Als ich nach Hause komme, winkt mich Onkel Gerhard an das offene Küchenfenster und teilt mir mit, dass die Polizei Elsas mysteriösen Anrufer identifiziert hat.
Es ist Laura-Sophie.
Mit der Tonanlage ihres älteren Bruders, der in einer Band spielt, hat sie ihre Stimme so verzerrt, dass sie nicht mehr zu erkennen war. Sie war wütend, dass Elsa immer im Vordergrund stand, und nachdem der Überfall im Moor passiert ist, hat sie ihre Chance gesehen, Elsa noch weiter zu verletzen, indem sie sich am Telefon über sie lustig macht.
»Ist das nicht furchtbar?«, sagt Onkel Gerhard zu mir. »Ich möchte dem kleinen Biest am liebsten den Hals umdrehen, wenn ich daran denke, was sie Elsa damit angetan hat.«
Bei seinen Worten muss ich wegsehen, denn ich denke an die Einträge, die Elsa im Forum gemacht hat, und wie sehr sie sich gewünscht hat, dass ihr Vater einmal für sie einsteht und merkt, wie schlecht es ihr geht – und wie es nie geschehen ist.
»Haben sie sonst noch etwas rausgefunden?«
»Nein, das Mädchen ist nur gemein, aber sie ist nicht der Täter, sie kennt das andere Mädchen gar nicht und ihr fehlt auch die Statur für so eine … Sache. Außerdem hat sie Alibis für die Tatzeiten.«
Das habe ich mir schon gedacht. Trotzdem bin ich froh, dass wenigstens das jetzt geklärt ist. »Ich hoffe, sie kriegt richtig Ärger«, brumme ich wütend und Onkel Gerhard nickt zustimmend.
»Willst du zum Abendessen rüberkommen, ich glaube, deine Mutter ist zu Billy rübergegangen«, sagt er und deutet über die Schulter auf einen riesigen Topf, der auf dem Herd vor sich hin köchelt.
Aber der Eisklumpen in meinem Magen verhindert, dass ich auch nur einen einzigen Bissen runterbekomme, deshalb schüttle ich den Kopf. Stattdessen sage ich ihm, dass ich schon gegessen habe, weil ich wirklich nicht weiß, was ich noch mit ihm bereden könnte, ohne alles preiszugeben.
Im Gästehäuschen hat mir Mutsch auf dem Küchentisch einen Zettel hinterlassen, auf dem Billys Telefonnummer und der Satz Warte nicht auf mich steht. Wenn ich den Kopf nicht gerade mit anderen Dingen voll hätte, würde ich mich ziemlich darüber amüsieren, aber im Moment will ich nur noch schlafen.
Doch der Schlaf will sich nicht einstellen. Unruhig rolle ich mich von einer Seite auf die andere und sehe zu, wie die Schatten an den Wänden immer länger werden, sich erst rot, dann grau und dann mitternachtsschwarz färben, und die Nacht ins Zimmer kriecht und den Geruch des Moores mit sich bringt. Ich beginne zu schwitzen und schon bald klebt mir das Schlafanzugoberteil am Körper.
Irgendwann nach Mitternacht beschließe ich, das Fenster zu öffnen, auch auf die Gefahr hin, dass die Mücken mich zu ihrem Festmahl erklären. Benommen und erschöpft schleppe ich mich zur Dachluke und greife nach dem Hebel, als ich plötzlich eine Gestalt am Gästehäuschen vorbeihuschen sehe. Im Licht des abnehmenden Mondes ist sie gut zu erkennen, obwohl die Laterne am Herrenhaus längst abgeschaltet ist.
Die Gestalt bewegt sich hin zum Moor. Es ist Elsa.
Ich erkenne sie an der Art, wie sie sich fortbewegt und dabei das Bein nachzieht.
Was will sie im Moor? Um diese Uhrzeit?
Trifft sie sich mit jemandem? Etwa Nina oder David?
