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Der Countdown für die neue Helios-Rakete war wegen plötzlicher Nebelbildung unterbrochen worden. Millionen Menschen in aller Welt warteten ungeduldig an ihren Fernsehgeräten. Das allgemeine Interesse am Gelingen oder Scheitern des vierten Startversuchs war ungeheuer. Die Tatsache, daß das Raumflugzeug an der Spitze der Rakete diesesmal ein menschliches Wesen enthielt, hatte die Neugier der Öffentlichkeit derart angestachelt, daß die Kap Kennedy benannte schmale Landzunge an der Floridaküste fast im Meer zu versinken drohte unter dem bloßen Gewicht der Heerschar von Reportern, Fernseh-Aufnahmewagen und Fotoausrüstungen.

Im Blockhaus wurden die gleichmütigen Lautsprecheransagen Lügen gestraft durch die ungeheure Spannung, die jeden der Anwesenden erfüllte. Colonel Shandrack Gillespie hielt seinen erloschenen Zigarrenstummel fest zwischen den Lippen. Neben ihm starrte Captain Jeffrey McDermott hilflos auf den Bildschirm des Monitors. Worte wurden nicht gewechselt. Es gab nichts zu sagen. Sie beide wußten, was auf dem Spiel stand.

Auf dem Bildschirm ragte die ›Helios‹ unglaublich groß und mächtig in den wallenden Morgennebel empor. Ab und zu kam zwischen Nebelfetzen das ›Brontosaurus‹-Raumflugzeug in Sicht, das wie eine große schwarze Fledermaus auf der Spitze der riesigen Rakete saß. Im Cockpit des ›Brontosaurus‹ befand sich ADAM M-1.

Die Stimme des Kontrolloffiziers ertönte: »Solange wir auf das Schwinden des Nebels warten, können wir noch mit ADAM sprechen.« Ein leichtes Klicken verkündete, daß die Anlage auf das Raumflugzeug umgeschaltet wurde. Dann kam ein leise klapperndes Geräusch aus dem Lautsprecher.

Gillespie war über das Geräusch irritiert. »Was, zum Kuckuck, klappert denn da?«

»Kann es nicht ausmachen«, sagte McDermott nach sekundenlangem Lauschen. »Luftelektrische Störungen vielleicht?«

Das Klappern dauerte fort, bis plötzlich klar und deutlich ADAMs Stimme aus dem Lautsprecher tönte: »Zwei links, zwei rechts. Zwei links, zwei rechts.«

»Ach, das hätte ich wissen können«, sagte McDermott erleichtert. »ADAM strickt.«

»Er tut was?«

»Kein Grund zur Aufregung, Chef«, beschwichtigte McDermott. »ADAM hat vor Wochen das Stricken angefangen. Doktor Ehrick empfahl es als Therapie für die Koordination seiner Hände und Finger. ADAM sagte mir übrigens, daß er sein Strickzeug auf die Reise mitnehmen würde – für den Fall, daß es Verzögerungen gibt. Zur Zeit strickt er eine Art Hose für seinen General Beauregard.«

»Ein strickender Plastikastronaut«, stöhnte Gillespie und fuhr sich mit den Händen über die Schläfen. »Warum ist ausgerechnet dieser Bursche in die Air Force gekommen?«

»Wie befinden Sie sich, ADAM?« fragte der Kontrolloffizier in die Anlage.

»Mit einem Wort – schrecklich«, tönte es aus dem Lautsprecher zurück. »Ich habe etwas vergessen.«

»Was denn, um Gottes willen?« fragte der Kontrolloffizier erschrocken.

