen mit dem dichten schwarzen Haar macht ihn das zu einem S-Gen-Träger. Kein Wunder also, dass er das Schiff verlassen hat. Wir Springer halten uns nun mal nicht gern an die Regeln. Was auch der Grund ist, weshalb mir dieser Botschafterinnen-Job immer mehr zur Qual wird.
»Wollen Sie etwas zu trinken?«, frage ich, damit er sich ein wenig beruhigt. Ich glaube nicht, dass er unser Mann ist. Er ist nicht der Typ, der sich der Puristen-Bewegung anschließen würde, um die Menschheit »sauber zu halten« von jedem Einfluss durch andere Spezies. Vor mir sitzt ein halbwüchsiger Bursche, der sich danach sehnt, Dinge zu sehen, die er noch nicht einmal ansatzweise versteht.
Noch bevor Argus antworten kann, richtet sich Vel drohend auf und flüstert so laut, dass der arme Junge es garantiert mitbekommt: »Sparen Sie sich die Höflichkeiten für später auf, Botschafterin. Zuerst hat der Verdächtige ein paar Fragen zu beantworten.«
Schon verstanden. Die Rolle des Bösewichts passt hervorragend zu Vel. Argus hat jetzt schon Angst vor ihm, dabei hat Vel noch nicht mal losgelegt. Tja, willkommen in der großen, grausamen Welt, Jungchen. Wunder weit jenseits deiner Vorstellungskraft erwarten dich.
Ich beuge mich vertraulich nach vorn. »Wollen Sie mir freiwillig sagen, warum Sie das Schiff verlassen haben?«
Wenigstens redet er nicht lange um den heißen Brei herum. »Ich war neugierig«, sagt er mit einem Hauch von Trotz. »Und ich hatte es satt, ständig auf dem Schiff herumzuhängen.«
Ein Springer, dem langweilig ist, ist zu allem möglichen Unfug fähig. Er muss schleunigst ausgebildet werden, damit er seinen Forscherdrang ausleben kann. Nur wo? Im Moment ist alles im Umbruch, und das Konglomerat hat die Akademie auf Terra Nova geschlossen. Vielleicht werde ich eines Tages ja doch noch Grimspace-Trainerin … Aber eins nach dem anderen.
»Und was haben Sie dann getan?«
»Nichts«, murmelt er. »Ich hab’s nicht geschafft, aus dem Dockingbereich herauszukommen.«
Ich bin geneigt, Argus zu glauben, werfe Vel aber zur Sicherheit einen fragenden Blick zu, und er neigt den Kopf um etwa einen Millimeter. Also ist er derselben Meinung. Bevor ich Argus entlasse, möchte ich jedoch noch eine andere Taktik versuchen.
»Könntest du dir irgendjemand vorstellen, der etwas dagegen hat, dass wir hier sind?«, frage ich ganz vertraulich. »Gibt es irgendwelche Nörgler auf dem Schiff oder so?«
Argus schüttelt den Kopf. »Nein, Botschafterin. Saul hat nur Leute rekrutiert, die schon öfter davon geredet haben, wie gern sie die Sterne sehen möchten. Wir bekommen nicht oft die Gelegenheit dazu. Marsch leitet die meisten Flüge, und er hat eine kleine, eingeschworene Mannschaft.«
»Und du kennst niemanden, der einer dissidenten Gruppe angehören könnte?«
»Einer was?«, fragt er aufrichtig verwirrt.
Ich verkneife mir ein Lachen. »Egal.« Ich schaue wieder Vel an. »Noch weitere Fragen?«
»Für den Moment nicht, aber … Wir wissen, wo wir Sie finden, falls nötig.«
Das klingt einigermaßen unheilvoll, und der Junge tut mir beinahe leid. Doch wahrscheinlich kann er eine kleine Lektion ganz gut vertragen. Wenn ihn die Ithorianer auf seinem Ausflug erwischt hätten, hätte alles Mögliche passieren können.
»Kann ich jetzt gehen?« Argus scheint es kaum erwarten zu können.
»Fast. Eine letzte Frage noch: Würdest du gern Navigator werden?« Ich gehe mal davon aus, er weiß, dass er das S-Gen hat.
»Mehr als alles andere auf der Welt«, antwortet er wie aus der Pistole geschossen.
Ich versuche, mir den Stich, den ich verspüre, nicht anmerken zu lassen. Mutter Maria, war ich auch einmal so neugierig und sprudelnd vor Energie? Muss ich wohl gewesen sein. Sonst wäre ich nicht von zuhause abgehauen, um die Akademie zu besuchen.
»Ich werde sehen, was ich für dich tun kann.«
Sein Gesicht erstrahlt wie eine Supernova, deshalb füge ich hinzu: »Ich kann dir nichts versprechen, so wie die Dinge im Moment stehen. Aber es wäre nicht schlecht, wenn du eine Aufgabe bekommst, die dir auch liegt. Im Moment ist noch vieles im Umbruch, wie du weißt.«
Ich sehe keinen Grund, ihm von der finsteren Seite des Ganzen zu erzählen. Von der Sucht, sobald man den Grimspace einmal geschmeckt hat, von diesem Verlangen, das einen langsam umbringt, und man merkt es erst, wenn es zu spät ist. Soll er erst mal den Kick genießen. Das habe ich schließlich auch getan.
