Epilog
Eine Woche, nachdem die Schule wieder begonnen hat, kommt Billy Mutsch und mich in unserem echten Zuhause besuchen. Er hat sich das Haar etwas kürzen lassen, allerdings trägt er einen Dreitagebart. Mutsch lässt ihn sogar in die Wohnung und bietet ihm vom Nudelauflauf an, den sie gerade aus dem Ofen genommen hat. Sie tut immer noch so, als wäre er irgendwie zufällig in der Gegend gewesen.
Am Anfang ist es ein bisschen eigenartig, zu dritt am Essenstisch zu sitzen, was aber mehr an den Ereignissen der vergangenen Wochen liegt als an Billys Anwesenheit.
»Wie geht es Elsa?«, fragt er Mutsch beim Nachtisch, einer grünen Götterspeise mit Dosenmandarinen, die mich das Gesicht verziehen lässt. »Deine Mutter hält sich äußerst bedeckt, wenn ich ihr am Gartenzaun begegne.«
»Du meinst, wenn du wieder mal eins deiner Schafe abholst.«
Er grinst und schiebt sich einen weiteren Löffel Chemiegrütze in den Mund.
»Was sollen wir dir erzählen, es ist nicht einfach«, sagt sie. »Luise versteht die Welt nicht mehr, sie hat immer geglaubt, sie tut alles nur zu Elsas Bestem. Es hat sie erschüttert, dass Elsa David decken wollte. Da ist so viel kaputtgegangen über die Jahre.« Traurig schüttelt sie den Kopf, und ich greife über dem Tisch nach ihrer Hand. »Elsa ist erst mal zur Kur gefahren, aber wenn sie wieder zurück ist, müssen sie das alles aufarbeiten, das wird für niemanden einfach. Auch nicht für uns. Ich mache mir immer noch Vorwürfe, dass ich nicht …«
»Schon gut, Mutsch«, sage ich, »den Schuh müssen wir uns alle anziehen.«
»Es ist nicht eure Schuld.« Billy lehnt sich zurück und lässt den Blick nachdenklich durch unser Wohnzimmer schweifen, in dem keine freie Wandfläche mehr zu sehen ist, weil überall Bücherregale angebracht sind. »Manchmal passieren die schlimmsten Dinge bei den besten Absichten.«
Eine Weile sitzen wir alle grübelnd am Tisch, bis Mutsch einen spitzen Schrei ausstößt, weil ihr Edgar über den Fuß gerannt ist.
»Harper! Ich habe dir gesagt, du sollst sie in den Käfig stecken.«
Entschuldigend hebe ich die Hände, und sie wirft mir finstere Blicke zu. Doch bevor es zu einer längeren Diskussion kommen kann, sagt Billy: »Sie haben übrigens herausgefunden, wer mein Schaf getötet hat. Es war Mark Hollstein. Der Junge ist bekannt. Prügelt sich gern, ein Unruhestifter, wie er im Buche steht. Erst vor Kurzem hat er sich so stark mit einem Polizisten angelegt, dass er genäht werden musste und wegen dieses Vergehens jetzt Sozialstunden ableisten muss.«
»Er gehört der Clique vom Scherbenberg an«, füge ich mein spärliches Wissen hinzu.
»Einer seiner Kumpel hat sich bei seiner Mutter verplappert, die dann zur Polizei gegangen ist. Die Jungs haben sich an dem Abend wohl ziemlich hochgeschaukelt und dann hat eins zum anderen geführt. Sie haben sich einen Spaß daraus gemacht, nachts im Bruchwald entlangzugehen und mit irgendwelchen Lichtern vorbeikommende Passanten zu erschrecken. Kaum hat der Erste in der Stadt von Moorgeistern geredet, hat sie der Übermut gepackt. Dumme Jungenstreiche eben.«
Mutsch wedelt mit der Gabel vor Billys Gesicht herum. »Das ist doch kein Jungenstreich mehr.«
»Ich bin jedenfalls froh, dass diese ganze Sache endlich aufgeklärt ist. Jetzt kann sich die Stadt wieder ein bisschen beruhigen.«
»Ja, aber es wird lange dauern, bis die Leute diesen Schock überwunden haben. Wenn ein Kind sich gezwungen sieht, zu solchen Mitteln zu greifen, dann …«
»Was wird jetzt mit David passieren?«, frage ich leise.
»Wahrscheinlich werden Davids Verteidiger versuchen, mildernde Umstände für ihn geltend zu machen«, erklärt Billy. »Außerdem wird auf ihn noch das Jugendstrafrecht angewandt, weil er erst sechzehn ist. Aber wenn ihr mich fragt, ist er gestraft genug. Die Familie ist aus Mahnburg weggezogen, sein Arm funktioniert nie wieder richtig und es wird ihn ein Leben lang verfolgen.«
»Das ist doch nur fair, Elsa muss schließlich auch ein Leben lang damit zurechtkommen«, entgegne ich hitzig, aber Billy legt nur den Kopf schief.
»Da hast du recht, natürlich kann man auch nicht immer die Umstände für alles verantwortlich machen, immerhin gibt es genügend Menschen, die es nicht leicht haben und trotzdem nicht zu Straftätern werden …«
Seit dieser letzten Nacht im Moor habe ich nur einmal mit Elsa telefoniert. Es war ein schwieriges Gespräch, sie hat sich entschuldigt, dass ich in die ganze Sache verwickelt wurde und David sich mir gegenüber so verhalten hat. Und ich habe ihr gesagt, wie sehr es mir leidtut, dass ich ihr nicht genügend zugehört habe. Am Ende haben wir beide erst eine Runde geheult und dann drüber gelacht, und Elsa hat mich einen Rabauken genannt.
