Vier Tage später kappt Großmutter das Festnetztelefon und wir können nur noch über Handy telefonieren. Sie hat das ständige Klingeln und Anschalten des Anrufbeantworters nicht mehr ausgehalten und den Apparat inzwischen in die Speisekammer gesperrt, als könne das Telefon etwas dafür, dass unentwegt Leute bei ihr anrufen. Wenn wir es doch einmal für wichtige Anrufe anschließen, riecht es nach Zwiebeln und Knoblauch.
Die Presse lässt uns einfach nicht in Ruhe. Ständig will irgendwer ein Statement zu der Geschichte mit Elsa und Nina, nachdem sich herausgestellt hat, dass der erste Überfall keine Einzeltat war. Wilde Spekulationen erheben sich, ob es sich wirklich um einen Serientäter handeln könnte. Schon dreimal ist Elsa auf der Straße von Reportern belästigt worden, weshalb Onkel Gerhard sie nicht mehr allein zum Physiotherapeuten laufen lässt. Und Tante Luise hätte beinahe der Sekretärin vom Bürgermeister die Haustür ins Gesicht geschlagen, weil sie gedacht hat, die Frau kommt von der Zeitung. Vor Schreck hat die Frau einen Präsentkorb fallen lassen, den sie Elsa eigentlich im Namen des Bürgermeisters übergeben sollte, und eine Flasche Apfelwein ist zersprungen, der vor unserer Haustür in die Erde sickerte.
Großmutter hat gesagt: »So ein Unsinn, was soll das Mädchen denn damit? Sich betrinken? Also, eins ist mal sicher, ich habe diesen Mann nicht gewählt!«
Daraufhin ist die Sekretärin rot angelaufen und hat die Flucht ergriffen. An diesem Tag kam uns Großmutters Wächterinnenblick mal zugute, und selbst Mutsch musste zugeben, dass man nicht immer nur nett sein kann. Weil einen die Blutegel nämlich sonst aussaugen.
Aber es sind nicht nur die Zeitungsfritzen, die neugierig auf uns sind. Auch die Stadt hat plötzlich Augen bekommen. Ich kann die Blicke der Mahnburger auf uns spüren, wenn wir einkaufen oder ins Kino gehen. Die Geschichte mit Nina hat schnell die Runde gemacht, und ich bin das Mädchen, das sie im Moor gefunden hat – die Leute wollen Details hören. Am liebsten schmutzige.
Ganze vier Mal werden Mutsch und ich allein an diesem Tag auf dem Weg zum Bäcker von Leuten angesprochen, die wir gar nicht kennen. Sie drücken uns ihre Anteilnahme aus, aber alles, woran ich denken kann, ist, dass ihre Hände durch das warme Wetter ganz schwitzig geworden sind, wenn sie sie uns reichen.
Als Mutsch schon die Ladentür zur Bäckerei öffnet, spricht uns ein Mädchen von der Seite an und stellt sich als Laura-Sophie vor. Bei dem Namen horche ich sofort auf.
Das ist also die Schnepfe aus der Ballettgruppe.
Sie ist nicht ganz so zierlich wie Elsa, trotzdem kann man erkennen, dass sie tanzt. Sie hält sich unwahrscheinlich gerade, das Kinn erhoben und beim Stehen zeigen ihre Füße mit den Zehen leicht nach außen, als wolle sie jeden Moment in Position gehen.
»Wie geht es Elsa?«, fragt sie und schaut uns mit ihren grünen Augen besorgt an.
Ich frage mich, ob ihre Betroffenheit echt ist, oder ob sie wie alle anderen nur darauf wartet, dass wir ihr irgendwelche Skandale erzählen. Wenn sie sich wirklich so viele Gedanken um Elsa machen würde, dann könnte sie ja auch vorbeikommen. Stattdessen schickt sie lieber Pakete.
»Es geht ihr gut«, sage ich daher schnell, um die Sache abzukürzen, woraufhin Laura-Sophie nickt und nachdenklich das Ende ihres schwarzen Zopfs um den Zeigefinger wickelt.
