Elsa ist zierlich, die reinste Fee. Dunkelblondes Haar, große tintenblaue Augen und Handgelenke so dünn wie Hühnerknochen. Sagt sie jedenfalls selbst darüber. Niemand hat je daran gezweifelt, dass sie eines Tages die Hauptrolle in Schwanensee tanzen wird, genau so wie sie es im Alter von vier Jahren während ihrer ersten Ballettstunde in die Welt krakeelt hat. Seit Jahren trainiert sie wie besessen dafür.
Aber irgendwie ist aus der Schwanenprinzessin plötzlich eine Amazone geworden.
Zierlich ist sie zwar immer noch, aber das feine, lange Feenhaar ist verschwunden und hat einem kurzen, fransigen Durcheinander Platz gemacht, das aussieht, als hätte sich Elsa die Haare selbst geschnitten.
Ohne Spiegel und mit einer stumpfen Schere.
Die zarten Blumenkleider, die bisher ihren Ballerinakörper umweht haben, sind einer alten, löchrigen Jeans und einem karierten Hemd mit roten Flecken gewichen. Mit derselben rostroten Farbe hat sie sich eine Maske um die Augen gemalt, die ihr Gesicht zu einer Furcht einflößenden Fratze macht.
»Mein Gott, was hast du jetzt wieder angestellt?«, entfährt es Großmutter bei diesem Anblick, doch Elsa zuckt nur mit den Schultern, als wäre ihr Aufzug vollkommen normal. Ihre blauen Augen funkeln in dem wild gewordenen Rot.
»Das ist nur Wasserfarbe«, sagt sie ruhig. »Ich male.«
»Mit dem Gesicht?«, frage ich, aber auch das erntet nur ein weiteres Schulterzucken.
»Was ist denn passiert?«, will Mutsch wissen und deutet auf den Verband, der bei Elsa kein seltener Anblick ist. Blaue Zehen, Schwellungen und abgebissene Fingernägel gehören ebenso zu ihrem harten Ballettalltag wie ein strenger Ernährungsplan. Ich glaube, sie hat keinen Quarkkuchen mehr gegessen, seit sie in die Schule gekommen ist. Tante Luise passt auf wie ein Luchs, dass wir ihr zum Geburtstag keine Süßigkeiten schenken. Und selbst an Weihnachten muss Elsa alle Schokoladenmänner abgeben, die sie bei irgendwelchen Feiern oder in Geschäften geschenkt bekommt.
Auf Mutschs Frage senkt sich eine drückende Stille über die Küche, und die einzigen Geräusche, die wir hören, sind der Regen, der gegen die Fenster trommelt, das Donnergrollen und unser angestrengtes Atmen.
»Elsa ist überfallen worden«, sagt Großmutter nach einer Weile leise. »Vor einigen Wochen …« Sie atmet ein paar Mal tief durch, als würde ihr das Sprechen schwerfallen, und geht zum Büfettschrank hinüber, um einen Zettel aus der obersten Schublade herauszuziehen, die wieder einmal klemmt, weil sich das Holz in der feuchten Luft verzogen hat. Von meinem Platz aus kann ich sehen, dass ihre Finger zittern, als sie an der Schublade ruckelt.
Der Zettel entpuppt sich als zerknitterter Zeitungsausschnitt, den sie Mutsch mit der Spitze ihres Zeigefingers über den Tisch schiebt, als wäre er giftig.
Die ganze Zeit über bleibt Elsa regungslos neben mir stehen, aber ich kann die Wärme, die von ihr ausgeht, auf meinem Arm spüren. Amazonenfeuer, denke ich, und wie bestellt dringt wieder ein leises Fiepen aus dem Käfig, um die Stimmung noch ein bisschen dramatischer zu gestalten.
Elsa hat die Hände in den Hosentaschen zu Fäusten geballt und lässt Mutsch nicht aus den Augen, als diese den Artikel liest und ihr Gesicht dabei erst weiß und dann rot wird. Beunruhigt stelle ich mich hinter sie, um über ihre Schulter mitzulesen.
… bewusstlose 14-Jährige am Rand des Geißelmoors … erst betäubt und ihr dann mit einem Skalpell … die große Zehe des linken Fußes amputiert …
Weiter komme ich nicht, denn mein Blick richtet sich wie ferngesteuert auf den Verband an Elsas Fuß, und die Kälte aus meinem Magen kriecht plötzlich auf mein Herz zu, das hart gegen die Rippen schlägt.