»Heute früh im Bett zu bleiben, Sir.«

»Lieber Himmel, ADAM! Sie haben mich besorgt gemacht!«

»Ich – Sie? Ich hocke hier über der Spitze dieses Monstrums von Himmelsrakete und Sie fühlen sich besorgt? Stellen Sie sich vor, Sir – ich versuche mir dauernd zu überlegen, wie ich hier noch herauskommen kann.«

»Ihr charmanten, intelligenten, hübschen Burschen kriegt immer die besten Jobs.«

»Ich will versuchen, mich damit zu trösten. Aber sagen Sie, Sir – können Sie mich irgendwie mit Schwester Riley verbinden.«

»Klarer Fall, ADAM. Einen Moment Geduld. Sie ist hier im Kontrollraum.«

Nach einer kurzen Pause ertönte ein Klicken, und Suzys Stimme kam aus dem Lautsprecher: »Hei, ADAM.«

»Hei, Suzy. Wie geht's?«

»Fein, Darling. Und dir?«

»Höllenangst habe ich, danke. Sag, Suzy – würdest du etwas für mich tun?«

»Alles.«

»Alles?«

»Ja, alles. Was ist es, ADAM?«

»Nun, ich weiß nicht recht, wie ich es sagen soll. Es ist ziemlich delikat, und das ganze Blockhaus hört zu ...«

»Sag's schon, Dummerchen. Alle werden diskret weghören, wenn es zu delikat werden sollte.«

»Also gut. Es geht um General Beauregard. Er leidet an Blähungen. Du müßtest ihm etwas doppelkohlensaures Natron in sein Futter mischen.«

»ADAM, ist das alles, was du mir sagen wolltest?« Aus irgendeinem Grund hatte Suzys Stimme in diesem Moment jegliche Wärme verloren.

»Nun – ja, Suzy. Ach nein, da wäre noch etwas. Außerdem mag General Beauregard vor dem Essen einen Brandy mit Sahne. Die Sahne scheint gut zu sein für seine Verdauung. Es macht dir doch nichts aus, Suzy?«

»Nein. Ich werde mich gewissenhaft um General Beauregards verwöhnte Ansprüche kümmern.«

»Danke, Suzy. Du bist ein Schatz.«

»ADAM, bitte – gib acht auf dich. Ich – ich ...«

Susans Worte wurden von der Stimme des Kontrolloffiziers übertönt: »Grünes Licht von der Wetterstation. Wir setzen den Countdown fort ... T minus fünf und zählen.«

»Leb wohl, Suzy«, verabschiedete sich ADAM.

Als der Countdown fortgesetzt wurde, ging McDermott zu Suzy, die noch am Mikrophon stand und still in ihr Taschentuch weinte. Er führte sie wortlos zu ihrem Stuhl und kehrte an seinen Monitor zurück. Auf dem Bildschirm war zu sehen, daß sich der Nebel völlig verflüchtigt hatte; die Konturen des ›Brontosaurus‹ standen scharf gegen den wolkenlosen Floridahimmel. McDermott fühlte sich plötzlich ganz trocken im Mund.

»T minus drei«, tönte es aus dem Lautsprecher. »Machen Sie eine letzte Abstimmung mit dem Astronauten.«

»Alles steht auf ›freie Fahrt‹«, sagte eine ruhige Stimme. »Wie fühlen Sie sich, ADAM?«

»Wie einer, der gleich gehängt werden soll«, erwiderte der Astronaut. »Gebt endlich den Startschuß!«

C. C. Callaghan, der über Radio und Fernsehen der ganzen Welt vom Start der ›Helios‹ berichtete, hörte ADAMs Worte und sprach in sein Mikrophon: »Hier ist die Bodenkontrollstation der ›Helios‹. Wir erhalten eben eine letzte Meldung des Astronauten. Er sagt, alles ist in bester Ordnung. Er sagt ferner, daß er sich – gleichgültig, wie das Experiment ausgehen wird – sehr glücklich über diese Chance fühlt, einen bescheidenen Anteil zur Weiterentwicklung der Weltraumfahrt leisten zu dürfen.«

»T minus eins«, tönte es aus dem Lautsprecher. Im Blockhaus herrschte tiefe Stille, nur unterbrochen von der gleichmütigen Stimme des Kontrolloffiziers.

