33
Ich habe das Gefühl, als wären Stunden vergangen, als der Vernehmungsoffizier endlich erscheint. Bestimmt haben sie uns mit voller Absicht so lange in unserem eigenen Saft schmoren lassen.
Ich kenne ihn nicht, aber ein kurzer Blick sagt mir, dass er ein Männchen ist.
Es ist größer als die meisten, die ich bisher gesehen habe, und sein Thorax sieht aus, als hätte er ein Segment mehr, aber auf die Schnelle kann ich das nicht mit Sicherheit sagen. Außerdem schimmert sein Panzer kränklich gelb, und mir schwant nichts Gutes.
Dann begreife ich, was mich daran so beunruhigt: Die künstliche Farbe auf seinem Panzer bedeutet, dass er außerhalb des normalen Gesellschaftssystems steht. Er wird nie xanthische Streifen tragen, egal, was er erreicht – oder verbricht. Kein gutes Vorzeichen.
»Mein Name ist Ehon Il-Chath.«
Sein Wa macht mich nervös. Der Winkel gefällt mir nicht, und auch nicht, wie er mir fast seine Klauen zeigt. Er beugt nicht einmal den Kopf, stattdessen richtet er seine Augen in stummer Anklage direkt auf mich. Zu allem Überfluss liefert der Chip auch noch eine entsprechend düstere Interpretation seiner Verneigung: In der Zeit des allumfassenden Kummers verschlingt graue Natter die Besiegten.
Kannst du schön vergessen.
Ich wünschte, ich könnte genau das mit meinem Wa zum Ausdruck bringen, aber ich darf mir mal wieder nichts anmerken lassen und verneige mich mit unbewegter Miene.
Irgendwie scheint doch etwas von meiner Verärgerung durchzuschimmern, denn unser Befrager macht erst einmal einen Schritt zurück, bevor er sich wieder fängt.
»Dies ist eine reine Formalität, aber ich muss Ihnen ein paar Fragen zu dem Vorfall stellen«, sagt er und setzt sich mir gegenüber. »Ich werde Sie nicht lange aufhalten.«
Nur lange genug, um unsere Quartiere nach Spuren von Zitronensäure zu durchsuchen, nicht wahr, Ehon?
Ohne mit der Wimper zu zucken, höre ich mir die Übersetzung an, dann neige ich den Kopf. »Ich stehe Ihnen gern zu Diensten. Wir sind alle bestürzt und zutiefst betrübt über das, was Scharis zugestoßen ist.«
Maria, ich hab es so satt, ständig solche hohlen Phrasen zu dreschen. Wenn man ständig etwas vortäuschen muss, weiß man irgendwann selbst nicht mehr, was man in Wahrheit denkt oder fühlt. Bald werde ich nur noch solche Plattitüden von mir geben, weil es von mir erwartet wird. Und genau dem wollte ich entgehen, als ich von zuhause weggerannt bin und die Karriere ausgeschlagen habe, die meine Eltern für mich geplant hatten. Wenn ich nicht bald einen anderen Job finde, werde ich genauso wie all die anderen verlogenen Politiker.
Ehon blickt auf sein Datapad, und mir bleibt ein bisschen Zeit zum Nachdenken. Mich in den Nav-Computer einzuklinken war nicht unbedingt eine gute Idee, so sehr es Marsch auch geholfen hat. Es hat den starken Wunsch in mir geweckt, mich einfach in den Grimspace davonzumachen. Soll sich die Menschheit eine Weile selbst um ihre Probleme kümmern. Das ist die alte Jax, aber ich muss zugeben, ihre Einstellung hat etwas Verlockendes.
