Schon als wir die Auffahrt zum Herrenhaus hochkommen, sehen wir Großmutter die Rosenbüsche beschneiden. Unter der Krempe ihres Huts hervor beobachtet sie uns mit schmalen Augen. Aber ich weiß absolut nicht, was ich ihr sagen oder wie ich Tante Luise in die Augen sehen soll, wenn ich sie das nächste Mal treffe. Deswegen winke ich ihr nur schnell zu und ziehe Tobi weiter zum Gästehäuschen. Dort machen wir uns nicht einmal die Mühe, die Schuhe auszuziehen, und zum Glück fragt Mutsch nicht, was wir mit dem Laptop wollen, als ich darauf deute. Sie ist viel zu sehr damit beschäftigt, mit ihrer Freundin aus dem Ort über Mutschs Abschlussjahr in der Schule zu diskutieren. Was sie aus irgendeinem Grund total aufregt, denn sie winkt uns einfach weiter. Also schnappe ich ihn mir einfach vom Küchentisch, und wir verziehen uns nach oben.
Im Schlafzimmer setze ich mich auf die Dielen vor dem Bett und balanciere den Laptop auf meinem Schoß, während Tobi sich neben den Käfig hockt.
»Du kannst sie rausnehmen, wenn du willst«, sage ich zu ihm, als ich den Laptop aufklappe und einschalte.
Vorsichtig hebt er Tennessee aus dem Käfig, der nervös mit den Beinchen zappelt, doch als er erst mal feststellt, dass Tobi ihn nur streicheln und nicht fressen will, beruhigt er sich wieder und schnüffelt neugierig an seiner Hand. Tobi setzt sich mit der Ratte neben mich, die daraufhin ihre Schnauze hebt und misstrauisch das Computergehäuse beschnuppert.
Während sich der Rechner hochfährt, versuche ich, den Wirbelsturm der Gefühle in mir zu ordnen, aber es gelingt mir nicht, denn ich bin immer noch wütend auf mich, weil ich von Elsas Kampf nichts gemerkt habe. Ein bisschen bin ich auch wütend auf Elsa, weil sie mich in diese Situation bringt, in der ich gleichzeitig Mitleid mit ihr habe und sie am liebsten schütteln möchte. Warum hat sie mir nicht deutlicher gesagt, was Sache ist?
Hat sie gedacht, es würde uns nicht kümmern? Oder wollte sie nicht, dass Mutsch mit Tante Luise streitet, weil es danach noch schlimmer geworden wäre? Diese Fragen liegen mir wie Steine im Bauch, und ich beiße mir vor Zorn in die Unterlippe, bis ich Blut schmecken kann.
Im Netz gibt es eine ganze Reihe Bilder von diesem Treffen beim Bürgermeister im Herbst des letzten Jahres. Offenbar ist es für Mahnburg wirklich eine Riesensache. Das Mahnburger Tageblatt und zwei überregionale Zeitungen haben darüber geschrieben und die Artikel auch online gestellt. Wir stoßen auf ein Foto, auf dem Elsa dem Bürgermeister die Hand schüttelt, und im Artikel ist die Rede von drei Jugendlichen, denen die Ehre an diesem Tag zuteil wird.
Im Tageblatt ist ein Foto abgebildet, auf dem alle drei Teilnehmer zu sehen sind. Darauf ist noch die alte Elsa zu sehen, mit ihrem langen Feenhaar und einem weichen, fallenden Kleid. Auf ihrer rechten Seite steht Nina, die sich halb hinter ihr versteckt, als hätte sie noch nie im Fokus einer Kamera gestanden. Ihr Gesicht ist wie Eis erstarrt.
Auf Elsas linker Seite steht ein Junge mit blondem Haar und Judogürtel in der Hand.
»Den kenn ich doch«, entfährt es Tobi entsetzt. »Das ist David.«
»Der vom Scherbenberg?« Ich beuge mich vor, um das Bild besser erkennen zu können. »Bist du sicher?«
Er nickt.
Wenn ich mich daran erinnere, dass wir mit ihm gesprochen haben … dass David uns gegenübergestanden hat und wie ich bei unserem Treffen auf dem Scherbenberg noch gedacht habe, dass er irgendeine Art von Sport machen muss, weil er relativ kräftig ist – und zur selben Zeit lauerte diese beißende Verzweiflung in ihm, die in jeder seiner Zeilen im Forum zu lesen ist.
In dem Artikel werden die drei Jugendlichen kurz vorgestellt, bei Davids Eintrag findet sich auch ein Foto seines Vaters, der ebenfalls als junger Mann Judo gemacht hat. Allerdings längst nicht so erfolgreich wie sein Sohn.
David ist Jugendmeister im Judo, das ist sein Talent.
