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Am nächsten Morgen hocken Mutsch und ich mit bleichen Gesichtern und Augenringen am Frühstückstisch und rühren missmutig in den Marmeladengläsern. Wir haben beide schlecht geschlafen und sitzen uns in den uralten, ausgeleierten Bademänteln in Eigelb und Dreckgrau gegenüber, und Mutsch starrt in ihren Kaffeebecher, als könne sie aus dem Satz die Zukunft lesen. Nicht einmal ein Radio haben wir im Gästehäuschen gefunden. Es ist still in der großen Wohnküche, wenn nicht eine von uns beiden ab und zu mal mit dem Besteck klappert.

Müde wandert mein Blick durch den Raum. In der großen Wohnküche steht ein altes, durchgesessenes Sofa, über dem eine nach Hunden riechende Decke liegt. Obwohl hier nie jemand einen Hund besessen hat. Trotzdem beharrt Mutsch darauf, dass ich mich da nicht draufsetzen soll, weil ich sonst Flöhe kriegen würde. Früher haben in diesem Haus die Dienstboten gelebt, was Mutsch zu der Bemerkung verleitet: »Passt ja«, als Großmutter ihr den Schlüssel in die Hand drückt. Aber ich glaube, sie ist auch ganz froh, ein bisschen Abstand zwischen sich und Tante Luise zu bringen, nachdem sie sich bei unserer Ankunft so gestritten haben.

Neben der Küche befindet sich das Bad. Das ist auch das Zimmer, das ich im Haus am liebsten mag, weil es aussieht wie ein Raum auf Kapitän Nemos Schiff. Im Licht des winzigen Kristallleuchters an der Decke reflektieren die grünen Fliesen die Farben wie Rosenkäferflügel die Sonne. Die Handtuchhalter sehen aus wie Porzellannymphen, an deren ausgestreckten Händen die Handtücher aufgehängt werden. Über die Jahre hat ihre türkisfarbene Glasur zwar Risse bekommen, aber sie sehen immer noch wunderschön aus. Es ist ein Unterwasserzimmer, in das die Außenwelt nicht eindringen kann.

Das obere Geschoss besteht hingegen nur aus einem einzigen Raum, der zum Schlafzimmer ausgebaut wurde. Mutsch und ich müssen ihn uns teilen, wobei wir beide lieber nicht so genau in die Ecken schauen, ob sich dort irgendwelche Spinnen eingenistet haben. Was man nicht weiß … Die Luft riecht muffig, wahrscheinlich ist schon eine ganze Weile nicht mehr richtig gelüftet worden.

Eigentlich mag ich das Gästehäuschen sogar lieber, es ist zwar ein bisschen gammlig mit dem Brandfleck im Flur, wo jemand vor Ewigkeiten glühende Kohlen vor dem Ofen fallen gelassen hat, und den unzähligen Schmutzspuren an den weiß getünchten Wänden; aber auch irgendwie nicht so protzig wie das Herrenhaus.

Vor dem späten Nachmittag brauchen wir gar nicht erst rüberzugehen, denn die anderen sind wie Bienen ausgeschwärmt und haben den Bau verwaist zurückgelassen. Großmutter ist beim Friseur, Tante Luise und Onkel Gerhard arbeiten, und Elsa ist bei ihrem Physiotherapeuten. Sie will nicht abgeholt werden, sondern den ganzen Weg allein laufen. Vielleicht, um zu zeigen, dass sie keine Hilfe braucht.

So hatte ich mir die Sommerferien jedenfalls nicht vorgestellt. Eigentlich wollte ich mit Elsa ein bisschen ins Kino gehen, rumhängen und den Sommer genießen, doch jetzt ist plötzlich alles anders, und bedrückt beiße ich in mein Brötchen.

Auch Mutsch hat Pläne. Sie will eine alte Freundin besuchen, die sie noch aus Schulzeiten kennt, und hat mich gefragt, ob ich sie begleiten will. Aber das werde ich tunlichst vermeiden! Das letzte Mal haben sie die ganze Zeit nur über ihre gescheiterten Beziehungen geredet, während ich mich tödlich langweilen musste, weil ich zu dem Thema kaum etwas beizusteuern habe.