Aber ich kann deutlich den Riss spüren, der zwischen uns entstanden ist. Wir müssen erst wieder lernen, miteinander zu reden, und ich bin mir nicht sicher, wie lange es dauern wird.
Grübelnd kaue ich auf einer Mandarine herum. Manchmal ist es schwer, den richtigen Weg zu finden, von dem alle immer reden. Es ist ein bisschen so, als würde man im Dunkeln laufen – oder durchs Moor. Auf wackligem Untergrund und mit der Gefahr im Nacken, jeden Moment zu versinken.
Nach dem Abendessen verlässt Mutsch kurz die Wohnung, um den Biomüll runter in den Hof zu bringen, und so bleiben mir vielleicht drei Minuten, um Billy endlich mal die eine Frage zu stellen, die mir schon so lange durch Kopf geht.
»Sag mal, was ist eigentlich zwischen dir und Mutsch vorgefallen?«
»Was meinst du?«
»Komm schon, ich bin ja nicht blöd.« Ich lehne mich weiter vor, um ihn ins Visier zu nehmen, und stütze die Ellbogen auf die Tischplatte, während er lächelt und sein Bier im Glas kreist.
»Das ist eine ganz alte Geschichte. Aus der Zeit, in der deine Mutsch noch in Mahnburg gelebt hat.«
»Du warst damals auch schon dort?«
»Klar, ich bin da aufgewachsen. Wir sind zusammen auf die Schule gegangen.«
Ich wedle mit meinem Zeigefinger vor seinem Gesicht herum. »Ich wusste es! Ihr wart schon mal zusammen, nicht wahr?«
Er nickt.
»Was ist passiert? Hast du sie wegen einer anderen sitzen lassen?«
»Nein. Ich habe nur beschlossen, dass ich rausmuss, die Welt sehen und so, bevor ich mich in Mahnburg niederlasse.« Er zuckt mit den Schultern und nimmt noch einen Schluck Bier. »Susan wollte auch mitkommen.«
»Aber?«
»Ich habe Nein gesagt.«
»Was?«
»Ja, sie war damals minderjährig und ist noch zur Schule gegangen, den Ärger wollte ich ihr und mir ersparen.« Sein Lächeln wird reumütig. »Das hat sie mir nie verziehen, damals hat sie wohl gedacht, ich habe sie irgendwie im Stich gelassen. Es hat sich herausgestellt, dass deine Ma nicht warten wollte. Einen Monat, nachdem ich weg gewesen bin, ist sie aus Mahnburg abgehauen. Allein. Ich hab sie erst wiedergesehen, nachdem ich wieder in den Ort gezogen bin. Vor vier Jahren, und damals hat sie mir die Tür vor der Nase zugeschlagen, als ich sie sehen wollte.«
»Das habe ich gar nicht mitbekommen.«
»Du warst wahrscheinlich gerade unterwegs mit Elsa.«
Ich stütze das Kinn in die Hand und mustere ihn aufmerksam. »Und jetzt?«
»Was jetzt?«
»Na, wollt ihr wieder …«
Da wird er tatsächlich verlegen und sieht zur Seite. »Keine Ahnung, das hängt ja auch von deiner Mutter ab.«
»Aber du würdest schon wollen?«
»Nimmst du mich ins Kreuzverhör?«
»Klar. Ich muss doch rausfinden, welche Absichten du mit ihr hast.«
»Sollte das nicht umgekehrt sein, ich meine, sollte deine Mutter nicht deine Verehrer überprüfen?«
Ich schnaube. »Welche Verehrer? Außerdem machen Mutsch und ich vieles anders als andere, das war schon immer so. Sie hat selbst zugegeben, dass ich die erwachsenere von uns beiden bin.«
In dem Moment kommt Mutsch wieder zur Tür herein. Sie bleibt stehen, betrachtet uns einen Moment misstrauisch und fragt mich dann: »Erzählst du schon wieder Märchen?«
»Nur die Wahrheit.«
»Wer’s glaubt.« Mit einem kleinen Lächeln stellt sie die Schüssel in die Spüle und lässt Abwaschwasser ein. Während wir ihr das Geschirr vom Tisch reichen, bemerke ich, wie Billy sie immer wieder verstohlen beobachtet. Doch sie ignoriert stur die Blicke und spült einen Teller nach dem anderen ab.
Kopfschüttelnd schleiche ich mich in mein Zimmer, aber als ich noch einmal über die Schulter schaue, hat Billy Mutsch gerade an der Hüfte gepackt und küsst sie, während sie die Arme in die Luft hält, an denen der Schaum runterläuft.
»Wird auch Zeit«, murmle ich und schließe die Tür zu meinem Zimmer.
Auf dem Nachtschrank liegt das Telefon, das bei uns zum Glück nicht nach Zwiebeln riecht. Ich setze mich im Schneidersitz aufs Bett und schaue für einen Augenblick lang auf das leere Display, während Tennessee und Edgar mit einer alten Gummiente schmusen, die ich ihnen neulich mitgebracht habe.
Eigentlich wollte ich Tobi genügend Zeit lassen, damit seine Familie in Ruhe mit all den Ereignissen umgehen kann, aber jetzt ist meine Sehnsucht zu groß. Ich möchte gern seine Stimme hören und ihn fragen, wie es ihm geht. Und vielleicht habe ich dann demnächst auch endlich mal ein bisschen mehr zum Thema Jungs zu sagen als bisher.