»Das kann doch nicht wahr sein …«, presst Mutsch hervor und springt auf. Dabei wirft sie den Stuhl um, der krachend zu Boden fällt. Aber das kümmert sie nicht, denn sie stürzt auf Elsa zu und nimmt sie fest in die Arme, als könne sie nur mit ihrem Körper alles Schlechte in der Welt von ihr abwenden – während ich noch immer starr und stumm neben ihnen stehe. Fassungslos darüber, dass etwas so Ungeheuerliches ausgerechnet Elsa passiert sein soll.
Das hört man doch sonst nur in den Nachrichten; es geschieht einem nicht selbst oder den Leuten, die einem nahestehen …
Auch Großmutter scheint nicht so recht zu wissen, was sie sagen soll, denn sie setzt sich trotz des Rattenkäfigs an den Küchentisch und stützt den Kopf in die Hände. Auf einmal sieht sie alt aus. Aus der strengen Wächterin dieses Anwesens ist eine erschöpfte Greisin geworden, deren Haar schlohweiß ist. Ich habe sie noch nie so hilflos gesehen.
»Wer macht denn so etwas?«, flüstert Mutsch in Elsas Amazonenhaar, und nur zögernd löst sie sich von ihr, um ihr Gesicht in beide Hände zu nehmen. Tapfer lächelt sie auf Elsa herab, aber die erwidert das Lächeln nicht. »Ich … kann das gar nicht begreifen …«
»Die Polizei tappt noch im Dunkeln«, berichtet Großmutter weiter. »Man weiß nicht viel mehr, als in der Zeitung stand. Er war sehr vorsichtig …« Mit bebender Stimme bricht sie ab, aber Elsa redet für sie weiter, nüchtern und distanziert, so als würde es gar nicht um sie, sondern um irgendein fremdes Mädchen gehen.
»Es ging zu schnell. Er ist von hinten gekommen und hat mir einen Lappen aufs Gesicht gedrückt. Mit Chloroform … wie in den alten Krimis, die Paps so gerne guckt. Aber der Täter muss sich damit ausgekannt haben, weil …« Sie deutet mit der Hand auf den bandagierten Fuß. » … wegen der Amputation. Ich bin ja nicht verblutet oder so.«
Bei dem Wort Amputation erfasst die kriechende Kälte endgültig mein Herz, das sich schmerzhaft zusammenzieht. Ich kann mir nicht vorstellen, warum irgendjemand Elsa überfallen und ihr etwas so Schreckliches antun sollte. Sie ist der reinste Sonnenschein, aber nicht auf diese gefakte Art. Nein, Elsa ist echt. Sie hat nie ein schlechtes Wort über irgendwen verloren. Es gibt niemanden, der sich ihrem Feencharme entziehen kann.
Dachte ich jedenfalls bis heute.
»Hatten wir nicht vereinbart, dass wir nicht mehr über diese Sache reden wollen?«, kommt es da plötzlich von der Tür, und wie auf Kommando drehen wir die Köpfe.
Mit verschränkten Armen lehnt Tante Luise am Türrahmen, die Mundwinkel nach unten gezogen, der Blick ihrer blauen Adleraugen anklagend auf Elsa gerichtet. Sie ist barfuß, weshalb sie niemand kommen gehört hat. Ihr einfarbiges rotes Kleid zeigt, wie schlank sie ist, und obwohl sie Mutsch ziemlich ähnlich sieht, weil sie Schwestern sind, ist alles an ihr ein bisschen gerader: das Haar, die Nase und auch die Haltung.
»Wieso habt ihr uns denn nicht angerufen?«, will Mutsch von ihr wissen, ohne Guten Tag zu sagen. Dass sie auf Krawall gebürstet ist, kann ich beinahe riechen.
»Was hättest du denn machen wollen?«, erwidert Tante Luise ungehalten, während sie näher tritt und missmutig auf den Käfig schaut, in dem sich langsam etwas regt. »Es ist ja nicht mehr zu ändern. Wir können nur hoffen, dass die Polizei den Täter schnell findet, damit er nicht noch weiteres Unglück über andere Leute bringt.«
»Wie kannst du das nur so abtun, Luise?« Ein bisschen hilflos schaut Mutsch zu Elsa, der das ganze Gespräch unangenehm zu sein scheint, denn sie sieht aus wie ein Tier in der Falle. Hektisch huscht ihr Blick hin und her auf der Suche nach einem Fluchtweg. Dabei ähnelt sie ein bisschen Edgar, wenn ich ihn in einer unbekannten Umgebung aus dem Käfig nehme.
