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Das städtische Krankenhaus ist ein alter Klinkerbau, dessen Wände mich zu erdrücken scheinen. Das Licht der Neonröhren zeichnet meinen Schatten scharf gegen die lindgrün gestrichene Wand und wie ein Zombie folge ich Billy durch die engen Flure. Eine merkwürdige Glocke hat sich über meinen Kopf gestülpt, durch die ich nur die Hälfte von dem verstehe, was um mich herum gesprochen wird.

Ich sehe Billy mit einer Krankenschwester reden, während die Sanitäter das Mädchen in ein Zimmer weiter unten im Gang bringen. An ihrem Arm hängt ein Infusionsbeutel. Niemand hält mich auf, als ich den Sanitätern hinterhergehe und in der offenen Tür stehen bleibe. Unter dem grellen Licht eines riesigen runden Strahlers liegt die Eisprinzessin auf einer braungrünen Liege und wirkt zerbrechlich und blass.

Plötzlich drängt mich ein Arzt energisch zur Seite. »Du musst jetzt das Zimmer verlassen«, sagt er ungeduldig und schließt hinter mir die Tür.

Sofort führt Billy mich den Gang hinunter, in einen Raum, der wohl ein Wartezimmer ist, aber außer uns ist niemand hier. Wie ein Sack Mehl plumpse ich auf den unbequemen blauen Plastikstuhl, wo ich mit brennenden Augen regungslos sitzen bleibe.

Nach einer Weile drückt mir jemand einen Becher Tee in die Hand, der fürchterlich nach Pappe schmeckt.

Mir gehen unzählige Dinge durch den Kopf: dass ich Edgar und Tennessee frisches Wasser geben muss, dass Schneewittchen im Märchen eigentlich vergiftet wurde; ich frage mich, ob Elsa jetzt nie wieder Sandalen tragen wird und ob sie die Eisprinzessin kennt – das alles wirbelt in einem bunten Strudel aus Bildern durcheinander.

Als das laute Ta-tamm meines Herzens selbst diesen Gedankenstrom übertönt, frage ich Billy misstrauisch: »Was haben Sie eigentlich im Moor gemacht?«

»Habe ich das nicht schon gesagt?«

Ich weiß es nicht mehr.

»Ich habe vor ein paar Jahren die alte Schäferei aufgekauft, die noch hinter dem Grundstück deiner Großmutter liegt.«

»Ich dachte, da kommen nur noch Felder …«

»Das war viele Jahre so, aber es wurde jemand gesucht, der sich um das Moor kümmert. Das nachwachsende Gehölz muss entfernt werden. Die Schafe helfen mir dabei, die Vegetation kurz zu halten.«

Es ist ein merkwürdiger Gedanke, dass das Moor Hilfe braucht. Es war doch schon immer da.

Als könne er meine Gedanken lesen, erklärt er: »Es gibt nicht mehr viele Hochmoore bei uns, deswegen müssen wir uns um die restlichen kümmern.«

»Aha«, sage ich und sehe zur Tür, durch die noch immer niemand gekommen ist.

Wie viel Zeit wohl vergangen ist? Ich stelle den halb leeren Becher auf den Boden unter den Stuhl. Die Sohlen meiner Stiefel quietschen auf dem Linoleum, während mein Schatten sich zu meinen Füßen krümmt und zittert. Billys dagegen wirkt groß und selbstbewusst und an der Stelle, die sein Knie abbildet, berührt sein Schatten meinen.

Ich rücke ein Stück ab.

»Du musst keine Angst vor mir haben«, sagt er leise mit tiefer Stimme, »wer immer das auch getan hat, ich war es nicht. Es war Zufall, dass ich gerade dort im Moor unterwegs gewesen bin. Wegen des Schafes …«

Möglich.

Zum ersten Mal sehe ich ihn mir genauer an. Er ist ungefähr in Mutschs Alter und auf so eine altmodische Art gut aussehend. Kinnlange braune Locken, die im Licht der Neonlampen glänzen, einfaches helles Baumwollhemd und schwarze Cordhose. Er hat schmutzige Hände. Ist es wirklich nur Erde, die an ihnen klebt?