Mit einem Schlag bin ich wieder wach, denn die Angst um Elsa brennt mir im Blut. Ich sehe, wie sie sich auf die schwarze Wand der Baumwächter zubewegt und zwischen ihnen verschwindet, als hätte ich mir Elsas Gestalt nur eingebildet.
Ich muss ihr hinterher!, denke ich, während ich schon nach meiner Hose und einem Pullover greife. In Windeseile habe ich mich angezogen und die Stiefel geschnürt. Es bleibt keine Zeit, jemanden zu holen, sonst verliere ich sie im Moor.
Himmel, sie muss verrückt geworden sein! Um diese Uhrzeit ins Geißelmoor zu rennen, wenn man die eigene Hand nicht vor Augen erkennt, geschweige denn den Weg. Und das auch noch mit ihrem Fuß, mit dem sie kaum Halt finden wird. Wie vom Teufel besessen renne ich aus dem Haus und Elsa hinterher, ich rufe ihren Namen, aber sie ist schon im Bruchwald eingetaucht und hört mich nicht mehr. Der Mond hängt tief am Himmel und streut sein käsiges Licht über uns. Wie verlängerte Arme kriechen die Schatten der Eichenäste über den Boden, als ich zwischen ihnen hindurchlaufe.
Ich kann nur raten, wohin sich Elsa wendet; wenn sie sich wirklich mit jemandem treffen will, stehen ihre Chancen am besten mit dem Scherbenberg. Dort werden sie ihre Schritte hinführen, denn das ist der einzige feste Ort, an dem man nicht jeden Moment droht, in die Tiefe herabgezogen zu werden. Außerdem kennt den Weg dorthin fast jeder in Mahnburg.
Auf der anderen Seite des Bruchwaldes bleibe ich stehen und schaue einen Moment lang gebannt auf die dunkle Fläche des Moors, die die eisige Kälte darunter verbirgt. Es sieht so harmlos aus, aber das ist es nicht. Es ist tödlich.
Und ich bin eine Närrin, ihr auch noch zu folgen.
Mit zitternden Händen wähle ich Tobis Nummer, der Empfang ist schlecht, aber nach einer Ewigkeit nimmt er endlich ab.
»Ist Nina in ihrem Zimmer?«, brülle ich in das Handy, und fahre herum, als hinter mir ein Zweig knirscht. Aber es ist nur ein Marder, der sich seinen Weg durchs Geäst sucht.
»Was? Was ist denn?«
»Elsa ist gerade ins Moor gerannt, aber jetzt kann ich sie nicht mehr sehen, alles ist so dunkel hier. Wenn sie ins Wasser stürzt …« Ich spreche den Gedanken nicht aus.
»Du darfst ihr nicht folgen, Harper! Das ist viel zu gefährlich.«
»Ich kann sie doch nicht einfach ins Moor laufen lassen!«
Ich höre, wie er aus dem Zimmer rennt und eine weitere Tür aufreißt.
»Nina ist nicht in ihrem Bett! Sie muss sich heimlich davongemacht haben.« Sein Atem klingt gepresst. »Bleib, wo du bist, ich komme hin.«
»Ich kann sie nicht alleinlassen, Tobi, ich glaube, dass sie zum Scherbenberg geht. Den Weg kenne ich gut genug, um ihn auch im Dunkeln zu finden. Wenn sie dort nicht ist, komme ich zurück, versprochen.«
»Um Himmels willen, Harper, ich werde jetzt die Polizei anrufen, bleib …«
Ich lege auf, bevor er mir die Sache ausreden kann, und obwohl mir vor Angst fast schwindlig wird, setze ich den ersten Fuß auf die nächstliegende Torfscholle. Wie eine Schnecke komme ich voran, unsicher gehe ich Schritt für Schritt, und bei jedem Geräusch fahre ich panisch herum, aber es sind immer nur Tiere, nächtliche Jäger auf der Suche nach etwas zu fressen.