»In einer Familie sollte man über solche Sachen doch Bescheid wissen.« Mutsch lässt nicht locker und wird nun lauter: »Das ist doch keine Kleinigkeit!«, woraufhin Elsa mich bei der Hand nimmt und aus der Küche zerrt. Schon erheben sich hinter uns die Stimmen in einem wütenden Wirbelsturm, gegen den das Gewitter draußen wie eine sanfte Brise wirkt.
Keine drei Minuten hat es gedauert, bis sich Tante Luise und Mutsch wieder in die Wolle kriegen. Das ist schnell. Selbst für sie und dafür, dass sie im Streiten miteinander einige Erfahrung haben.
Tante Luise ist sechs Jahre älter als Mutsch, aber natürlich hat sie mit dem Kinderkriegen gewartet, bis sie verheiratet gewesen ist. Sie ist nicht einfach mit siebzehn von zu Hause abgehauen und war mit achtzehn schwanger, nein, Tante Luise hat alles genau so gemacht, wie es Großmutter für richtig hält. Sie hat eine ordentliche Festanstellung, einen ordentlichen Ehemann und eine hochbegabte Tochter, die sie auch nie in einer Fliegerjacke und Springerstiefeln herumlaufen lassen würde. Weil Elsa eben etwas Besonderes ist und das auch alle wissen sollen. Seit ich denken kann, heißt es in unserer Familie immer: Elsa wird es mal zu etwas bringen. Über mich sagt das keiner, aber das macht mir nichts, weil ich mir immer denke, dass wir ja nicht alle solche Überflieger sein können, sonst wäre das Besondere ja nur noch das Normale.
»Gehen wir in mein Zimmer«, sagt Elsa mitten in meine Gedanken hinein und zieht mich mit in den anderen Flügel des Hauses. Hinter uns schwingen die beiden Türblätter sanft hin und her, während wir den langen Flur entlanggehen, an dessen Wänden sich im Licht der alten Lampen unsere Schatten bilden und uns hinterherkriechen. Durch den Verband sieht Elsas Schatten wie ein groteskes Ungeheuer mit Klumpfuß aus. Trotzdem ist sie erstaunlich schnell, dafür, dass sie die Verletzte ist und ich die Gesunde.
Auf dem schwarz-weißen Fliesenboden quietschen die feuchten Sohlen meiner Stiefel unangenehm in der drückenden Stille des Hauses, und irritiert fragt Elsa über die Schulter: »Ist dir nicht zu warm in den Dingern?«
»Nö.«
Langsam steigen wir die breite, ausgetretene Treppe nach oben, wobei Elsa jede Stufe einzeln erklimmen muss, so wie es kleine Kinder tun, die noch nicht sicher laufen können. An der Wand neben der Treppe hängen alte Fotos von Familienmitgliedern, die schon lange vor meiner Geburt gestorben sind. Trotzdem kenne ich ihre Namen, weil Großmutter es wichtig findet, zu wissen, woher man kommt. Nur das Bild von Urgroßvater Heinz hängt nicht an der Wand, der hat nämlich noch als Scharfrichter gearbeitet.
Auf dem Treppenabsatz angekommen, muss Elsa erst einmal verschnaufen, bevor sie weitergeht, weil das Treppensteigen sie offenbar doch mehr schafft als das Laufen.
Ihr Zimmer liegt am Ende des Ganges, die weiß gestrichene Tür hat drei Klinken, die einem sofort ins Auge fallen. Eine ist aus Messing, eine aus lackiertem Holz und die dritte aus angelaufenem Silber. Aber nur eine davon funktioniert. Niemand kann sich mehr daran erinnern, wer sich diesen Spaß erlaubt hat, vermutlich Großonkel Hans, denn Großmutter behauptet, Mutsch hätte ihren eigenartigen Sinn für Humor von ihm. Ich hoffe sehr, dass sie nicht noch mehr von ihm geerbt und an mich weitergegeben hat, denn er war dick und hatte eine Glatze.
»Weißt du’s noch?«, fragt Elsa mich grinsend, als wir vor der Tür stehen, und deutet auf die Klinken, die schon ganz abgenutzt sind.
Zielsicher greife ich nach der untersten, der aus Messing. Es gibt ein quietschendes Geräusch, als sich die Tür öffnet – wie im Film, kurz bevor jemand aus einer dunklen Ecke springt – und ich trete in Elsas Reich ein.
Das ich kaum wiedererkenne.
Das Zimmer hat genau wie Elsa eine Wandlung durchgemacht. An der apfelgrünen Tapete zeigen sich helle Flecken, wo früher Poster mit Balletttänzern hingen. An einigen Stellen sind sogar noch die Ecken mit dem Klebeband zu sehen. An der Übungsstange, die an einer Wand befestigt ist, hängen jetzt Klamotten, und auch Elsas Pokale sind vom Fensterbrett verschwunden. Stattdessen liegen dort CDs und Schulhefte. Nichts erinnert mehr daran, dass sie getanzt hat.