Ohne zu blinzeln, starre ich nach unten und bin mir seiner Nähe überdeutlich bewusst, denn ich kann seine Schuhe neben meinen sehen, genauso schlammbespritzt. Von der Tür aus führen Dreckspuren zu uns.

»Alles in Ordnung mit dir?«

Ich nicke, denn meiner Stimme traue ich nicht.

Mutsch sagt immer, man kann das Böse nicht an seinem Äußeren erkennen – aber vielleicht das Gute? Vielleicht an der Art, wie er mich jetzt ansieht, offen und scheinbar ernsthaft besorgt?

»Die Polizei wird dir ein paar Fragen stellen wollen«, erklärt er. »Das Krankenhaus hat sie informiert, sie werden irgendwann hier sein und auch den Tatort untersuchen.«

Darauf kann ich nichts erwidern und wieder schweigen wir. Ich habe keine Ahnung, wie lange wir so sitzen, etwas später beginnt Billy auf und ab zu gehen wie die eingesperrten Großkatzen im Zoo. Ein paar Mal geht er auf den Gang hinaus, doch ich bleibe, wo ich bin, die Tür im Blick, die blauen Stühle rechts und links neben mir an der Wand wie Raben auf einer Oberleitung aufgereiht. Jedes Mal, wenn er zurückkehrt, bringt er mir etwas anderes mit, das ich auf den Platz neben mir lege und nicht anrühre. Eine Zeitung, einen Schokoriegel; einmal höre ich ihn auf dem Gang mit jemandem reden, der ihn fragt, an welcher Stelle im Moor er das Mädchen gefunden hat. Mit gepresster Stimme erklärt er, dass ich es war, die das Mädchen als Erste gesehen hat, und wo die Polizisten mit ihrer Suche beginnen müssen. Sie sollen sich an meine Großmutter wenden und von dort aus ins Moor gehen. Daraufhin entbrennt ein Streitgespräch, denn er will nicht, dass sie mich jetzt befragen. Er sagt: in meinem Zustand.

Ich weiß nicht, was er damit meint, aber als ich auf meine Finger schaue, die sich in den Stoff der Hose gekrallt haben, komme ich mir selbst ein bisschen fremd vor. Als hätte ein Alien die Steuerung über meinen Körper übernommen und ich schaue von außen zu, wie mein Körper sich bewegt.

Es vergeht eine ganze Weile, bis uns eine weitere Krankenschwester mitteilt, man hätte in der Hosentasche des Mädchens ein Handy gefunden und darüber die Familie angerufen. Sie sagt, dass der Name des Mädchens Nina ist, und plötzlich hat die Eisprinzessin einen Namen, und ich frage mich, was aus ihr wird, wenn sie erwacht.

Feen verwandeln sich in Amazonen, aber was wird aus Prinzessinnen?

Die Zeit dehnt sich wie ein Gummiband. Innerhalb dieses Raums gibt es nur Billys tiefe Atemzüge und meinen Schatten, der misstrauisch seinen belauert. Auf einmal wundere ich mich gar nicht mehr, dass Großmutter uns nach Elsas Überfall nicht angerufen hat. Ich kann mir nicht vorstellen, jetzt irgendwen anzurufen. Wie sollte ich in Worte fassen, was mir durch den Kopf geht?

Irgendwann sage ich zu Billy: »Ich gehe mir noch einen Becher Tee holen«, obwohl der zu meinen Füßen immer noch halb voll ist, und er drückt mir wortlos zwei Euro in die Hand, denn ich habe ja gar kein Geld dabei. Mein Portemonnaie liegt auf dem Küchentisch, weil Mutsch sich am Morgen von mir Kleingeld zum Einkaufen geborgt hat. Ob sie meine Nachricht schon gehört hat? Oder sitzt sie immer noch mit ihrer Freundin im Café und trinkt Radler?

