Eine Ewigkeit stehe ich mit dem Ast in der erhobenen Hand da und starre auf den Körper, der halb verborgen unter den Büschen liegt. Vor Aufregung wird mir ganz schlecht und gehetzt sehe ich mich um, aber es springt niemand auf mich zu, es ist nichts zu hören.
Nicht einmal das Flüstern der verlorenen Seelen.
Es dauert eine Ewigkeit, bis ich die Kraft finde, in einem weiten Bogen um den Busch herumzugehen. Doch dort ist niemand zu sehen. In das dichtere Unterholz der Birkengruppe dahinter wage ich mich allerdings nicht vor.
Nur zögernd trete ich an den Körper heran. Dabei zittert meine Hand so sehr, dass ich beinahe den Ast fallen lasse.
»Hallo!«, rufe ich, aber das Mädchen reagiert nicht.
Oh Gott, sie wird doch nicht wirklich tot sein?
Ihr hellblauer Rock ist eine Handbreit über die Knie gerutscht, und aus irgendeinem Grund irritiert mich dieser Umstand mehr als die Tatsache, dass dieser Körper hier liegt. Mitten im Moor. Schmale Beine leuchten im Tageslicht käseweiß, und zitternd gehe ich näher, bis meine linke Fußspitze schwarzes Haar berührt, das wie ein Schleier um den Kopf des Mädchens fällt. Ich kann den Blick nicht von ihrer weißen Haut abwenden, die den Sommer verschlafen zu haben scheint. Blaue Adern schimmern durch die Oberfläche, und ihre Finger bohren sich tief ins Moos. Die roten Turnschuhe bilden einen scharfen Kontrast zu dem verblassenden Torfbraun.
Aber da!
Ihr Brustkorb hebt und senkt sich. Sie lebt!
Schnappend hole ich Luft, ich habe gar nicht gemerkt, dass ich sie angehalten hatte.
Obwohl ich am liebsten die Augen verschließen würde, knie ich mich hin, und ohne darüber nachzudenken, was ich eigentlich tue, streicht meine Hand eine dunkle Locke zur Seite – auch wenn ich nur die eine Gesichtshälfte vollständig sehen kann, weiß ich doch sofort, dass das wahrscheinlich das schönste Mädchen ist, das ich je gesehen habe.
Lange, gebogene Wimpern werfen Schatten auf die weiße Haut; die Lippen – genau so habe ich mir als Kind Prinzessinnen vorgestellt.
Perfekt.
Vorsichtig nähert sich meine Hand ihrem Gesicht, ihr schwacher Atem streift meine Finger, und ganz langsam drehe ich ihren Kopf noch etwas mehr in meine Richtung.
Und schließe bei dem Anblick, der sich mir bietet, sofort wieder die Augen.
Eine hässliche rote Wunde zieht sich vom Kinn über die linke Seite hin zur Schläfe. Undefinierbare gelbe Schlieren schlängeln sich wie Aale durch die Haut. Das Blut ist auf den Boden gelaufen und hat Ohr und Haare verkrustet. Der Mundwinkel hängt unnatürlich schlaff nach unten.
Sofort wird mir schlecht, und ich muss ein paar Mal schlucken, um mich nicht zu übergeben. An meinen Fingerspitzen klebt Blut.
Irgendetwas ist hier passiert, das niemals hätte passieren dürfen. Etwas unsagbar Schreckliches. Es liegen nicht einfach Mädchen im Moor herum, deren Gesichter aussehen, als hätte sie jemand mit einem Stück Schinken verwechselt, aus dem man ein Stück herausschneidet.
… oder denen jemand mit ruhiger Hand eine Zehe amputiert.
Ob Elsa auch so auf der Erde gelegen hat? Blutig und verdreckt? Mit flatternden Lidern?
Die Angst packt mich.
Vor einem Monster, das sein Unwesen im Moor treibt und Jagd auf Feen und Prinzessinnen macht.