Dafür liegen jetzt auf dem weinroten Teppich ein Dutzend Bilder mit wilden Farbklecksen; unzählige Pinsel stecken in einem schmutzigen Wasserglas, das gefährlich schief auf einem Stapel Bücher steht und jeden Moment abzustürzen droht.
»Ich dachte, ich probier mal was Neues aus«, sagt Elsa und schließt die Tür hinter uns. »Jetzt, wo ich nicht mehr tanzen kann.«
»Nein, wird es nicht. Die Zehe ist ab, wie soll ich da drauf stehen? Das mit dem Ballett hat sich erledigt.«
Was soll ich darauf antworten? Mutsch ist die, die gut mit Worten kann, ich bin eher die, die unüberlegt etwas tut. Deshalb ist sie ja auch Übersetzerin und ich nur mittelmäßig in Deutsch, weil ich ständig die Themen in meinen Aufsätzen verfehle.
Ich wünschte, ich hätte jemanden, der mir Elsas Blicke übersetzt, damit ich weiß, was ich sagen muss, um ihr zu helfen.
Aber Blickdolmetscher gibt es nicht, deshalb versuche ich es am Ende mit einem blöden: »Tut’s sehr weh?«
»Nicht mehr als sonst, wenn ich mir was verstaucht habe. Die Ärzte sagen, ich spüre meine Zehe vielleicht ein Leben lang. Phantomschmerz heißt das. Das passiert, wenn Leute ein Bein verlieren oder so. Es fühlt sich an, als wäre es immer noch da.« Sie legt den Kopf schief. »Komisch, was?«
Mir wird ganz schlecht. Bevor ich anfange zu heulen, hebe ich lieber eins der Blätter vom Boden auf.
»Sag nichts. Ich weiß, ich bin nicht besonders gut.«
»Nein, wohl nicht«, gebe ich ehrlich zu. »Was soll das sein?« Ich drehe das Blatt.
»Ursprünglich sollte es eine Katze werden, aber jetzt ähnelt es mehr einem fetten Wurm.«
»Ja, es hat keine Beine.«
Kichernd nimmt Elsa mir das Blatt aus der Hand und wirft einen mitleidigen Blick darauf. »Armes Ding, so wird sie keine Mäuse jagen können. Tja, sieht ganz so aus, als hätte ich nur dieses eine Talent gehabt. Singen kann ich jedenfalls auch nicht.«
»Du wirst bestimmt etwas Neues finden, das dir genauso viel Spaß macht.«
Auf einmal sieht sie mich unergründlich an, und für einen kurzen Moment ist der rot umrandete Blick ein Leuchtfeuer, das sich in mich hineinbrennt. Doch genauso schnell, wie es entflammt ist, erlischt es auch wieder. Dann lacht sie laut auf und wirft das Bild zur Seite, und ich frage mich schon, ob ich mir diesen seltsamen Ausdruck in ihrem Gesicht vielleicht nur eingebildet habe.
Mutsch behauptet immer, ich hätte den Instinkt eines Tieres – ein sechster Sinn wie bei deinen Ratten – und der hat mir heute früh schon eingeflüstert, dass es ein seltsamer Tag werden wird. Genauso wie er mir jetzt sagt, dass hier irgendetwas merkwürdig ist.
Mit einem Schnaufen lässt sich Elsa aufs Bett fallen und sieht durch das Fenster nach draußen, wo der Regen inzwischen zu einer wahren Sintflut geworden ist. »Willst du wissen, was auf dem Zettel stand, den die Polizei bei mir gefunden hat? Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen.«
Verständnislos schaue ich sie an.
»Du weißt schon, Aschenputtel.«
»Das ist alles?«
Sie nickt. »Die Polizei vermutet, dass ich den Täter irgendwie verärgert habe und das Ganze seine Version von Kröpfchen ist. Und ich bin die Schlechte.« Sie lacht freudlos und sieht mich wieder an. »Natürlich haben die das so nicht gesagt, ich weiß das von Paps. Mutter will über den ganzen Vorfall am liebsten gar nicht reden, Paps dagegen …« Sie zuckt mit der Schulter, wie sie es schon die ganze Zeit tut. Es ist eine komische neue Angewohnheit. »Mir ist es auch lieber, wenn nicht so viel darüber gequatscht wird, ich meine, Ma hat schon recht, es ändert ja gar nichts dran.«
Ich kann nicht fassen, dass ich nicht gemerkt habe, was hier vor sich geht, als wir das letzte Mal am Telefon gesprochen haben. Das ist keine zwei Wochen her. Sie hat mir erzählt, dass sie sich neue Ohrringe gekauft hat, und ich hab mich aufgeregt, weil Edgar schon wieder zugenommen hat, obwohl ich versuche, ihm sein Fressen einzuteilen. Aber er wühlt eben so lange in den Sägespänen, bis er Tennessees Vorräte findet, weswegen sein Kugelbauch immer runder wird.