Der Flur ist beinahe leer, suchend sehe ich mich um. Wahrscheinlich mache ich einen recht verwirrten Eindruck, denn nach einer Weile spricht mich ein Pfleger an, der wissen will, ob er mir irgendwie helfen kann. Ich lasse mir den Getränkeautomaten zeigen, und der Blick des Mannes wird ganz mitleidig. Keine Ahnung, ob wegen des Tees, den ich in mich reinschütten will, oder weil er weiß, dass ich hier bin, um auf jemanden zu warten.

Vermutlich sieht er jeden Tag Dutzende Leute, die verzweifelt an diesem Automaten stehen und darauf warten, dass ihnen irgendwer mitteilt, wie es ihren Liebsten geht.

Wie betäubt, die Hand schon am Geldschlitz, stehe ich vor der blinkenden Maschine und kann mich nicht entscheiden, ob ich statt Papptee doch lieber Pappkaffee will oder ob ich die Gelegenheit ergreifen und mich aus dem Staub machen sollte, um Billys Aufmerksamkeit zu entfliehen. Wieder friert die Zeit ein, bis mir jemand sanft das Geldstück aus den Fingern nimmt und es in den Schlitz steckt. Ein Finger drückt auf eine der vielen leuchtenden Tasten, und schon gurgelt das Wasser durch den Automaten.

Langsam drehe ich den Kopf zur Seite.

Und halte die Luft an.

Neben mir steht ein Junge. Wahrscheinlich so alt wie ich, vielleicht ein bisschen älter. Kaum größer als ich. Braunes Haar fällt ihm in die Stirn, nicht gerade mein Lieblingslook. Aber das ist vollkommen egal, denn sein Gesicht ist das eines Hexers – ein Blick genügt und ich bin gebannt.

Es ist fein geschnitten, beinahe zart, mit großen grauen Augen, ein dunkler Ring in der Iris fasst das Nebelgrau ein. Mit seiner Statur könnte er leicht zur Zielscheibe für die Schulidioten werden, sportlich, allerdings eher klein; aber ich bin mir sicher, dass ihm noch nie jemand den Rucksack von der Schulter gestoßen hat. Denn in diesem Blick liegt eine Unnachgiebigkeit, die wie ein Schutzwall wirkt.

Schnappend hole ich Luft und sehe hastig zur Seite. Doch es ist zu spät, sein Gesicht hat in mir eine seltsame Empfindung ausgelöst, beinahe schmerzhaft, und ohne es zu wollen, muss ich ihn wieder ansehen. Blasse Sommersprossen auf der Nase, volle Lippen und schneeweiße Haut, die so weich aussieht wie Pulverschnee.

Wie Eis.

Plötzlich weiß ich, wer er ist, ohne dass er auch nur ein einziges Wort sagen muss, denn diese seltsame Schönheit habe ich schon einmal gesehen.

Er ist Ninas Bruder. Er muss es einfach sein.

Noch immer sagt er nichts, steht nur da, die Hände in den Jeanstaschen, und sieht mich auf diese rätselhafte Weise an. Er muss mich für verrückt halten.

Um den Hals trägt er ein Lederband mit einem Silberanhänger. Sein weißes Hemd mit den feinen hellblauen Karos steht ein paar Knöpfe offen, darunter trägt er ein einfaches T-Shirt, und meine Fingerspitzen zucken, denn ich würde ihn gern berühren, sehen, ob seine Haut so zart ist, wie sie aussieht.

Erschrocken weiche ich einen Schritt zurück, weil ich mich selbst kaum wiedererkenne. Was soll ich zu ihm sagen? Weiß er, dass ich es war, die seine Schwester gefunden hat? Warum steht er jetzt neben mir, müsste er nicht bei ihr sein? Vielleicht kann er es auch nicht ertragen, einfach nur rumzusitzen und zu warten, wenn sich gerade die ganze Welt auf den Kopf gestellt hat.