»Ich bin froh, das zu hören«, säuselt sie, »es ist ja wirklich schlimm, was da passiert ist … Aber ich nehme an, sie wird jetzt vermutlich nicht mehr zum Ballett kommen können, oder?«
Mutsch wirft mir einen Blick zu, bevor sie antwortet: »Wer weiß das schon, die Medizin …«
»… kann ja heute viel«, ergänze ich. »Man soll die Hoffnung nie aufgeben.«
»Ja, natürlich, das ist wahr«, sagt Laura-Sophie, während Mutsch und ich sie anlächeln. »Dann sagen Sie ihr doch Grüße von mir, ja?«
»Aber selbstverständlich.« Mutsch nickt huldvoll, bis sich Laura-Sophie umdreht und geht. »Dieses Mädchen ist so falsch wie jeder Schokotaler«, meint sie zu mir, als wir endlich die Bäckerei betreten. »Das sieht man doch auf einen Blick.«
»Ich denke, sie ist neidisch auf Elsa, weil sie in der Balletttruppe die Nummer eins war.«
Grimmig nickt Mutsch – und wird prompt von einer älteren Frau angesprochen, die angeblich mit Großmutters Nachbarin Frau Pauli befreundet ist. Die hat ihr ausführlich vom Großaufgebot der Polizei erzählt, das über unser Grundstück ins Moor gegangen ist.
Dabei war es gar kein Großaufgebot. Lediglich drei Wagen!
»Wirklich?« Enttäuscht sieht uns die Frau an, als ich sie korrigiere. »Das war sicher sehr aufregend, bedrohlich, nicht wahr? Wenn da plötzlich diese Männer sind …«
Bei ihr klingt das Ganze wie in einem Actionfilm – in Wirklichkeit haben sie sich sogar bei Großmutter entschuldigt, weil sie mit ihren Autos ihren Rasen platt gefahren haben.
»Aber ist es nicht furchtbar, wenn man so ganz in der Nähe von der Stelle wohnt, an der diese schrecklichen Dinge geschehen sind? Wer weiß, wen sie gegrüßt haben und der sich später dann als dieser Psychopath herausstellt …«
Nach ein paar kurzen Antworten auf die neugierigen Fragen dieser Dame zieht mich Mutsch einfach aus der Schlange und aus dem Geschäft, obwohl wir noch gar kein Brot gekauft haben und uns alle nachsehen, als wären wir durchgedreht.
Draußen schimpft sie aufgebracht: »Furchtbar, wenn Leute so schnüffeln müssen! Als wäre die ganze Geschichte nur zur Unterhaltung gut. Ich hasse das. Diese Menschen sind einfach so unsensibel.«
»Vielleicht ist ihr Fernseher ausgefallen«, vermute ich, aber Mutsch winkt nur verärgert ab und geht auf den Witz nicht weiter ein. Bei der Geschichte versteht sie keinen Spaß, und als ein Mann uns einen neugierigen Blick zuwirft, blafft sie ihn an: »Was?«
Verschreckt macht er, dass er davonkommt.
Mahnburg ist keine große Stadt, eigentlich ist es sogar ein Nest, wirklich unbemerkt kann man hier nichts machen, Neuigkeiten gehen schnell von Mund zu Mund. Während wir durch die Straßen und Gassen laufen, erheben sich rechts und links von uns die Backsteinfassaden der alten Fabrikgebäude und Wohnhäuser und ihre Fensterscheiben blitzen in der Sonne. Sie geben nicht preis, was hinter ihren Mauern geschieht, und mehr als einmal habe ich das Gefühl, dass wir beobachtet werden. Gardinen bewegen sich, obwohl gar kein Wind weht, und Fenster klappen laut über unseren Köpfen. Im grellen Licht der Sommersonne heben sich die Fassaden beinahe schwarz gegen den Himmel ab.
Die Stadt ist vorsichtig geworden. Sie ahnt, dass in ihrer Mitte ein Monster sitzt, und bei manchem Blick, der uns streift, habe ich das Gefühl, als würden sie es uns übel nehmen, dass so etwas passiert ist. Als wären wir irgendwie daran schuld. Immerhin, denken sie vermutlich, muss Elsa etwas getan haben, das das Monster auf sie aufmerksam werden ließ, und das werfen sie ihr vor. Denn es bringt die beschauliche Ruhe durcheinander. Inzwischen tragen wir die Sonnenbrillen nicht mehr nur wegen der Sonne.
Weil wir immer noch kein Brot haben, schlagen wir den Weg zum einzigen Supermarkt ein, den es in Mahnburg gibt, und während wir die Fußgängerzone entlangschlendern, entdecke ich plötzlich ein paar Meter vor uns eine bekannte Gestalt. Sie überragt die meisten Leute um Haupteslänge.
»He, da vorn ist Billy!«, rufe ich überrascht und zeige auf ihn.
»Harper! Nicht so laut«, zischt Mutsch, aber es ist schon zu spät, denn er dreht sich nach uns um, und ich höre Mutsch neben mir seufzen.
Als wir ihn erreicht haben, sagt er freundlich »Hallo« und erhält von Mutsch ein undefinierbares »Mmpf«.