Mit keinem Wort hat Elsa etwas erwähnt.
Sie hat gelacht.
Und dabei habe ich immer gedacht, wir stünden uns nahe, denn bisher haben wir uns richtig gut verstanden. Wir mailen uns das ganze Jahr über Fotos und telefonieren, manchmal sogar stundenlang. Doch jetzt habe ich das Gefühl, sie entfernt sich von mir. Aber vielleicht ist das auch normal, wenn einem etwas Schlimmes passiert? Man versucht eben, darüber wegzukommen. Ich würde es an ihrer Stelle auch nicht mögen, wenn die Leute um mich herum plötzlich anfangen rumzustammeln und mich mitleidig anzusehen.
Als Elsa meinen grübelnden Blick auffängt, springt sie ungelenk auf und tritt neben mich. Lachend wirbelt sie mich zu dem großen weißen Kleiderschrank herum, dessen linke Tür ein fleckiger, halbblinder Spiegel ist, in dem sie früher ihre Übungen verfolgen konnte. Nebeneinander stehen wir davor und bilden ein seltsames Paar: ein Pilot und eine Amazone, beides so falsch wie Mutschs Haarfarbe.
»Ach, Harper …«, murmelt Elsa und legt das Kinn auf meine Schulter, während sie mir die Arme um den Bauch schlingt. Der Verband um ihren Fuß schabt über meinen Schuh, und ich habe das Gefühl, dass sie darauf wartet, dass ich etwas Bestimmtes sage. Aber ich komme nicht drauf, was. Deshalb lege ich meine Hände auf ihre Arme und drücke sie fest, genau wie Mutsch es immer macht, wenn sie mich trösten will, und erst nach einer ganzen Weile löse ich mich vorsichtig von Elsa. Ich drehe mich zu ihr um, weil ich ihr sagen will, dass es mir egal ist, ob sie noch tanzen kann oder nicht. Für mich wird sie immer eine Fee bleiben – schön und besonders –, aber da fällt mein Blick auf ihren Computer, der angestaubt auf dem Schreibtisch steht, und ich schließe den Mund.
Es ist ein klobiges, altes Ding, das noch mit Modem läuft, damit Elsa nicht zu viel auf YouTube schaut und stattdessen ordentlich Hausaufgaben macht. Auf dem breiten Monitor liegt ein altes, geflecktes Schneckengehäuse, von dem ich weiß, dass sie darin einen zusammengefalteten Zettel mit ihren Passwörtern versteckt hat, weil sie sich die nie merken kann. Bei diesem Anblick überfällt mich eine unbedeutende Erinnerung, die in meinem Gedächtnis plötzlich wie ein riesiges Reklameschild aufleuchtet.
Elsas Mailadresse.
Sie lautet: Cinderella@the_castle.de.
Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen …
Aschenputtel.
Was hat das zu bedeuten?
Doch bevor ich Elsa danach fragen kann, klingelt auf einmal ihr Handy. Irritiert sehe ich zu, wie sie erst auf das Display starrt und den Anruf dann mit einem grimmigen Stirnrunzeln annimmt. In der Stille des Zimmers ist die Stimme am anderen Ende so laut, dass selbst ich verstehe, was gesprochen wird.
Die Stimme klingt blechern, verzerrt, beinahe unmenschlich. »… nie wieder … das war’s, jetzt kannst du das Ballett vergessen …« Weiter kommt der Anrufer nicht, denn Elsa drückt ihn weg und wirft das Handy einfach aufs Bett.
Geschockt starre ich sie an. »Was war das?«
»Ach, irgend so ein Idiot, der sich wichtigmachen will, mach dir keinen Kopf deswegen.«
»Ist das zum ersten Mal passiert?«
»Nein, aber es hat wirklich nichts zu bedeuten. Ich mag jetzt nicht darüber reden. Komm, lass uns einen Film aussuchen.« Sie langt nach dem unsortierten Stapel DVDs, der neben dem Bett liegt, und liest mir die Titel vor.
Mit einem stechenden Gefühl im Magen setze ich mich neben sie.
Was geht hier nur vor?