Da sagt er plötzlich: »Dein Tee«, und selbst seine Stimme klingt sanft.

»Was?«

»Tee.« Er deutet auf den Pappbecher, der hinter der Luke vor sich hin dampft und die Glasscheibe beschlägt. Wie hypnotisiert greife ich danach und trete den Rückzug an.

Panisch überlege ich, was ich zu ihm sagen soll. Dass es mir leidtut? Was soll das schon bringen?

»Tobi!«, klingt es da vom Ende des Flurs, und er wirft einen kurzen Blick über die Schulter. Dort steht ein Mann, hochgewachsen und schmal, mit dunklem, beinahe schwarzem Haar und heller Haut. Seine steife Haltung erinnert mich an Großmutter, wenn sie wieder einmal auf uns herabsieht. Der Mann winkt ungeduldig, und der Junge – Tobi – geht langsam zu ihm zurück, doch nach ein paar Schritten dreht er sich noch einmal um, und in diesem Augenblick weiß ich, dass ich sein Gesicht nie wieder vergessen werde.

Dieser Bann ist für immer.

Aufgewühlt laufe ich den Gang entlang, bis ich in das Zimmer stolpere, in dem Billy noch immer auf mich wartet. Dabei schwappt mir heißer Tee über die Finger.

»Mist!«, entfährt es mir. Ich setze mich wieder auf meinen alten Platz, Pappbecher Nummer zwei leistet seinem Vorgänger zwischen den Stuhlbeinen Gesellschaft, und auch mein Schatten ist zurück, hockt wieder zusammengeschrumpft zwischen meinen Füßen wie ein Häufchen Elend.

»Die Polizei war da«, sagt Billy. »Sobald deine Mutter hier ist, um dich abzuholen, würde gern ein Beamter mit dir reden.«

»Sie müssen nicht bei mir bleiben. Ich komme klar.«

»Schon okay so.«

Er wird nicht gehen, da bin ich mir sicher. Ich sage mir, dass die Polizei ihn wahrscheinlich nicht mit mir allein in diesem Raum gelassen hätte, wenn sie wirklich glauben würden, dass er der Täter ist, oder? Irgendwie fehlt mir mehr und mehr die Kraft, um ängstlich zu sein, denn auf einmal bin ich erschöpft wie nach einem stundenlangen Waldlauf. Ich stütze einen Fuß auf die Sitzfläche und lege das Kinn aufs Knie. Für eine Weile schließe ich einfach die Augen, denke an den geheimnisvollen Jungen, und lausche den Geräuschen, die vom Flur zu uns hereindringen.

So sitzen wir da, bis ich meinen Namen höre und Mutsch ins Zimmer gestürmt kommt. Inzwischen schaffe ich es nicht einmal mehr aufzustehen, deshalb strecke ich ihr nur die Arme entgegen und lasse mich in ihre Umarmung fallen. Sie rutscht auf den Platz neben mir, und ein paar Augenblicke lang halten wir uns fest umschlungen. Dann macht sie sich vorsichtig von mir los und legt mir die Hand an die Wange.

»Alles in Ordnung?«, fragt sie, und wieder einmal nicke ich, als wäre das die einzige Art, in der ich sprechen könnte.

Skeptisch huscht ihr Blick über mein Gesicht, wahrscheinlich bin ich ganz käsig und hab Dreck auf den Wangen, aber wenigstens blute ich nicht. Mütter sind für so was ja schon dankbar. Ich grinse schief, aber sie runzelt nur die Stirn, weshalb ich es lieber bleiben lasse.

Als Mutsch aufsieht, entdeckt sie Billy, der aufgestanden ist und uns etwas unschlüssig beobachtet. Sie gibt ihm nicht die Hand. Stattdessen sieht sie ihn mit einem Blick an, mit dem sie Eisen schneiden könnte. Das letzte Mal, als sie jemanden auf diese Weise angesehen hat, wollte sie von Herrn Jochen wissen, ob sie erst unseren Bullterrier auf ihn hetzen soll, bevor er endlich die Rechnung begleicht, die sie ihm gestellt hat. Dabei haben wir gar keinen Hund. Aber das hat Herr Jochen schließlich nicht gewusst.