Argus nickt. »Ja, Botschafterin. Das ist so, seit Sie Farwan den Garaus gemacht haben. Stimmt es, dass Sie vor zehn Umläufen die Mareq entdeckt haben? Unsere Fürstin sagt, sie hätte mit eigenen Augen gesehen, wie sie es mit sechs Gunnars gleichzeitig aufgenommen haben. Und haben Sie Hon wirklich mit bloßen Händen das Herz aus der Brust gerissen? Die Geschichten, die über Sie erzählt werden …« Dann verstummt er mit einem Schlag, als würde er fürchten, er hätte schon zu viel gesagt. Er sieht mich an, als würde ich ihm jeden Moment die Zunge herausreißen.
Erst jetzt merke ich, dass Argus vor mir genauso viel Angst hat wie vor Vel. Für ihn sind wir die böse Hexe und ihr Hausdämon oder etwas in der Art, lebendig gewordene Albträume aus seiner Kindheit.
Heilige Mutter Maria, wie konnte es je so weit mit mir kommen?
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<<TITEL>> OmniNewsNet: Meinung der Woche
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Sehr geehrte Miss Lightman,
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Meiner Meinung nach haben Sie Ihrem Publikum keinen guten Dienst erwiesen, indem Sie es versäumt haben, Ramona Jax’ Aussagen in Ihrer Sendung durch entsprechende Gegenargumente zu widerlegen. Lassen Sie sich von der PR-Abteilung des Syndikats nicht hinters Licht führen. Die sind mit allen Wassern gewaschen. Woher ich das weiß? Ich war Stellvertretender Direktor der PR-Abteilung des Farwan-Konzerns im Hauptquartier auf Terra Nova, und ich erkenne eine gezielte Fehlinformations-Kampagne.
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Das Syndikat steckt noch in den Kinderschuhen im Vergleich zu uns damals. Nichtsdestotrotz ist die letzte Werbekampagne durch und durch gelungen und perfekt auf den durchschnittlichen Konsumenten zugeschnitten. Sobald man genauer hinsieht, fällt einem sofort auf, dass der neue Slogan »Wir schützen Ihre Welt« ein Plagiat unserer Kampagne vor zehn Umläufen ist. Ich habe den Slogan damals selbst geschrieben. Selbst die Bilder dazu, die den unbehelligten Alltag der Durchschnittsbürger zeigen, während das Syndikat im Hintergrund dafür sorgt, dass alles reibungslos funktioniert, sind abgekupfert. Man sieht viele glückliche, lachende Gesichter – eine solide und wirkungsvolle Werbestrategie.
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Wenn die Bürger des Konglomerats das Syndikat nur oft genug als hilfreichen Beschützer vor Augen geführt bekommen, wird sich dieses Bild auf Dauer in ihr Unterbewusstsein einbrennen. Das ist eins der grundlegenden Prinzipien von Werbestrategien, und es basiert auf fundierten Statistiken: Bekommt eine Testperson dreimal innerhalb von vierundzwanzig Stunden dasselbe weichgezeichnete Bild vom Syndikat präsentiert, bleibt der Eindruck im Gedächtnis haften. Mit ständiger Berieselung dieser Art habe ich über viele Umläufe hinweg viel, viel Geld verdient. Sie wirkt sich auf Dauer auf das individuelle Wertesystem und alle persönlichen Entscheidungsprozesse aus. Es wird der Tag kommen, an dem sich die Bürger nicht mehr um die Wahrheit scheren, und alle Enthüllungsberichte der Galaxie können dann nichts mehr daran ändern.
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Meine Aufgabe war es, dafür zu sorgen, dass Farwan aus jeder noch so kritischen Situation mit einer blütenweißen Weste hervorgeht. Was jetzt über die Satelliten ausgestrahlt wird, sagt mir, dass einige meiner früheren Kollegen mittlerweile für das Syndikat arbeiten. Das sind Spitzenleute, die eine Spitzenkampagne fahren, und ich weiß, wovon ich spreche.
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Wenn das Konglomerat nicht bald handelt, wird es zu spät sein. Normalerweise würde ich es mit einer gewissen Belustigung sehen, wenn sie erneut versagen, was, historisch betrachtet, die Spezialität des Konglomerats zu sein scheint. Aber ich versichere Ihnen, die Situation ist todernst. Glauben Sie mir, denn als ehemaliger Mittäter kann ich das besser beurteilen als jeder andere. Wenn es dem Syndikat gelingt, die Macht an sich zu reißen, werden wir uns alle wünschen, in einer anderen Galaxie zu leben.
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Mit freundlichen Grüßen,
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Alfredd. E. Pruitt
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