An diesem Tag trägt er eine abgewetzte Jeans und ein einfaches dunkles Shirt, das zeigt, dass er ziemlich muskulös ist. Nicht auf so eine übertriebene Weise, er sieht eben aus, als könne er ein paar Kisten schleppen, ohne aus der Puste zu kommen.
Oder auch verletzte Mädchen auf den Arm nehmen.
Bei dem Gedanken daran wird mir wieder ein bisschen schwindlig, und ich atme ein paar Mal tief ein und aus, während sich Mutsch und Billy einen ziemlich kindischen Anstarrmarathon liefern, bis sie die Arme verschränkt und er sich mir zuwendet.
»Wie geht’s dir, Harper?«
»Ganz gut.«
»Und deiner Cousine?«
»Geht so.«
Er nickt, dann richtet sich sein Blick wieder auf Mutsch, die nervös am Henkel ihrer roten Handtasche fingert.
»Und dir?«
»Wir versuchen, wieder in den Alltag zu finden. Ist gar nicht so einfach, wenn ständig irgendwelche neugierigen Leute versuchen, einen auszufragen.« Sie wirft einen finsteren Blick auf die vorbeigehenden Menschen, als würde jeden Moment wieder einer auf uns zukommen.
»Sie machen sich nur Gedanken«, erwidert Billy sanft, woraufhin Mutsch ihren Finsterblick nun auf ihn richtet.
»Nein, tun sie nicht. Sie sind scharf auf eine Story. Wahrscheinlich, weil sonst nicht viel passiert in diesem verdammten Ort.«
»Du hast immer noch die beste Meinung von Mahnburg, was?« Er scheint amüsiert, aber Mutschs Gesichtsausdruck wird gleich noch ein bisschen düsterer. Wenn sie die Brauen noch weiter senkt, rutschen sie ihr auf die Nasenspitze.
»Es gibt mir jedenfalls keinen Anlass, besser darüber zu denken. Ich sage dir, das Moor macht die Leute verrückt.«
»Das ist doch Unsinn, Mutsch«, erwidere ich, obwohl ich selbst manchmal das Gefühl habe, dass das Moor komische Sachen mit einem anstellt.
In diesem Augenblick läuft eine ältere Frau in einem taubengrauen, geknöpften Kleid dicht an uns vorbei und stößt Billy dabei ihren riesigen Einkaufsbeutel an die Hüfte. Ohne sich zu entschuldigen und mit erhobenem Kinn läuft sie weiter.
»He! Was soll denn das?«, ruft Mutsch ihr hinterher, aber Billy legt ihr die Hand auf die Schulter und bringt sie so zum Schweigen.
»Lass nur, Susan.«
»Na, hör mal, es ist doch nicht zu viel verlangt, wenn man erwartet, dass die Leute sich entschuldigen!«
»Das hat im Moment keinen Sinn. Sie haben eben gerade andere Dinge im Kopf. Da kann es schon mal ein bisschen rauer zugehen. Sie sind einfach beunruhigt wegen dieser ganzen Sache. Das darf man nicht alles so ernst nehmen.«
»Und das gibt ihnen das Recht, sich so aufzuführen?« Sie sieht ihn scharf an, aber er weicht ihrem Blick aus. »Was geht hier vor, Billy?«
»Es ist nichts.«
»Glaub mir, ich kann immer noch sehr gut erkennen, wenn du lügst.«
Er zuckt mit den Schultern. »Ich bin eben viel im Moor unterwegs. Da kommt mancher auf dumme Ideen. Seit unser Bürgermeister das Wort Moorgeist in den Mund genommen hat, geht es wie ein Lauffeuer um. Die Leute glauben, dass sich der Angreifer im Moor auskennt … Genau wie ich.«
Es dauert ein paar Sekunden, bis Mutsch und ich begreifen, was er damit meint.
»Aber das ist doch Unsinn!«, schimpft sie. »Du hast doch mit der Sache nichts zu tun.«
»Verteidigst du etwa meine Ehre?« Diesmal wirkt sein Gesichtsausdruck belustigt, als er Mutsch ansieht.
Trotzig hebt sie das Kinn. »Ich bin nur kein Fan von hysterischen Massen, bild dir bloß nichts ein.«
»Würde mir nicht im Traum einfallen.«
»Dann ist ja gut.«
Er lacht leise. »Mach dir keine Gedanken, Susan, die Polizei weiß, dass ich damit nichts zu tun habe. Wenigstens für die Sache mit Elsa habe ich ein wasserdichtes Alibi.«
Er wartet einen Moment, bevor er sagt: »Willst du gar nicht wissen, wo ich war?«
»Nein.«
»Aber ich«, platze ich heraus und beobachte ihn ganz genau, als er erklärt: »Ich war beim Tierarzt. Eins der Schafe war verletzt. Dass die Polizei mich schon drei Mal aufs Revier gebeten hat, liegt nur daran, dass sie sich von mir Auskünfte übers Moor erhoffen. Wo sich dort jemand verstecken könnte. Wie gut man sich im Moor auskennen muss etc.«
Das klingt doch plausibel, die Polizei hat das sicher nachgeprüft. Jetzt muss ich nur noch herausbekommen, welches Problem Mutsch mit ihm hat.