Nachdem er sich mit den Fakten vertraut gemacht hat, kommt der Vernehmungsoffizier direkt zur Sache. »Können Sie mir sagen, wo Sie sich zwischen Mitternacht und fünf Uhr heute Morgen aufgehalten haben?«
Die Ithorianer haben ein anderes Zeitmaß als wir, aber der Chip formuliert die Frage entsprechend um, damit ich sie verstehen kann. Ich werfe Vel einen verstohlenen Blick zu, während er übersetzt. Was es wohl für ihn bedeutet, wenn herauskommt, dass er die ganze Nacht in meiner Suite war? Keine Ahnung, wie sein Volk das interpretieren wird. Nach dem, was ich bisher weiß, werden sie ihn wahrscheinlich für einen Perversling halten, aber da er mein Dolmetscher und Vermittler ist, können sie ihn nicht einfach zu Zwangsarbeit verdonnern wie die anderen »Geisteskranken«.
»Um wie viel Uhr haben wir die Party verlassen?«, frage ich Vel.
»Eine Stunde nach Anbruch des neuen Tages?« Inzwischen misst er die Zeit, wie wir es tun – kein Wunder, wenn man bedenkt, wie lange er schon unter Menschen lebt.
Ich nicke. »Klingt gut.«
Der Offizier – oder was immer er ist – wackelt ungehalten mit dem Kopf. Es gefällt ihm nicht, dass wir uns unterhalten und er kein Wort davon versteht. Aber da es auf dem ganzen Planeten keinen anderen Dolmetscher für Universal gibt als Vel, wird er uns wohl oder übel vertrauen müssen.
»Was sagt sie?«, meldet er sich verärgert zu Wort.
»Die Botschafterin erkundigt sich lediglich, wann wir Ratsmitglied Devris Wohnung verlassen haben, um Ihre Frage wahrheitsgemäß beantworten zu können«, erwidert Vel aalglatt.
Ehon beugt sich verdutzt nach vorn. »Sie beide haben den letzten Abend gemeinsam verbracht?«
»Ich begleite die Botschafterin zu allen Anlässen, seien Sie dienstlich oder privat«, entgegnet Velith ungerührt. »Wie sollte sie ohne mich kommunizieren?«
Ehon schlägt die Klauen gegeneinander – beinahe schon eine Beleidigung. »Sie waren also letzte Nacht auf einer Party von Ratsmitglied Devri und haben die Veranstaltung erst zu später Stunde verlassen. Waren Sie die ganze Zeit über zusammen?«
Waren wir nicht. Ich warte, bis Velith alles wiederholt hat, dann antworte ich: »Velith Il-Nok hat sich eine Zeit lang unter vier Augen mit Devri unterhalten, während Scharis mir Gesellschaft leistete. Er ging erst, nachdem sich Mako zu uns gesellte. Während der gesamten Zeit befand ich mich in einem Raum voll Ithorianer, die mich alle gesehen haben.«
Maria sei Dank, Ehon scheint nach etwas zu suchen, woraus er mir einen Strick drehen kann, doch ich war die ganze Zeit über nie allein.
Vel übersetzt meine Worte, während Ehon nachdenklich mit den Krallen klappert und meine Aussage schließlich in sein Datapad eingibt.
»Gut«, erklärt er. »Was geschah, nachdem Sie die Party verlassen hatten?«
Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Vel unmerklich nickt. War das ein Zeichen? Offensichtlich, also lege ich los: »Vel begleitete mich zu meiner Suite«, erkläre ich leise. »Er blieb bis Sonnenaufgang.«
Sollte er doch nicht einverstanden sein mit dem, was ich gesagt habe, wird er es korrigieren. Trotzdem bin nicht überrascht, als er meine Antwort Wort für Wort übersetzt.
Ehon zuckt regelrecht zusammen, als er sie hört. Ich brauche mich also nicht länger zu fragen, was die Ithorianer davon halten. Seine Mandibeln zittern vor Abscheu, aber ich muss ihm zugutehalten, dass er die Sache nicht weiter vertieft, sondern die Informationen lediglich in sein Datapad eingibt. Ehons Diskretion in allen Ehren – die nächsten Tage wird er sich bestimmt haltlos betrinken wegen der Ungeheuerlichkeit, die ihm gerade zu Ohren gekommen ist.