Es kostet mich die doppelte Zeit, um an den Fuß des Scherbenbergs zu kommen, der Wind ist aufgefrischt, und als ich mit zittrigen Knien hinaufsteige, versuche ich, zwischen den Schatten etwas zu erkennen.
Ich kann sie hören, bevor ich sie sehe.
Es ist ein Flüstern, sanft und eindringlich weht es den Hügel hinunter auf mich zu und führt mich bis nach oben. Dort stehen im Licht des Mondes das verstümmelte Aschenputtel, die Eisprinzessin und der Jäger, der selbst zum Gejagten wurde. Dicht gedrängt beieinander, die Köpfe zusammengesteckt, und Ninas Haut leuchtet beinahe im fahlen Licht. Unter meinen Füßen zittert der Torfboden, so abrupt bleibe ich am Rand der Freifläche stehen.
Und da wenden sie mir die Köpfe zu. Ihre Gesichter scheinen mir fremd, als hätte das Moor von ihnen Besitz ergriffen. Vielleicht ist es ja so, vielleicht sind all die Geschichten darüber wahr, und das Moor lockt die Menschen in seine Fänge, bis sie sich selbst darin verlieren.
Für einen Augenblick sehen wir uns an, beinahe wie erstarrt, dann sagt Elsa: »Du hättest nicht herkommen sollen, Harper.«
Und du hättest dem Monster nicht nachgeben dürfen.
»Komm mit mir zurück, Elsa«, sage ich flehentlich und strecke die Hand nach ihr aus. »Was machst du hier? Mitten in der Nacht? Du müsstest doch wissen, wie gefährlich das ist.«
Ein krächzender Laut kommt aus ihrer Kehle, und ich erkenne, dass es ein Lachen ist. Leise und nicht unfreundlich. »Ach, Harper, jeder in diesem Ort kennt das Moor, selbst die, die es nicht mögen. Ich war doch schon so oft hier. Ich bin nicht Rotkäppchen, schon vergessen? Ich komme nicht vom Weg ab.«
»Tobi hat die Polizei angerufen, sie werden herkommen.«
Auf meine Ankündigung entfährt David ein »Verdammt«. Er macht einen Schritt zurück und bricht so die eigenartige Formation auf, die sie drei gebildet haben.
»Warum hast du das gemacht?«, fährt Elsa mich an. »Du machst alles nur schlimmer!«
»Was soll denn daran noch schlimmer werden, Elsa?« Ich zeige auf ihren Fuß, aber sie schüttelt wild den Kopf und fährt sich mit beiden Händen durchs Haar. »Das ist doch Wahnsinn. Was tust du hier? Ausgerechnet hier …«
Irgendwo in der Nähe ist ihr Blut in den Boden geflossen und sie kommt trotzdem zurück.
»Du verstehst das eben nicht«, sagt David kalt und kommt langsam auf mich zu.
Ich weiche zurück, aber rückwärts zu laufen, ist im Moor keine gute Idee. Wenn man nicht sieht, wohin man geht, kann man leicht verunglücken.
»Elsa!«, rufe ich. »Komm mit mir nach Hause.«
»Sie kann selbst entscheiden, was sie tun will, genau darum geht es doch.« David verringert den Abstand zwischen uns, bis uns nur noch zwei Armlängen trennen. Über seine Schulter sehe ich, wie Nina die Hand auf Elsas Arm legt und ihr ins Ohr flüstert.
»Tobi sucht dich«, sage ich zu ihr. »Er macht sich Sorgen um dich …«
»Er hat sich keine Sorgen gemacht, als dieser Scheißtyp sie in Frankfurt …«, entgegnet David, doch Ninas Stimme klingt scharf, als sie seinen Namen ruft und ihn somit am Sprechen hindert. Wie es sich für eine Eisprinzessin gehört, steht sie aufrecht und starr im Mondlicht. Selbst im Nachtlicht glänzt ihr Haar noch.