Nachdenklich kratzt er sich am Kopf. »Sie haben auch mit den Jugendlichen vom Scherbenberg gesprochen, aber von denen hat angeblich niemand etwas gesehen. Die meiste Zeit sind die sowieso viel zu sehr damit beschäftigt, sich mit Bier zuzukippen.«
»Oder sie wollen nichts sagen«, werfe ich ein, und überrascht schauen mich beide an.
»Warum sollten sie etwas verheimlichen wollen?«
»Keine Ahnung. Vielleicht, weil sie die Aufmerksamkeit nicht auf sich lenken wollen, aus Angst, dass man den Scherbenberg für Besucher sperrt. So viele Orte gibt’s hier nicht, an denen man ein bisschen abhängen kann.«
»Es ist ja auch kaum der geeignete Ort, so mitten im Moor«, wendet Mutsch ein.
»Die sind doch alle von hier, die wissen schon, wie sie sicher da hinkommen. Und bis jetzt ist ja auch nie was passiert, oder?«
Einen Moment lang stehen wir alle drei grübelnd auf dem Weg, bis Billy auf die Uhr schaut und feststellt: »Tut mir leid, aber ich muss jetzt weiter. Vielleicht sehen wir uns ja ein anderes Mal etwas länger.« Er drückt mir kurz die Schulter. »Halt die Ohren steif und pass auf dich auf, okay?« Dann wirft er Mutsch noch einen letzten Blick zu und dreht sich um. Als er den Bürgersteig entlanggeht, folgen ihm die Blicke der Leute, viele davon nicht gerade freundlich, und Mutsch sieht ihm besorgt nach. Auf ihren Wangen bilden sich rote Flecken, und als wir langsam weiter in Richtung Supermarkt gehen, wird mir schlagartig klar, warum sie sich so eigenartig verhält.
»Oh mein Gott, du stehst auf ihn!«, rufe ich aus und hebe die Arme, woraufhin sie abrupt anhält.
Den Rücken durchgedrückt und mit angriffslustig gesenktem Kinn sagt sie: »Mach dich nicht lächerlich, Harper«, und ihre Stimme macht dabei Frau Ullmann, meiner Mathematiklehrerin, alle Ehre.
Aber davon lasse ich mich nicht einschüchtern und nicke eifrig. »Doch, doch. Die Anzeichen sind nicht zu verkennen. Das ist wie damals bei unserem neuen Bäcker neben der Bibliothek. Erinnerst du dich noch? Einen ganzen Monat lang musste ich jeden Tag Erdbeertorte essen, nur damit du dort vorbeigehen konntest. Du hast ihm erzählt, wir wären süchtig nach seiner Backkunst.« Das letzte Wort setze ich in Gänsefüßchen. »Dabei war der Kuchen furztrocken und hat eigentlich nur nach Gelatine geschmeckt.«
»Red keinen Unsinn, Harper«, erwidert sie und geht weiter, ohne mich anzusehen. »Er war verheiratet.«
»Ja, aber das hast du erst nach vier Wochen rausgekriegt! Ich kann bis heute keine Erdbeertorte mehr sehen, wäh!«
Diesmal starren uns die Leute an, weil wir immer lauter werden und Mutsch wie ein General mit ihrer Hand durch die Luft fährt.
»Können wir bitte das Thema wechseln?«
»Du magst ihn«, ignoriere ich die Frage.
»Nein, tue ich nicht.«
»Doch, tust du.«
Sie schiebt den Träger ihrer Handtasche noch ein Stück weiter nach oben auf die Schulter und nimmt Zuflucht im letzten Argument aller Eltern, die von ihren Kindern beim Lügen erwischt werden: »Misch dich nicht in Angelegenheiten ein, von denen du nichts verstehst.« Dann geht sie immer schneller, bis ich beinahe hinter ihr herrennen muss und dabei fast meine Flipflops verliere.
Den ganzen Weg heim grinse ich sie an, wenn sie mich ansieht, bis sie mir eine Kopfnuss verpasst, die zum Glück durch mein dickes Haar gedämpft wird.
Aber ich weiß, dass ich recht habe. Mutsch ist verknallt.
Prost Mahlzeit.