»Und Sie wären beide bereit, einen Eid darauf zu schwören, dass Sie die frühen Morgenstunden zusammen verbracht haben?«
Vel wartet meine Antwort gar nicht erst ab. »Ja.«
Ehon blickt ihm fest in die Facettenaugen. »Sie würden mich doch nicht um der Botschafterin willen belügen, Il-Nok?«
Velith lässt die Klauen auf und zu klappen und stößt ein leises Zischen aus. »Wären Sie nicht der Vernehmungsoffizier, würde ich umgehend Satisfaktion verlangen.«
»Und Ratsmitglied Devri würde sich ebenfalls dafür verbürgen, dass Sie zuvor in seiner Gesellschaft waren?«, fragt Ehon und übergeht Vels Entrüstung.
Als ich Gelegenheit habe zu antworten, sage ich: »Das wird er. Und hundert weitere hochangesehene Ithorianer. Wir hatten eine ganz reizende Unterhaltung mit zwei aufstrebenden Unternehmern namens Arqut und Kalid.«
Ehon schließt seinen Bericht ab und richtet sich auf. »Für den Moment dürfte das genügen, Botschafterin. Sollte ich Sie noch einmal brauchen, weiß ich, wo ich Sie finde. Il-Nok, Sie dürfen die Botschafterin zu ihrem Quartier bringen, aber ich brauche Sie in einer Stunde wieder hier, um die anderen zu befragen.« Sein Abschieds-Wa jagt mir kalte Schauer über den Rücken.
Graue Natter jagt weiche, schläfrige Beute. Stiller Tod.
Ich lasse mir meine Gefühle nicht anmerken und unterdrücke ein Zittern. Danke für die Warnung, Vollidiot, aber ich bin nicht so verschlafen, wie du glaubst. Ich verneige mich mit einem kontrollierten Wa und bin froh, die drückend süßliche Gewächshausatmosphäre des Verhörraums endlich verlassen zu können. Velith folgt direkt hinter mir und legt mir eine Klaue auf die Schulter – nicht, um mich zu beschützen, sondern aufgrund irgendeiner Tradition, deren Ursprung mir im Moment entfallen ist.
»Die Sache wirft kein gutes Licht auf dich«, sage ich, nachdem wir das Gebäude verlassen haben. Draußen fegt mir kalter Wind um die Ohren.
»Der weitere Verfall meines Rufs kümmert mich nicht«, erwidert er. »Er ist ohnehin nicht mehr zu retten, und zumindest haben wir beide ein Alibi. So gesehen ist es ein echter Glücksfall, dass ich letzte Nacht in Gesprächslaune war.«
Inzwischen haben meine Zähne angefangen zu klappern, und Vel bringt uns eilig zum nächsten Bahnhof. Er ist sichtlich amüsiert, weil ich nie einen Mantel zur Hand habe, wenn ich einen brauche. Nur hat er diesmal seine Kopfgeldjägerausrüstung nicht dabei, um Abhilfe zu schaffen.
»Sie werden das Schlimmste von dir denken.«
Vel blickt mich einen Moment lang schweigend an. Das Rauschen des herannahenden Zugs ist das einzige Geräusch auf dem fast völlig verlassenen Bahnsteig.
»Sie wollen sagen, man wird mich für einen Sodomisten halten, der sich eine menschliche Liebhaberin nimmt?«
Meine Augen weiten sich. »Ich wollte damit nicht …«
Verdammt. Ihn zu beleidigen war das Letzte, was ich wollte. Mir ist es egal, was er tut oder nicht tut. Ich wollte auf die heftige Abneigung hinaus, die seine Rasse gegen uns Menschen verspürt.
»Lassen Sie mich es so sagen, Sirantha: Das Leben im Exil hat mich veranlasst, viele der Tabus zu überdenken, mit denen ich aufgewachsen bin. Jedes höher entwickelte Lebewesen verspürt nach einem bestimmten Zeitraum des Alleinseins eine gewisse Einsamkeit, und während meines langen Exils hatte ich tatsächlich sexuelle Beziehungen zu Menschen, nur wussten die meisten von ihnen nicht, wie ich in Wahrheit aussehe. Eines meiner Verhältnisse haben Sie sogar kennengelernt.«
Noch bevor ich etwas erwidern kann, fährt der Zug ein.