Ich bin zwar keine, trotzdem will ich sofort zurücklaufen, fliehen. Ich bin schon halb aufgestanden, als ich zögere. Ich kann das Mädchen nicht einfach hier liegen lassen. Ihre Lider flattern, aber sie wacht nicht auf, und ihre Haut ist kalt wie Eis.
Eine Eisprinzessin.
Was mache ich hier nur?
Ich muss jemanden anrufen! Einen Krankenwagen. Aber mein Handy liegt im Haus. Ich habe es dort gelassen, weil ich ja nur ein bisschen im Moor spazieren gehen wollte und man den Empfang hier draußen sowieso vergessen kann.
Panisch drehe ich mich um. Ob irgendwer in der Nähe ist?
»Ich komme wieder …«, flüstere ich der Eisprinzessin zu, auch wenn sie mich gar nicht hören kann, und komme schwankend auf die Beine. Da fällt mir auf einmal ein heller Fleck am Rand meiner Wahrnehmung auf. Ein Zettel, den das Mädchen in der Faust hält. Ich bücke mich, denn ein furchtbarer Verdacht lauert am Rand meines Bewusstseins. Mit zitternden Händen löse ich ihre verkrampften Finger von dem Stück Papier und falte es auseinander. Von Schweiß und Erde ist der Zettel ganz dreckig.
Es handelt sich um ein schlichtes Stück Papier, die Hälfte eines A4-Blattes, wie es sie zu Tausenden gibt. Darauf sind mit Computer nur fünf Worte geschrieben: Spieglein, Spieglein an der Wand …
Schneewittchen.
Entsetzt stolpere ich davon, den Zettel fest in meiner Hand, immer schneller fliegen meine Beine über den Torf, längst nicht mehr vorsichtig; ich sehe mich nicht um. Ich renne bis zur Grenze, die der Bruchwald bildet, meine Lungen schmerzen, und ich kriege kaum noch Luft, aber jetzt, auf dem sicheren Untergrund, werden meine Beine noch schneller …
Als ich plötzlich einem Wesen gegenüberstehe – und schreie. Es ist ein schwarzköpfiger Teufel mit geringelten Hörnern und kleinen dunklen Augen, die mich mitleidslos anstarren.
Doch der Teufel springt bei meinem Schrei zurück und entpuppt sich als verschrecktes Schaf. Eine Heidschnucke mit dickem Fell. Erleichtert atme ich aus, während ich noch am ganzen Körper zittere.
Da taucht hinter den Bäumen auf einmal ein Mann auf, der irritiert die Stirn runzelt, als er mich sieht. »Alles okay?«, fragt er und krault der verschreckten Heidschnucke den Kopf.
Panisch blicke ich mich nach einem Fluchtweg um.
»Ganz ruhig, Mädchen, ich tu dir nichts. Ich bin Schäfer und arbeite hier.«
Ich begreife nicht, was er sagt. Ich brauche Hilfe. Wenn er derjenige ist, der das Mädchen überfallen hat, wird er sich dann auf mich stürzen?
Ich sehe kein Blut an ihm. Trotzdem gehe ich unsicher einen Schritt zurück.
»Ist etwas passiert?«, fragt er und hebt beide Hände, damit ich sehen kann, dass er unbewaffnet ist.
»Dahinten …«, höre ich mich sagen.
»Beruhig dich, was ist denn?« Langsam kommt er näher und wieder weiche ich ein Stück zurück. Ich bin kleiner und leichter als er, wenn ich wegrennen muss, bin ich auf dem Torf vielleicht im Vorteil.
»Ein Mädchen … dahinten«, wiederhole ich, »… sie ist verletzt …«
Sofort nickt er und deutet über meine Schulter. »Zeig mir die Richtung.«
Ich will nicht noch einmal ins Moor gehen, aber wie soll ich ihm sonst erklären, an welcher Stelle das Mädchen liegt?