Meine Erfahrungen damit sind eher überschaubar. In der vierten Klasse war ich ganze drei Wochen lang mit Frederik zusammen, bevor ich ihm eine Ohrfeige verpasst habe, weil er meine erste Ratte – Otto den Berserker – am Schwanz gezogen hat. Und vor einem halben Jahr habe ich auf einer Schulparty mit Torsten aus der Parallelklasse geknutscht. Dabei habe ich schon vorher gewusst, dass ich nicht verliebt bin. Aber ich habe eben gedacht, vielleicht kommt das ja mit dem Küssen, und außerdem ist er ganz nett und sieht auch gut aus und es wird ja nun auch mal Zeit, schließlich bin ich schon fünfzehn – aber es hat nicht funktioniert. Der Funken ist einfach nicht übergesprungen. Dafür gehen wir jetzt manchmal zusammen in Meyers Zoohandlung, weil Torsten ein Terrarium mit Schlangen hat, für das sich außer mir niemand interessiert, und manchmal baut er mir lustige Hindernisse für die Ratten aus Klopapierrollen und Servietten. Das war’s dann aber auch schon.

Bisher ist mir einfach kein Junge begegnet, den ich wirklich interessant genug fand, um überhaupt eine Beziehung mit ihm anzufangen, worüber Mutsch ganz froh ist, weil sie insgeheim Angst hat, dass ich dieselben Fehler mache wie sie. Als ob! Mir hat schon Torstens Zunge gereicht, die offenbar versucht hat, einen Weg bis in meinen Magen zu finden!

»Bist du sicher, dass du allein hierbleiben willst?«, fragt Mutsch mich später noch einmal an der Haustür, als sie geht, während sie dabei erst das Herrenhaus und dann die Eichen misstrauisch beäugt, als erwarte sie, dass jeden Moment etwas dahinter hervorspringen könnte. Der Himmel sieht noch genauso grau aus wie am Tag zuvor, und die Wolken hängen drohend über den Baumwipfeln, während der Staub der Auffahrt das Gras rot färbt.

»Wenn du mich das noch einmal fragst, gebe ich dich zur Adoption frei«, erwidere ich genervt und scheuche sie davon, damit ich endlich meine Ruhe habe.

Aber sobald unser Auto davongefahren ist, stehe ich plötzlich selbst in der Haustür und blinzle den Bäumen entgegen, hinter denen das Moor liegt und deren dicke Äste sich verknöchert dem Himmel entgegenwinden. Auf diese Entfernung hin kann man nicht durch den Wald hindurchsehen, beinahe schwarz wirkt das Dickicht zwischen den Bäumen, in dem alles Mögliche lauern könnte …

Eine Gänsehaut überkommt mich und hastig trete ich zurück ins Haus. Es ist doch wirklich zu dumm, dass ich mich auf einmal so anstelle!

Eine Weile sitze ich auf der Treppe, die ins Obergeschoss führt, und lese, dann lasse ich die Ratten aus ihrem Käfig, damit sie die Gegend erkunden können. Nach dem Mittagessen, einer Fertiglasagne, die sich als Blobb aus dem Weltall entpuppt, beschließe ich jedoch, dass es albern ist, nur im Haus zu hocken. Also ziehe ich Fliegerjacke und Stiefel an, schiebe alle Bedenken und Zweifel zur Seite und mache das, was ich früher schon längst getan hätte: Ich gehe zum Moor.

Wie ein Wegweiser führt mich der leicht modrige Geruch darauf zu. Über die freie Rasenfläche, vorbei an den Blumenrabatten und den wuchernden Zucchinipflanzen und unter den überladenen Zweigen des Kirchbaums hindurch. Magisch ziehen mich die Baumriesen dahinter an, und als ich dann zwischen ihnen stehe und in ihre mächtigen Kronen sehe, komme ich mir vor wie ein Winzling. Der Geruch nach Pilzen und regenfeuchter Erde hängt in der Luft und darunter etwas Schwereres, süß und säuerlich zugleich.

Doch ich zögere weiterzugehen, und wütend über mich selbst balle ich die Hände zu Fäusten. Es sieht mir nicht ähnlich, so ängstlich zu sein. Ich habe mich im Moor immer wie zu Hause gefühlt, aber jetzt ist auf einmal irgendetwas anders. Beinahe drohend erheben sich die Bäume über mir, und mein Instinkt sagt mir, ich sollte nicht weitergehen.