»T minus zehn Sekunden.«

»Ich hab' ihre Zügel fest im Griff, Boys«, sagte ADAM aus dem Lautsprecher. »Jagt sie am Mast empor!«

»... fünf – vier – drei – zwei – eins ...«

Colonel Gillespie zerbiß seinen Zigarrenstummel.

»Zündung!«

McDermott beobachtete auf dem Bildschirm den ungeheuren Flammensturm am unteren Rand der Rakete.

»Start!«

Als sei sie beflissen, dem unter ihr tobenden Inferno aus Rauch und Feuer zu entkommen, schoß die Rakete in gewaltigem Sprung empor. Ihr Getöse war ohrenbetäubend, selbst für die Männer im schallgedämpften Blockhaus.

Zehn Sekunden nach dem Start machte der Astronaut mit fröhlicher Stimme seine erste Meldung: »Verdammt, als diese zwei Millionen PS auskeilten und meine Kehrseite trafen, dachte ich, gleich würde ich meine Schnürsenkel als Krawatte tragen. Hätte mich fast selbst verschluckt.«

C. C. Callaghan übersetzte ADAMs Meldung für die lauschende Weltöffentlichkeit: »Hier Bodenkontrollstation der ›Helios‹. Erhalten soeben die erste Meldung des Astronauten nach dem Start. Er sagt, die Beschleunigung ist begeisternd und die weite Aussicht über Florida atemberaubend.«

Die Rakete hatte tausend Meter Höhe erreicht, und der Sicherheitsoffizier wollte eben den ›Zerstör‹-Hebel loslassen, als es geschah. Gillespie raunte McDermott zu: »Jeff, sehen Sie das Schlingern der Rakete?«

McDermott brauchte sich nicht erst zu überzeugen – sein Blick war nicht vom Bildschirm gewichen. »Ich sehe es«, raunte er mit hohler Stimme zurück.

Der Kontrolloffizier bemerkte es ebenfalls und gab dem Sicherheitsoffizier die überflüssige Anweisung, die Bewegung genau zu verfolgen. Der Sicherheitsoffizier faßte den ›Zerstör‹-Hebel wieder fester.

»Hee, Freunde«, tönte ADAMs Stimme aus dem Lautsprecher, »meine Kalesche macht Mätzchen. Spielt bei euch jemand mit der Fernsteuerung?«

Der Kontrolloffizier antwortete: »Die Rakete schlingert. Diese Bewegung scheint sich zu verstärken. Wahrscheinlich liegt es am Leitsystem. Alle anderen Systeme funktionieren, laut Kontrolltafel, einwandfrei.«

»Na fein«, gab ADAM zurück, »unser alter Kummer – das Leitsystem! Sagt McDermott, er ist gefeuert!«

Auf dem Bildschirm wurde das Schlingern immer deutlicher wahrnehmbar. Der Sicherheitsoffizier sprach aus, was allen Anwesenden das Blut gerinnen ließ: »Die Abweichung beginnt gefährlich zu werden. Die Rakete nähert sich der Gefahrenzone.«

»Um Gottes willen, nein«, knurrte McDermott.

»Möchte nicht als Meckerer gelten«, war ADAMs Stimme zu vernehmen. »Aber – ich – werde – wie – wild – herumgeschaukelt. Meine – Kalesche – scheint – sich – im – Veitstanz – zu üben!«

»Hier Bodenkontrollstation der ›Helios‹«, berichtete C. C. Callaghan der Weltöffentlichkeit. »Wie Sie auf Ihren Fernsehgeräten bemerkt haben dürften, führt die ›Helios‹ leichte Schlingerbewegungen aus. Der Astronaut meldet uns jedoch, daß Grund zur Beunruhigung nicht besteht.«

»ADAM«, sagte der Kontrolloffizier drängend, »wir sind dabei, jedes System noch einmal durchzuprüfen. Sie müssen das automatische Leitsystem so lange wie möglich benutzen, um in die richtige Umlaufbahn zu gelangen.«