Zerknirscht wirft er einen Blick über die Schulter.
»Das ist nicht wahr«, erwidere ich. »Tobi macht sich große Vorwürfe, dass er nicht … dass er dir nicht helfen konnte, das musst du ihm glauben.«
Aber Nina wendet sich ab, und den inneren Kampf, den sie austrägt, erkenne ich an ihren bebenden Schultern. Über uns fliegt ein Schatten vorbei, der einen schrillen Schrei ausstößt, und in den Büschen raschelt es unentwegt.
»Wir helfen uns selbst«, zischt David und senkt den Kopf wie ein Stier zum Angriff.
Und auf einmal packt mich eine schreckliche Gewissheit, die mir in alle Glieder fährt und meine Haut brennen lässt. Erschüttert taumle ich nach hinten. »Du hast es getan«, flüstere ich ihm entgegen. »Du hast nie einen Unfall gehabt und bist auch nicht überfallen worden, denn du … du hast Elsa und Nina das angetan.«
Er ist das Monster.
Das Puzzle fügt sich zusammen. Festhaltegriffe sind ihm nicht fremd, das hat er jahrelang im Judo trainiert. Er ist kräftig genug, um zwei Mädchen festzuhalten und sie zu betäuben …
»Die Nachrichten waren gar nicht für die Polizei, nicht wahr?«, sage ich. »Sie waren für Elsa und Nina. Damit sie wissen, wer ihnen das angetan hat. Wahrscheinlich haben sie deshalb auch von Anfang an vom Thema abgelenkt oder versucht, uns davon abzubringen, weiter nachzufragen. Weil sie wussten, dass du es warst.«
»Er hat uns geholfen«, ruft Elsa ungehalten.
»Indem er euch verstümmelt?«
»Er hat uns befreit.«
Wie im Märchen von den sieben Geißlein, er ist der Jäger, der dem Wolf den Bauch aufschneidet. Der Retter.
»Das ist doch krank.«
Es ist die Natur des Monsters.
Das ist also die Wahrheit, nach der ich die ganze Zeit gesucht habe! Der eigentliche Grund, warum Elsa und Nina ihn decken. Weil sie wissen, dass er ihnen nichts angetan hat, was er sich selbst nicht auch zugefügt hat.
»Letztes Jahr beim Bürgermeistertreffen habt ihr euch kennengelernt«, spreche ich leise aus, was sich nun endlich wie eine Perlenkette vor mir aufreiht, Wahrheit um Wahrheit. »Da ist euch aufgefallen, dass ihr alle dasselbe Problem habt. Dass ihr nicht frei seid … Du hast gesagt, man kann den Leuten alles beibringen … Auch, wie man Leute aufschlitzt?«
»Was glaubst du, was man in der Bibliothek alles so findet. Oder im Netz. Außerdem war ich in den Monaten so oft beim Arzt, dass es nicht schwer war … du weißt schon.« Er macht eine Handbewegung.
»An Chloroform und die Skalpelle heranzukommen«, ergänze ich verächtlich. »Du tust die ganze Zeit so, als würdest du ihnen helfen wollen, aber langsam habe ich den Verdacht, dass du nur jemanden suchst, der dasselbe durchmacht wie du«, sage ich zu David, die Wut macht mich mutig. »Hast du sie hierher bestellt? Warum? Damit du sie noch einmal darauf einschwören kannst, der Polizei gegenüber nichts zu sagen? Weil es heißt: Ihr gegen die Welt? Die Märchenzitate waren deine Botschaften an Elsa und Nina, und du wusstest, sie würden schweigen, weil sie Mitleid mit dir hatten und dich ja so gut verstehen konnten. Du hast ihr Vertrauen ausgenutzt.«
»Das ist nicht wahr.«
»Doch, ist es.« Ich deute hinter ihn auf Elsa und Nina. »Du trennst sie von ihrer Familie, indem du ihnen einredest, sie sollen uns nichts erzählen.«
Voller Abscheu fährt er mich an: »Das ist genau das, was wir zu viel hatten: Familie. Wir brauchen nicht noch mehr Leute, die uns sagen, was wir zu tun haben.«
Jetzt ist es an mir, wild den Kopf zu schütteln. »Das ist es nicht, was Familie bedeutet. Elsa, du weißt das. Komm doch zur Besinnung.«
»Sie hat dir nichts mehr zu sagen«, antwortet David für sie, und der Abstand zwischen uns ist so gering geworden, dass ich in seinen Augen plötzlich ganz genau sehen kann, was er als Nächstes tun wird – noch bevor er sich bewegt.