»Wir müssen mit ihm reden!«, stellt Tobi fest. »Vielleicht fällt ihm ein, wer der Täter sein könnte, ich bin mir sicher, dass sie ihn alle kennen …«
»Wir müssen erst herausfinden, wo er wohnt.«
Grimmig nickt er und zieht dann sein Handy aus der Hosentasche. Er telefoniert sich so lange durch den Kreis seiner Kumpel, bis er einen erwischt, der auch David kennt und ihm die Adresse sagen kann.
»Nur ein paar Straßen von hier«, sagt er zu mir, nachdem er das Gespräch beendet hat.
Für einen Moment lang überlege ich, Mutsch alles zu erzählen, aber das kommt mir nicht richtig vor, denn ich habe Elsas Vertrauen schon einmal missbraucht, in dem ich ihre Einträge im Forum gelesen habe. Bevor wir nicht alle Details der Geschichte kennen, will ich sie noch nicht preisgeben. Jetzt geht es vor allem darum, David vor dem Monster zu schützen. Seufzend setze ich Tennessee wieder zurück in den Käfig, bevor wir uns auf den Weg machen.
Der Wohnblock, auf den Tobi zusteuert, liegt in der Tat nur ein paar Straßen von Großmutters Grundstück entfernt. Es ist einer der wenigen Neubauten, die es in der Stadt gibt. Die sonnenblumengelbe Fassade ist inzwischen jedoch zu einem fahlen Butterbeige verwittert und die Briefkästen sind mit Graffiti besprüht. Auf den Stufen zum Eingang sitzen drei kleine Jungs, die mit Autokarten spielen und uns ignorieren, als wir an ihnen vorbeigehen.
Die Eingangstür steht sperrangelweit offen, weil jemand ein zusammengefaltetes Stück Papier darunter geschoben hat. Deshalb können wir ohne Probleme ins Haus gelangen. Alles sieht freundlich, wenn auch ein bisschen abgenutzt aus, in den Fenstern auf jedem Treppenabsatz stehen Blumentöpfe und kleine Figuren.
Das passende Klingelschild finden wir im dritten Stock. Auf unser Klingeln hin öffnet ein Mann die Tür, der wahrscheinlich Davids Vater ist, er sieht dem Mann im Artikel ähnlich, obwohl das Bild gute fünfzehn Jahre alt war. Er hat auch noch die Statur eines ehemaligen Sportlers, dabei ist er zwar nicht besonders groß, aber er besitzt ein breites Kreuz. Sein blondes Haar wird an den Schläfen bereits grau und tiefe Furchen durchziehen sein Gesicht. Auch sein Hemd spannt sich ein bisschen zu sehr über dem Bauch, aber er wirkt nicht unfreundlich.
Aufgrund der Einträge im Forum wollen wir zuerst mit David reden, denn sie wecken den Eindruck, dass er kein besonders gutes Verhältnis zu seinem Vater hat. Daher erzählen wir dem Mann, dass wir Freunde von David sind, ohne vorläufig die Gefahr zu erwähnen, in der David möglicherweise schwebt. Wir fragen, ob David zufällig zu Hause ist und der Vater blinzelt ein paar Mal, während er Tobi ansieht. Ich kann es ihm nicht verdenken, schließlich geht’s mir immer noch ein bisschen so. Man hat das Gefühl, man steht unter Hypnose.
»Er ist in seinem Zimmer. Einfach durchs Wohnzimmer durch.« Mit seiner riesigen Hand zeigt er hinter sich, und wir treten an ihm vorbei in die Wohnung, in der es schwach nach Essen riecht. Die Wände sind in hellen Farben gestrichen, nichts wirkt seltsam.
Außer die unzähligen gerahmten Glasbilder mit Zeitungsausschnitten und Urkunden, die an der Wand hinter dem Sofa hängen. Es erinnert mich an die Bilder von Nina. Ihr Anblick lässt mich stehen bleiben, und auch Tobi betrachtet die Fotos. Auf den meisten sind Davids Vater als junger Mann oder David selbst in ihren weißen Judoanzügen zu sehen. Auf einigen Bildern stehen sie auf Siegertreppchen, wobei Davids Vater fast immer lächelt. Es ist das gleiche Lausbubengrinsen, das ich auch an David gesehen habe. Er selbst dagegen lacht nie. In dem Glasrahmen spiegelt sich verschwommen mein Gesicht. Ein blasses Gespenst mit zerzaustem Haar und großen dunklen Augen.
»Ja, da staunt ihr, was?«, sagt sein Vater und stellt sich neben uns. »Jugendmeister. Genau wie mein Sohn. Das liegt eben im Blut. Aber das ist natürlich schon ewig her …« Sein Blick wird wehmütig, und einige Sekunden stehen wir nebeneinander, bis ich Tobi in die Seite stoße, damit er endlich weitergeht. Daraufhin räuspert er sich, was den Mann aus seiner Trance zu reißen scheint.