»Hallo, Billy«, sagt sie kühl, und er antwortet: »Susan.«

»Ihr kennt euch?« Überrascht sehe ich zwischen ihnen hin und her, und widerwillig nickt Mutsch. Mich überkommt ein komisches Gefühl, so wie sie sich ansehen.

»Wenn ihr irgendwie Hilfe braucht …«, fängt Billy an, aber da springt Mutsch auch schon auf und zieht mich vom Sitz, wobei ich mit der Fußspitze einen Becher umschmeiße. Der Tee läuft in einem kleinen Rinnsal über den Boden, aber das kümmert Mutsch nicht.

»Danke, wir kommen schon zurecht«, murmelt sie, und ich stehe ein bisschen hilflos da, weil ich noch irgendwas Nettes zu Billy sagen will, immerhin hat er mir geholfen und ist die ganze Zeit bei mir geblieben. Und irgendwie schäme ich mich auch, dass ich trotzdem noch nicht genau weiß, ob ich ihm vertraue.

»Die Polizei will mit ihr reden«, erklärt er Mutsch noch. »Der Typ wartet in der Cafeteria.«

»Okay, dann lass uns da hingehen, ich will dich so schnell wie möglich nach Hause bringen. Schaffst du das, Harper?«

»Ich bin nicht überfallen worden, Mutsch«, wende ich ein, woraufhin sie nur »Mhm« brummt und mich erneut kritisch mustert.

Ich drehe mich zu Billy um. »Ich …«

»Schon gut.« Er lächelt. »Du musst mich nicht siezen, sag ruhig Billy.«

»Danke, dass du ihr geholfen hast«, sagt Mutsch förmlich, bevor sie noch einmal nickt und mich eilig aus dem Zimmer und den Gang entlangschiebt, als wolle sie möglichst viel Abstand zwischen uns und Billy bringen.

»Du warst ganz schön unhöflich«, flüstere ich, damit er uns nicht aus Versehen hört, aber sie erwidert nur trocken: »Er verträgt’s.«

»Hast du was gegen ihn?«

Sie zieht die Augenbrauen zusammen. »Du hältst dich besser von ihm fern.«

»Ist er irgendwie gefährlich?«

»Na, er ist jetzt kein Psychopath oder so.« Sie wirft mir einen kurzen, entschuldigenden Blick zu. »Aber hast du etwa den Eindruck gewonnen, dass wir uns besonders gut verstehen?«

»Nein«, gebe ich ehrlich zu, und Mutsch hebt die Hand, als wolle sie sagen: Na siehst du.

»Du wirst mir wahrscheinlich nicht verraten, warum du ihn nicht leiden kannst, oder?«

»Nein.«

»Aber gefährlich ist er nicht?«

»Nein.«

»Ich dachte immer, wir erzählen uns alles?«, bohre ich nach. »Ist das nicht der Deal? Du weißt schon, von wegen, wir gegen den Rest der Welt, Mutter und Tochter, blabla …«

»Das gilt selbstverständlich nicht für Dinge, die viel zu kompliziert sind, um sie in zwei Sätzen zusammenzufassen.«

»Mit anderen Worten, du willst nicht darüber reden.«

»Ganz genau.« Sie reckt das Kinn in die Höhe.

»Dir ist schon klar, dass diese Geheimnistuerei total blöd ist und außerdem nur dafür sorgt, dass ich noch neugieriger werde.«

»Glaub mir, es gibt da wirklich überhaupt nichts, was deine Neugierde lohnen würde.«

»Manchmal frage ich mich, wer von uns beiden die Erwachsene ist.« Ich schüttle den Kopf und lächelnd legt sie den Arm um mich.