Da ist das Monster, in das er sich verwandelt hat.
Ich drehe mich um und stürze davon, er mir hinterher. Ich weiß, dass ich nicht stehen bleiben darf. Er darf mich nicht kriegen.
»Harper!«, höre ich hinter uns Elsas Stimme, und auch Nina schreit: »Was tust du, David! Lass sie in Ruhe!«, aber sie können uns nicht einholen.
Wie ein Tier, das vor einem Jäger flüchtet, renne ich weiter, so schnell ich kann, denn ich weiß, dass es nicht mehr David ist, der mir auf den Fersen ist.
Ich kann nicht mehr unterscheiden, ob es sein Atem oder der Wind ist, den ich im Nacken spüre. Immer weiter renne ich, den Weg zurück, den ich gekommen bin. Der einzige Vorteil, den ich habe, ist mein Gewicht, denn ich sinke nicht so tief ein wie David. Er muss sich mehr anstrengen, auf dem wackligen Untergrund zu rennen, doch das Moor macht es auch mir schwierig. Unser Rennen ist eher ein Springen, von Scholle zu Scholle.
Mein Herz rast und ein stechender Schmerz macht sich in der Seite und den Oberschenkeln breit.
Weiter, Harper, du darfst nicht stehen bleiben, sonst werden dich die Seelen der Versunkenen mit sich in die Tiefe ziehen.
Ich kann nicht darauf achten, wohin ich trete, es bleibt keine Zeit, um abzuschätzen, ob der Boden mich trägt. Zweige peitschen mir ins Gesicht, ein paar Mal sackt die Sohle unter mir ins feuchte Gras und ich versuche zu fliegen.
Weiter.
Aber ich kann nicht mehr atmen.
Plötzlich höre ich hinter mir einen Schrei, doch ich bleibe nicht stehen.
Dann meinen Namen. Voller Angst.
Ich riskiere einen Blick zurück und komme schwankend und zitternd zum Stehen.
David ist eingebrochen. Mit dem Oberkörper hängt er halb über dem Rand des Lochs, aber seine Hände finden keinen Halt, weil der Torf in die entstandene Kuhle bricht. An seinen Bewegungen erkenne ich, dass er mit den Beinen rudert, viel zu hektisch, er macht es nur schlimmer.
Wieder ruft er meinen Namen und ich komme zögerlich näher. Aber das ist kein Trick, er ist wirklich im Moor eingebrochen. Sein Gesicht sieht panisch zu mir auf, als ich außer Reichweite vor ihm stehen bleibe.
»Du musst mir helfen, Harper!«
»Warum sollte ich?« Ich halte mir die stechende Seite und hole schnappend nach Luft. Mein Rücken krümmt sich unter meiner Erschöpfung.
»Du kannst mich doch nicht hier ertrinken lassen … O Gott, ich spüre meine Beine nicht mehr. Harper!«
Sieben Herzschläge braucht es, bis ich mir die Jacke ausziehe und sie ihm hinhalte, denn ich will ihn nicht sterben sehen. Nicht mal er hat das verdient.