»Wir haben jetzt schnell zu handeln«, erklärte der Sicherheitsoffizier. »Die Rakete nimmt Kurs auf Miami.«

»Ju – uuu – unge«, war ADAM zu vernehmen, der in seinem Cockpit offenbar heftig durcheinandergeschüttelt wurde. »Was – für – eine – Sensation.«

Der Sicherheitsoffizier verkündete: »Ich mache den ›Zerstör‹-Hebel schaltbereit. In wenigen Sekunden ist die Rakete über dem Stadtgebiet von Miami.«

»ADAM«, rief der Kontrolloffizier, »wir kommen in Druck. Ihr gegenwärtiger Kurs bringt Sie direkt über Miami. Schalten Sie auf Handsteuerung um und übernehmen Sie.«

»Wird – gemacht«, erwiderte ADAM. »Wenn – ich – die – Schaltung – bloß – packen – könnte – in diesem – schlingernden – Walfisch.«

Atemlos beobachteten alle im Blockhaus die Kontrolltafel und das kleine, noch dunkle Lämpchen über dem Funktionsschildchen ›Handsteuerung‹. Drei qualvolle Sekunden vergingen, ehe das Lämpchen grün aufleuchtete, um dann stetig zu brennen.

»ADAM«, rief der Kontrolloffizier, »Sie haben die Handsteuerung! Jetzt ist es Ihre Süße! Bringen Sie sie wieder auf Kurs!«

»Wenn der Plankurs in fünf Sekunden nicht wieder erreicht ist«, knurrte der Sicherheitsoffizier, »muß ich zerstören!«

»Nein, nein«, schrie McDermott, unfähig, sich noch länger zu beherrschen. »Heute ist's keine Attrappe! Heute ist ein menschliches Wesen an Bord! Sie dürfen nicht zerstören!«

Gillespie legte einen Arm um McDermotts Schultern. »Ruhig, alter Junge. Der Sicherheitsoffizier hat seine Pflicht zu tun.«

»Finger weg von diesem Hebel«, brüllte McDermott und wollte sich auf den Sicherheitsoffizier stürzen.

Gillespie erwischte ihn beim Koppel und zerrte ihn zurück auf seinen Stuhl. »Mann, beherrschen Sie sich! Ich weiß, wie Sie für ADAM fühlen. Aber wir können seinetwegen nicht eine ganze Millionenstadt gefährden. Kommen Sie zu Verstand!«

»Weiß – nicht –, ob – das – Biest – reagieren – wird«, ertönte ADAMs Stimme, fast unverständlich durch die Vibrationen. »Probier's – mit – aller – Kraft.«

»Die ›Helios‹ passiert Gefahrenlinie«, meldete der Sicherheitsoffizier. »Ich kann nicht länger ...«

»Mach – schon – Betsy – schwenk – hinüber«, kam ADAMs Stimme aus dem Lautsprecher. »Was – sollen – wir – über – diesem – Steinhaufen.«

»Jetzt ist sie in der Gefahrenzone!« Schweiß strömte dem Sicherheitsoffizier über das Gesicht und tropfte hinab auf die bereits feuchte Radarröhre. »Bereit zur Zerstörung!«

»Braves – Mädchen – Sanft – Wie – Schwester – Riley – mit – ihrer – Bettpfanne – Sanft.«

»Los, ADAM!« brüllte Gillespie. »Schwenk sie heraus, Boy!«

»Irgendeine Änderung in der Flugbahn?« fragte der Kontrolloffizier.

»Keine«, ertönte eine Stimme von den Meßgeräten her.

Der Sicherheitsoffizier stöhnte: »Ich kann keine Sekunde länger warten! Vielleicht haben wir schon zu lange gewartet!«

McDermott schloß die Augen, um nicht den Feuerball zu sehen, der seinen Freund vernichten würde. »Gott steh dir bei, ADAM«, raunte er und versuchte vergeblich, seine Tränen zurückzuhalten.

»Zerstörung!« brüllte der Sicherheitsoffizier.