Irgendwo auf der anderen Seite ist Elsa überfallen worden. Gepackt und für immer gezeichnet.

»Unsinn«, murmle ich, und um mir selbst zu beweisen, dass ich kein Angsthase bin, gehe ich weiter ins Dunkel hinein. Melli Beese hat auch nie Angst gehabt, wenn sie in ein Flugzeug gestiegen ist, obwohl sie ein paar Mal abgeschmiert ist. Es sind nur Sträucher, nichts, wovor man sich fürchten müsste.

Meine Fingerspitzen streifen die Rinden der Bäume, an denen ich vorübergehe. Noch ist der Boden unter mir fest und leicht begehbar, über mir zwitschert eine Drossel, und der Wind lässt die Kronen hin und her schwanken, als würden die Bäume einen Tanz aufführen. Es ist wie in einer anderen Welt, es gibt keine Häuser, keine Autos und meilenweit keinen Menschen.

Nur mich.

Ich könnte genau jetzt durch ein Erdloch stolpern und mir das Bein brechen, und niemand würde mich hören, wenn ich um Hilfe schreie. Aber ich könnte auch nackt durch den Wald springen und niemanden würde scheren. Natürlich tue ich das nicht, schließlich gibt es genug Mücken, denen mein Hintern sehr willkommen wäre.

Zweige und Gräser streifen meine Beine, und schon nach wenigen Minuten sind die Hosenränder schwer vom Regenwasser, das noch an den Pflanzen hängt. Für ein paar Augenblicke wird der Wald immer dichter und dichter, bis ich unter einem tief hängenden Ast hindurchkrieche und auf der anderen Seite des Bruchwalds herauskomme.

Vor mir erstreckt sich eine offene Landschaft.

Das Geißelmoor.

Die Sonne wirkt milchig hinter den Wolken. Wenn ich vom Moor träume, ist es immer in das Licht dieser dämmrigen Sonne getaucht, genau wie jetzt, als würde der Tag es nie ganz erreichen. Jemand, der es nicht kennt, denkt vielleicht, dass es nur eine mit Büschen und Birken spärlich bewachsene Waldlandschaft ist, aber ich weiß es besser. Schon immer hat mich dieses Land fasziniert, selbst als kleines Mädchen habe ich mir von Großmutter seine Geschichten erzählen lassen.

In den flackernden Oktobernächten, wenn der Sommer um seine Herrschaft kämpft, soll schon so mancher im abendlichen Lichterspiel der untergehenden Sonne vom Weg abgekommen sein.

Meier, der Schuster am anderen Ende des Ortes, hat auf diese Weise seinen ältesten Sohn an das Moor verloren. Es heißt, das Geißelmoor hätte im Laufe der Zeit Hunderte Seelen verschluckt, die nie wiedergekehrt sind. Die Leiber sind mit schweren Gliedern auf den Grund gesunken und das Gewicht ihrer Wehmut drückt sie in den schlammigen Boden.

Ihr Flüstern verfängt sich in den Bäumen und begleitet die Spaziergänger.

Misstrauisch sehe ich auf die Faulbäume, die den Übergang zum Moor markieren, doch es ist nichts zu hören.

Die Bäume sind gute zwei Meter hoch. Ihre kugeligen Früchte sind erst grün und färben sich später rot und schwarz, manche Bäume tragen sogar gleichzeitig grüne, rote und schwarze Früchte. Sie sehen wunderschön aus, aber der leichte Fäulnisgeruch der Rinde kriecht mir in die Nase, und so gehe ich angewidert ein paar Schritte rückwärts.

Hast du etwa Angst?

»Nur dichte, wasseraufsaugende Polsterdecken, die an der Oberfläche weiterwachsen, während die tieferen Schichten absterben und in Hochmoortorf übergehen …«, murmle ich vor mich hin.

Das lernt jedes Kind in Geografie, und in Mahnburg sogar schon im Kindergarten.

Was soll daran schon Angst einflößend sein?

Moore haben keine Seele.