In dem Moment höre ich wieder meinen Namen, diesmal ist es jedoch Billy, der auf uns zurennt. Ich rufe ihm eine Warnung zu, weil die Schollen um uns herum gefährlich in Bewegung geraten sind. Vorsichtiger und langsamer geht er weiter. Mit einem Blick hat er die Situation erfasst und nimmt meine linke Hand fest in seine, während ich mich zu David beuge und ihm die rechte reiche. Der Schlamm an seiner Hand ist kalt, seine Zähne klappern und er hat schon blaue Lippen. Sein Blick ist durchdringend und kurz überlege ich erneut, ihn einfach loszulassen.
Aber das tue ich nicht. Und Billy zieht uns beide Stück für Stück auf festeren Untergrund. Hinter uns höre ich weitere Rufe und über Billys Schulter kann ich Tobi mit einigen Beamten der Polizei sehen, die auf uns zulaufen. Ihre Taschenlampen und Strahler machen das Moor taghell. Auch zwei Sanitäter mit Decken sind dabei, die eilig über das Gras springen.
Schwer atmend hocken David und ich am Rand des eingebrochenen Moorlochs und ich starre David an, der fürchterlich zittert. Ich möchte ihm so viel sagen, aber es kommt mir nichts über die Lippen außer: »Du hättest das nicht tun sollen.«
»Es hat ja sonst niemand was getan.« Sein Kopf hängt nach unten, und ich habe den Verdacht, dass er weint. »Ich konnte es einfach nicht mehr aushalten, ohne dieses Talent würde niemand mehr etwas von mir wollen.«
Ein Sanitäter legt mir eine Wärmedecke über die Schultern, dabei bin ich gar nicht ins Wasser gefallen. Billy hockt sich neben uns und flüstert mir zu: »Was ist hier los?«
»David war es.« Ich muss nicht mehr sagen, Billy scheint auch so zu begreifen, denn seine Augen weiten sich entsetzt und sein Blick umfängt David, der auch nicht den Kopf hebt, als ich die Wahrheit ausspreche. Billys Gesichtsausdruck schwankt zwischen Verwirrung und Wut und spiegelt genau das wider, was auch in mir durcheinanderwirbelt.
»Ich wollte dir nichts tun«, flüstert David.
Doch, das wollte er, vielleicht will er es jetzt nicht mehr, aber vorhin hat er es ernst gemeint, das habe ich in seinen Augen gesehen. Vielleicht kennt er das Monster in seinem Innern schlechter, als er glaubt.
»Wir müssen deine Mutter informieren«, sagt Billy zu mir. »Sie ist völlig ausgeflippt, als die Polizei vor meiner Türe stand. Ich konnte sie kaum davon abhalten, mit ins Moor zu kommen.«
Erschöpft grinse ich ihn an. »Ich frage mich, was sie um diese Uhrzeit bei dir gemacht hat?«
Ein schwaches Lächeln antwortet mir, aber sofort wird er wieder ernst. »Wir müssen auch bei dir anrufen, David, tut mir leid. Das alles …«
»Für die bin ich sowieso eine einzige Enttäuschung.«
Auf einmal fliegt etwas an uns vorbei, und bevor wir es verhindern können, schlägt Tobi David mitten ins Gesicht. Dann steht er schwer atmend über ihm, die Fäuste geballt, den flammenden Hexerblick auf David gerichtet, der sich die blutende Nase hält, aber schweigt. Ich habe das Gefühl, dass er sich tief in sich zurückgezogen hat.
Einer der Sanitäter reicht ihm ein Taschentuch, obwohl er unmöglich verstehen kann, was hier vorgeht.
Langsam erhebe ich mich, einer der näher getretenen Polizisten stützt mich, und dann falle ich Tobi um den Hals und halte ihn, so fest ich kann. Das Zittern seines Körpers überträgt sich auf mich, aber auch seine Wärme. Seine Umarmung wird enger, bis er mir fast die Rippen bricht, aber ich beschwere mich nicht.