Verwirrt blinzelt er und deutet auf den Flur, der sich an das Zimmer anschließt. »Ich sage euch, der David wird wieder auf die Beine kommen. Die Ärzte sagen zwar, dass er das Judo vergessen kann, aber ich weiß es besser. Der Junge hat den Siegerwillen. Das braucht man.« Er nickt gewichtig und klopft Tobi auf den Rücken, der dadurch fast nach vorn stolpert.
Wir werfen uns einen Blick zu.
Was hat das zu bedeuten? Ist David krank?
Irritiert gehen wir weiter. Weil uns sein Vater vom Wohnzimmer aus beobachtet, klopfe ich schnell an Davids Tür und schlüpfe in den Raum, sobald von drinnen ein »Ja!« ertönt. Tobi folgt mir und schließt hinter sich wieder die Tür – dann stehen wir David gegenüber, der an seinem Schreibtisch vorm Computer sitzt. Als er uns sieht, legt er den Kopf schief. In aller Ruhe schaltet er den Monitor aus und lehnt sich an den Schreibtisch.
»Seid ihr noch mal wegen Nina hier?«
Ich schüttle den Kopf. »Wir denken, dass du möglicherweise auch in Gefahr bist, weil der Täter es vielleicht auf Hochbegabte abgesehen hat, oder eben auf Leute mit einem bestimmten Talent. Eben auf Leute wie dich, Elsa und Nina. Du bist doch DerJAEGER, oder etwa nicht?«
Auf meine Worte hin runzelt er die Stirn und will wissen, von wem ich das weiß. Daraufhin werde ich ein bisschen rot und gebe zu, dass ich die Einträge im Forum gelesen habe.
Wütend sieht er mich an. »Du hattest kein Recht, das zu lesen. Es war privat. Zumindest war es nicht für eure Augen gedacht.«
»Das weiß ich, es tut mir auch leid, aber …«
»Das Forum ist für Leute mit bestimmten Problemen, nicht für neugierige Besserwisser.« Sein Ton klingt jetzt weniger wütend, sondern vielmehr genervt und auch ein bisschen erschöpft.
»Warum hast du gelogen? Als wir dich auf dem Scherbenberg nach den beiden gefragt haben?«, will Tobi von ihm wissen.
»Hätte ich euch etwa erzählen sollen, dass wir in einem Forum aktiv sind, das sie sofort dichtmachen würden, wenn die Schulbehörde davon erfährt? Es gibt Gründe, warum der Betreiber nicht gleich zu erkennen ist und jeder Neuzugang vom Admin abgesegnet werden muss. Denk doch mal ein bisschen nach. Glaubst du vielleicht, die würden zulassen, dass sich irgendwer darüber austauscht, wie du am besten ohne viel Geld auf der Straße überleben kannst? Sei doch bitte nicht so naiv.« Ein paar Mal atmet er tief durch. »Ich denke, ihr solltet wieder gehen. Ich bin jedenfalls nicht in Gefahr.«
»Woher willst du das wissen?«, rufe ich frustriert, doch er hebt lediglich den Arm und deutet auf seine Hand.
»Weil ich längst kein Supertalent mehr bin. Hat euch mein Vater nicht von dem Unfall erzählt und dass ich dieses kleine Problem mit meinem Arm wieder in den Griff kriege? Das macht er gern bei Besuchern. Dabei wissen inzwischen wirklich alle, dass das vorbei ist. Er wird’s auch irgendwann noch verstehen. Da hilft auch keine Physiotherapie. Das Gelenk ist hin.«
Ich erinnere mich daran, dass mir sein verdrehtes Gelenk schon auf dem Scherbenberg aufgefallen ist.
Sein Gesicht wirkt auf einmal entspannt, sogar beinah heiter, und der Ton, in dem er spricht, ist ruhig und sicher. »Ich hab es gehasst, müsst ihr wissen. Ich habe nur meinem Vater zuliebe angefangen. Eine Weile habe ich versucht, bei den Wettkämpfen zu verlieren, aber das hat’s noch schlimmer gemacht. Da ist er richtig aggressiv geworden. Aber jetzt kann er eben nichts dagegen tun. Das ist höhere Gewalt.«
»Und das ist es, was du wolltest, nicht wahr?«, sage ich. »Eine Möglichkeit, mit dem Sport aufzuhören.«
Er grinst. »Ja, das war ein Riesenglück. Welchen Grund hätte euer mysteriöser Täter also, mich anzugreifen?«
Die Art und Weise, wie er das sagt, lässt mich frösteln, und mir kommt eine schreckliche Idee. »Wie ist es zu dem Unfall gekommen?«
»Oh, das war wirklich Pech, ich habe etwas aus einem Regal im Keller holen wollen. Bin auf die Leiter gestiegen, abgerutscht und mit dem Arm auf dem Betonboden aufgekommen. Recht unspektakulär, was?« Er erzählt es, als wäre es der reinste Spaß, das unheimliche Grinsen liegt immer noch auf seinem Gesicht – und mir drängt sich der schlimme Verdacht auf, dass das Monster ihn vielleicht längst erwischt hat.