Obwohl das Moor nie gleich bleibt, weil es sich stetig verändert, gibt es einige Wege, die sicher hindurchführen. Meine Füße schieben sich auf den wankenden Grasschollen vorsichtig vorwärts. Es fühlt sich an, als würde man auf Eis laufen, tastend, prüfend, ob die Oberfläche hält, was sie vorspiegelt. Mutsch gefällt es nicht, wenn ich im Moor spazieren gehe, aber sie weiß auch, dass ich keine Idiotin bin. Ich gehe keine Risiken ein, schließlich habe ich wenig Lust, ins kalte Wasser zu fallen. Schon gar nicht, wenn ich ganz allein unterwegs bin.

Nach einer Weile komme ich in die Nähe des Scherbenbergs. Dort treffen sich die Jugendlichen aus dem Ort, um Partys zu feiern und im Sommer zu grillen. Es ist ein künstlich aufgeschütteter Wall, der den Abfluss des Wassers verhindern soll. Eigentlich hat er keine Bezeichnung, aber weil der Kies bei der Aufschüttung wie Glas in der Sonne geglänzt hat, haben ihn die Leute Scherbenberg genannt. Die Erwachsenen sehen es nicht gern, wenn sich Jugendliche dort herumtreiben, aber alle Versuche, dem Spuk ein Ende zu bereiten, sind fehlgeschlagen. Es gibt eben nicht viel zu tun in einem Ort wie Mahnburg.

In dem Moment fällt mir wieder ein, dass Elsa hier ganz in der Nähe überfallen wurde, und fast augenblicklich überkommt mich erneut diese Unruhe, die die Härchen an meinem Nacken aufstellt. Vielleicht sollte ich nicht hier sein …

Da knackt es hinter mir.

Doch als ich herumfahre, ist da nichts. Nur Büsche, Torf und das Zwitschern der Vögel, die in der Einsamkeit des Moores brüten. Wie immer.

Reiß dich zusammen! Das ist ja nicht zum Aushalten.

Der Trotz packt mich. Ich gehe weiter. Meine Schritte führen mich auf den Scherbenberg hinauf. Am Tag ist es ein ruhiger Ort, niemand ist zu sehen. Um diese Uhrzeit beginnen eben keine Partys, nur Kaffeekränzchen.

Ich drehe mich im Kreis, um mich umzuschauen. Überall auf dem Erdboden sind Verschlüsse von Bierflaschen verstreut. Neben dem Papierkorb liegt zerknülltes Küchenpapier. In der Feuerstelle sind noch die Kohlereste des letzten Treffens zu sehen. Das Gras ist an dieser Stelle fast verschwunden, der Boden festgestampft von den unzähligen Turnschuhen, die hier gesprungen und ums Feuer gerannt sind. Die Erde glänzt noch feucht vom Regen.

Es ist seltsam, an einem Ort zu stehen, der aussieht, als würden dort Menschen sein, und dann steht man da ganz allein.

Vorsichtig gehe ich weiter, tiefer zurück ins Moor.

Plötzlich knackt es wieder.

Vor mir, nicht weit entfernt, hinter einer Buschgruppe, denen Birken folgen. Das kann alles Mögliche sein, sage ich mir. Vögel. Kröten. Der Wind – und meine Einbildung. Deshalb gehe ich weiter auf das Gebüsch zu. Meine Hand schließt sich zur Faust und mein Atem klingt laut, als wäre ich einen Marathon gelaufen.

Warum sollte der geheimnisvolle Angreifer ausgerechnet in diesem Moment hinter einem Busch hocken und darauf warten, dass jemand hier vorbeikommt?, mache ich mir Mut.

Doch dann sehe ich auf einmal etwas ein paar Meter vor mir, das nicht ins Bild passt. Irritiert blinzle ich und bleibe stehen. Mit wild schlagendem Herzen. Halb unter einem Busch verborgen sehe ich einen Kleiderhaufen.

Wieder dieses Knacken.

Von weiter her.

Instinktiv hebe ich einen abgebrochenen Ast auf, der vor mir liegt. Er ist glitschig vom Regen und nicht sehr dick, aber besser als gar nichts. Langsam drehe ich mich ein paar Mal um mich selbst, aus irgendeinem Grund renne ich nicht weg, obwohl das vermutlich das Vernünftigste wäre.

Mit jedem Schritt vorwärts erkenne ich mehr Details, und etwa zwei Meter davor begreife ich endlich, dass das Bündel unter dem Busch nicht einfach nur ein Haufen weggeworfener Kleider ist.

Es ist ein Körper.

Ein Mädchen.

Eine Tote?