Also nicke ich, warte jedoch, bis er in einiger Entfernung an mir vorübergegangen ist; er scheint zu verstehen, dass ich ihm nicht den Rücken zudrehen will. Mit knappen »rechts« und »links« dirigiere ich ihn vorwärts, während wir gemeinsam zurückrennen. Er kennt sich im Moor gut aus, denn seine Schritte treffen zielsicher den Weg.
Als wir an der Stelle ankommen, an der das Mädchen liegt, schnappt auch er bei ihrem Anblick nach Luft.
»Hast du ein Handy?«, fragt er, als er neben ihr niederkniet und ihren Puls fühlt.
Ich schüttle den Kopf.
»Dann nimm meins.«
Er zieht es aus seiner Westentasche und streckt es mir entgegen, ohne mich anzusehen. Einen Moment zögere ich, dann greife ich rasch danach, während er das Mädchen auf die Arme nimmt, als würde es nichts wiegen.
»Ruf einen Krankenwagen. Sag ihnen, wir haben eine Verletzte nahe dem Scherbenberg gefunden und dass wir am Grundstück deiner Großmutter warten. Sie können mit dem Wagen nicht ins Moor fahren.«
Woher weiß er, wer ich bin?
Doch ich frage nicht nach, stattdessen tippe ich die Notrufnummer in das Handy und bin froh, dass ich durchkomme. Wie mechanisch wiederhole ich seine Worte. Die Frau am anderen Ende fragt mich irgendwelche Dinge, die ich kaum verstehe, deshalb drücke ich sie einfach weg, als ich alles runtergerattert habe.
Wir stolpern zurück durch das Moor, und als wir endlich Großmutters Grundstück erreichen, steht der Krankenwagen bereits dort und die Sanitäter halten nach uns Ausschau.
Dann geht alles sehr schnell, der Mann übergibt ihnen das Mädchen, und sie fordern ihn auf, mit mir gemeinsam ins Krankenhaus zu fahren. Ein weiterer Schreck durchfährt mich, aber ich sage mir, dass er mir wohl kaum etwas antun wird, wenn die Sanitäter uns zusammen gesehen haben.
»Ist jemand zu Hause?«, fragt er und deutet auf das Herrenhaus hinüber. Als ich verneine, schaut er mich besorgt an. »Willst du jemanden anrufen und Bescheid sagen, wo du bist?«
Wieder leiht er mir sein Handy, ein altes Ding mit zerkratztem Display, und ich rufe Mutsch an, nur leider geht sie nicht ran und ich kann nichts tun, als ihr auf die Mailbox zu sprechen. Es ist ein fürchterliches Gestammel, und nach kurzer Zeit nimmt mir der Mann das Telefon aus der Hand, um selbst etwas zu sagen. Er nennt seinen Namen – Billy – und erklärt, dass er mich mit dem Auto ins Krankenhaus fährt. Was mich zusätzlich beruhigt, denn jetzt weiß auch Mutsch, dass er mich begleitet. Dann schiebt er mich in Richtung Straße, wo ein alter Kombi steht, der offenbar ihm gehört. Der ganze Wagen riecht nach Schaf und am Rückspiegel hängt ein albernes Plastikgerippe, das die ganze Zeit hin und her wackelt.
»Was ist mit der Heidschnucke?«, murmle ich wie eine Idiotin, aber er zuckt nur mit den Schultern.
»Mach dir keine Sorgen ihretwegen, die kommt auch mal eine Stunde ohne mich zurecht. Ich hole sie später ab. Das ist die Strafe dafür, dass sie abgehauen ist.«
Als ich nach unten sehe, merke ich, dass ich noch immer das Blut an den Fingern habe und meine Knie von der feuchten Erde verdreckt sind. Mit hektischen Bewegungen versuche ich, die Finger an der Jeans abzuwischen, doch das getrocknete Blut will einfach nicht verschwinden.