Was, wenn das gar kein Unfall war und David nur nicht verraten will, dass er bereits angegriffen wurde? Vielleicht ist der JAEGER nicht das dritte Opfer, sondern das erste – es hat nur nie jemand davon erfahren?
»Ich verstehe nicht, warum …«, murmelt Tobi, und einen Moment lang sieht David ihn intensiv an, bevor er eine Akte aus dem Kleiderschrank zieht, die zwischen einem Stapel Pullover gelegen hat. Er klatscht sie uns vor die Füße und die Hälfte des Inhaltes verteilt sich über den Fußboden. Röntgenbilder, Dokumente und Laborauswertungen.
»Seht ihr das? Das ist meine Krankenakte. Drei Brüche, viermal Bänder angerissen und ein ganzer Blumenstrauß an Prellungen, Zerrungen, kaputten Kapseln und Sehnenentzündungen. Dazu Magenprobleme wegen nervlicher Belastung. Was soll ich sagen, am Anfang war ich einfach nicht guuut.« Er zieht das Wort ironisch in die Länge. »Da passiert’s eben schnell, dass man sich was tut. Aber ich bin schnell wieder zusammengewachsen und mit genügend Training kann man auch einem Affen was beibringen.« Nun werden seine Augen hart. Er kommt einen Schritt auf uns zu und verschränkt die Arme. »Ihr wolltet es doch wissen. Deswegen schnüffelt ihr doch herum, oder nicht? Nun, das ist die Wahrheit, wir sind nicht böse, dass es passiert ist. Weder ich, deine Schwester noch Elsa.«
»Das ist doch verrückt!«, ruft Tobi. »Wie könnt ihr nur zulassen, dass der Täter damit durchkommt? Ich denke, ihr wisst, wer es ist, und deckt ihn. Aber ich werde zur Polizei gehen, wenn sie erst mal wissen, wo sie ansetzen müssen, dann finden sie auch Beweise.«
Traurig schüttelt David den Kopf. »Du hast gar nichts verstanden, Kleiner, überhaupt nichts …« Er deutet wortlos auf die Tür und zum zweiten Mal an diesem Tag werden wir wie Hunde aus einem Zimmer geschickt.
Nachdem wir bei David hinausgestolpert sind, übergibt sich Tobi in die Büsche am Straßenrand und ich fahre mir mit den Händen mehrmals übers Gesicht, weil sich meine Haut so anfühlt, als würden lauter kleine Nadeln hineinstechen, und meine Eingeweide verknoten sich zu einem Labyrinth.
Als Tobi fertig ist, lehnt er sich an eine Häuserwand und schließt erschöpft die Augen. Mit einem Taschentuch wischt er sich den Mund ab. Seine Sommersprossen treten rostrot gegen seine fahle Haut hervor und selbst seine Lippen haben beinahe jede Farbe verloren.
»Ich mein’s ernst, Harper, ich werde zur Polizei gehen. Die anderen sind doch verrückt, sie wissen gar nicht, was sie da reden.«
Seufzend lehne ich mich neben ihn und ergreife seine Hand. Unsere Finger verschränken sich ineinander, und dieses Mal ist seine Hand so eisig, wie sie aussieht. Ich bin mir nicht sicher, ob Tobi recht hat. Wir haben schon einmal den Fehler gemacht, ihnen nicht richtig zuzuhören, und vielleicht wissen sie besser als alle anderen, was sie wollen. Nachdenklich starre ich in den Himmel, an dem ein Flugzeug einen breiten Kondensstreifen hinterlässt, der langsam verblasst.
»Lass uns eine Nacht darüber schlafen und morgen entscheiden, was wir tun«, sage ich. »Die anderen sollten es auf jeden Fall vorher wissen und darauf vorbereitet sein, immerhin wird doch dann alles zur Sprache kommen. Deine Eltern … Tante Luise …« Darauf antwortet er nichts, und lange stehen wir an die Wand gelehnt, jeder versunken in seine eigenen Gedanken und Ängste, während die Leute an uns vorübereilen, als wäre alles in Ordnung.
Sie haben keine Ahnung, was hier gerade geschieht, und ich bin fassungslos, dass man es uns nicht ansieht.