»Zweifellos du, Darling«, ist ihre Antwort. »Du hast deine Pubertät längst hinter dir gelassen und bist gleich zu einem anstrengenden Erwachsenen geworden.«

»Danke, Mutsch.«

»Gern geschehen.« Sie grinst und schiebt die Tür zur Cafeteria auf, hinter der sich ein weiter lichtdurchfluteter Saal eröffnet, in dem es nach Kantinenessen riecht.

Ein Mann winkt uns an seinen Tisch, der in der Nähe der Essensausgabe steht. Ich habe nicht die geringste Ahnung, woher der Polizist weiß, wer wir sind, aber offenbar kennt er mein Gesicht. Vor ihm liegen ein Block und ein Handy in einer pinkfarbenen Schutzhülle.

»Das ist von meiner Tochter, meines ist kaputt«, sagt er, als er meinen Blick bemerkt. Er ist ein Mann mittleren Alters, dessen Bauchansatz sein kariertes Hemd bereits beachtlich spannt. Das hält ihn aber nicht davon ab, eine chemiegrüne Götterspeise mit Dosenmandarinen in sich hineinzulöffeln, während er sich meine Antworten notiert.

Meinen Namen lässt er sich buchstabieren, aber da ist er nicht der Erste. Die meisten Leute wissen eben nicht, dass es der Name einer amerikanischen Autorin ist. Sie halten mich für einen türkischen Jungen, wenn sie den Namen auf dem Papier sehen. Schon viermal hat man mich deswegen im Ferienlager in den falschen Schlafraum gepackt. Großmutter ist er selbstverständlich auch ein Dorn im Auge.

Sie hat nie verstanden, dass Mutsch in Wirklichkeit in ihre Bücher verliebt ist. Mit den technischen Übersetzungen verdient sie nur Geld, aber überall in unserer Wohnung liegen die Bücher ausländischer Autoren – die meisten davon sogar schon tot und genauso angestaubt wie ihre Werke. Mutsch liebt sie trotzdem, auch wenn sie Dostojewskis Brüder Karamasow als Unterlage für den Brotkasten benutzt. Vermutlich habe ich noch Glück gehabt, denn sie liebt auch Truman Capote und sein Frühstück bei Tiffany, aber ich sehe weder wie ein Truman aus noch fühle ich mich wie eine Tiffany.

Vor allem jetzt nicht, wo mich dieser Polizist mit seinem Blick zu durchbohren versucht und dabei seine Götterspeise löffelt. Er erzählt uns, dass Billy gerade mit einem anderen Beamten ins Moor fährt, um über den Fundort zu reden. Ich bin froh, dass niemand von mir verlangt hat, mitzukommen, denn ich glaube nicht, dass ich das jetzt könnte.

Der Mann will ganz genau von mir wissen, was ich gesehen habe. Davor, danach, währenddessen – und stellt dieselben Fragen nur mit anderen Worten immer wieder. Mit jeder sich wiederholenden Frage werde ich unruhiger und beginne, mit den Fingern auf der Tischplatte zu trommeln, bis Mutsch nach meiner Hand greift.

Ich will schon fast aufstehen, da fällt mir plötzlich doch noch etwas ein. Hektisch krame ich in meiner Hosentasche nach dem Zettel, der inzwischen total zerknittert ist, und lege ihn auf den Tisch, sodass wir alle drei lesen können, was darauf geschrieben steht.

Ich höre Mutsch scharf Luft holen, und der Beamte sagt ungehalten: »Das ist Beweismaterial«, wobei sein Blick vorwurfsvoll zwischen dem Stück Papier und mir hin und her wandert, als er es mit einem Stift in eine Plastiktüte manövriert, ohne es mit den Fingern zu berühren, um keine weiteren Fingerabdrücke zu hinterlassen.

»Es ist also derselbe Täter wie bei Elsa«, stellt Mutsch fest. »Bei Elsa hat er doch auch so ein Märchenzitat hinterlassen, nicht wahr?«

»Schon eigenartig, dass ausgerechnet Ihre Tochter das Mädchen gefunden hat, finden Sie nicht? Wenn man die Sache mit Ihrer Nichte bedenkt … Vielleicht gibt es zwischen den Mädchen eine Verbindung.«

Glaubt er etwa, die ganze Sache hat irgendetwas mit uns zu tun?

Aber Nina gehört nicht zur Familie.

»Elsa hat gestern einen Anruf bekommen …«, sage ich leise. »Ich habe nicht alles verstanden, aber ich glaube, der Anrufer hat sich darüber lustig gemacht, dass sie nicht mehr Ballett tanzen kann. Es war ganz eigenartig …«

»Hast du die Stimme erkannt?«

Ich schüttle den Kopf. »Sie klang irgendwie verzerrt.«

»Warum hast du denn das nicht erzählt?«, fragt mich Mutsch.

»Weil Elsa behauptet hat, es wäre nur ein Idiot.«

»Ganz schön viel Aufwand, um jemandem nur ein paar blöde Sprüche übers Telefon zu schicken«, wendet der Polizist ein, während er sich eine Notiz auf seinem Block macht. »Wir werden der Sache auf jeden Fall nachgehen.«

Er stellt weitere Fragen, diesmal zu Billy und wie ich ihm im Moor begegnet bin, während Mutsch grübelnd die Stirn runzelt. Mir gefällt ihr Gesichtsausdruck nicht.

Unter dem strengen Blick des Polizisten komme ich mir fast selbst wie ein Verbrecher vor, er weigert sich, uns irgendwelche näheren Auskünfte zu allem zu geben, weil er die Ermittlungen nicht gefährden will, und so haben wir keine Ahnung, ob er uns nur aus Routine so ausführlich befragt, oder weil er irgendeiner Sache auf der Spur ist.

Nachdem die Befragung endlich vorbei ist und der Beamte uns mit einem knappen Nicken entlässt, verlassen wir beinahe fluchtartig die Cafeteria. Mitten auf dem Gang beugt sich Mutsch plötzlich zu mir und nimmt mich in die Arme. Eine Ewigkeit lang bleiben wir so stehen, und es ist mir egal, wer uns sieht und wer an uns nicht vorbeikommt. Denn mit einem Mal bin ich mir ziemlich sicher, dass der Täter noch in der Nähe war, als ich Nina gefunden habe. Das Knacken waren sicher seine Schritte auf dem Torf, es liegt ja genug Geäst rum – und diese Gewissheit jagt mir Angst ein, als könne ich seinen Atem in meinem Nacken spüren.

Als Mutsch mich loslässt, murmelt sie: »Mein Gott, bin ich froh, dass dir nichts passiert ist.«

»Unkraut vergeht nicht, weißt du doch.« Ich grinse schief, aber sie schnieft trotzdem, und in ihren Augen glitzert es verdächtig.

»Mag sein, aber ich hab doch nur dich, Harper. Wenn ich ein paar von deiner Sorte hätte, käm’s ja auf eine nicht so drauf an, aber so …«

Mit zitternden Knien wackeln wir auf den Ausgang zu. Vor dem Krankenhaus stehen schon Reporter mit Mikrofonen, aber zum Glück wissen sie nicht, wer wir sind, und so können wir unbemerkt an ihnen vorbeischlüpfen.

Billy sehen wir nicht noch einmal, dabei wüsste ich gern, was er der Polizei erzählt hat. Und um ehrlich zu sein, auch ein bisschen, was die Polizei davon hält, denn so hundertprozentig vertrauen kann ich ihm nicht. Immerhin ist das schon ein ganz schön großer Zufall, dass er da im Moor war. Genau an dieser Stelle, zu dieser Stunde …

Während wir auf den Parkplatz zugehen, frage ich mich, ob Ninas Augen die gleiche Farbe haben wie die ihres Bruders?

Ob sie die Leute damit auch verhexen kann?

Bei dem Monster, das sie angegriffen hat, ist es ihr jedenfalls nicht gelungen. Vielleicht, weil Monster in ihrem Innern sowieso nichts mehr fühlen können …