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Chelonia Mydas, die Seeschildkröte, richtete ein verdrossenes Auge auf den Lautsprecher, der den Countdown über den Sandstrand von Kap Kennedy brüllte.
»Fünf ...« Beansprucht von dem mütterlichen Tun, ihre Eier in eine sorgfältig ausgescharrte Vertiefung des heißen Strandsandes zu legen, blinzelte die gepanzerte Dame zwar recht indigniert ob solcher Insultierung privatester Verrichtungen, fuhr aber, da gegen den rücksichtslosen Ansturm der Wissenschaft doch nichts zu machen war, gleichzeitig so gelassen wie möglich fort, ihren Beitrag zur Erhaltung des Schildkrötengeschlechtes zu leisten.
»Vier ...« Die Vögel verstummten, das mannigfaltige Leben in der Strandzone erstarrte; es war, als mache sich alles bereit, den ungeheuren wellenförmigen Erschütterungen zu widerstehen, die bald über die Mesquitabüsche auf den Dünen und über den ganzen Strand hereinbrechen würden.
»Drei ...« Die äußere Ruhe der Dreistufenrakete, die, mit der gedrungenen Brontosaurus-Raumkapsel auf der Spitze, wie ein enormer silbriger Wurfspieß zum blauen Floridahimmel emporragte, verriet nichts von den zahllosen Funktionen, die jetzt schon im Innern des Himmelsgeschosses vor sich gingen. Als die Kontaktschnur von der Flanke der Rakete abfiel und zur Seite des Startmastes hinüberpendelte, schienen die Aluminiummuskeln des Ungeheuers gespannt zum titanischen Sprung in die blaue Weite des Weltraums. Die herrliche neue Helios-Dreistufenrakete, der Menschheit größter technischer Triumph, eine Zusammenballung unvorstellbarer Kraft, stand bereit, ihre Fracht in eine Satellitenbahn um die Erde zu tragen.
»Zwei ...« Die Schildkrötendame placierte – nicht ohne Groll auf den Schildkrötenjüngling, der diese mühselige Eierlegerei verschuldet hatte – behutsam ein weiteres Ei in das Sandloch und bedeckte ihren Kopf mit den Vorderflossen.
»Eins ...« Im nahen Blockhaus saßen zweiunddreißig Männer, die Augen starr auf die Kontrollbildschirme gerichtet, die binnen weniger Sekunden von Gelingen oder Versagen künden würden. Captain Jeffrey McDermott murmelte langsam ausatmend vor sich hin: »Baby, sing für mich ... Sing süß für mich, Baby ...«
»Zündung ...« Aus den Antriebsdüsen der unteren Raketenstufe brach ein brüllender Flammensturm. Einen Moment lang, der wie eine kleine Ewigkeit wirkte, schien der silbrige Riesenpfeil unsicher auf seinem Feuersaum zu balancieren.
»Start!« Unter ohrenbetäubendem Getöse begann die Rakete, kaum merklich zuerst, die Halterungen des Startmastes zu verlassen. Als sie ihr Tempo beschleunigte, erhob sich Jubelgeschrei im Blockhaus.
»Lieblich ist dieser Vogel!« brüllte der Planungschef durch den Lärm. »Hau ab, du Prachtstück! Hau ab!«
»Baby, sing süß für mich«, murmelte McDermott entrückt. Zwischen seinen Lippen hing vergessen eine unangezündete Zigarette.
»Beschleunigung wie errechnet«, verkündete ein Ingenieur an den Meßgeräten. Der allgemeine Lärm war verebbt, die Männer wandten sich ihren wieder und wieder geprobten Routineobliegenheiten zu. Sogar der Offizier, der für die Flugsicherheit des Projektils verantwortlich war, schien entspannt; ein erleichtertes Lächeln umspielte seinen Mund.
»Sing dein süßestes Lied, Ba ...«
McDermotts Stimme versagte plötzlich. Irgend etwas schien schiefzugehen. Auf den Bildschirmen war ein leichtes Rollen der Rakete zu erkennen – ein Manöver, das in der Aufstiegsphase nicht vorkommen durfte. Seine Augen beobachteten entsetzt, was sein Verstand sich weigerte zu fassen: Die Riesenrakete begann mit zunehmender Vehemenz zu wackeln.
»Großer Gott, sie schwankt!« brüllte der Planungschef.
»Das verdammte Leitsystem!« fluchte der Ingenieur an den Kontrollgeräten. Auf den Bildschirmen war zu sehen, wie die Stabilisierungsdüsen vergeblich versuchten, das torkelnde Monstrum wieder auf Kurs zu bringen. Es neigte sich kraftlos vornüber, immer weiter vornüber, bis es eine Drehung von hundertachtzig Grad beschrieben hatte und sich in der Richtung bewegte, aus der es gekommen war.
»Sie kommt zurück!« schrie überflüssigerweise der Ingenieur an den Kontrollgeräten. »Bereitmachen zur Zerstörung!«
Dieses Kommando war eine reine Formalität. Der Flugsicherheitsoffizier hatte den Bildschirm seines Monitors nicht aus den Augen gelassen und beim ersten Anzeichen von Schwierigkeiten den Schalthebel für ›Zerstörung‹ entsichert. Jetzt ruhten die Finger seiner rechten Hand auf diesem Hebel, dessen Drehung die Rakete explodieren lassen würde. Traurig beobachtete er die Bewegungen des Flugkörpers und murmelte Stoßgebete für eine Wendung zum Guten. Erst als er wußte, daß Rettung unmöglich war, betätigte er – ähnlich einem Cowboy, dessen Lieblingspferd ein Bein gebrochen hat – den Mechanismus, der die Qualen beendete. Das Zwanzig-Sekunden-Leben der wundervollen Helios-Rakete, der Menschheit jüngster Errungenschaft in Sachen Weltraumtechnik, war vorüber.
McDermott fühlte sich hundeelend, als er den ungeheuren Feuerball aus dem silbrigen Flugkörper brechen sah. Die Rakete zerbarst. Die unbemannte Raumkapsel machte sich selbständig und sauste wie ein Senkblei zum Meer hinab. Beklommenes Schweigen herrschte im Blockhaus; es war, als hätten die hier Versammelten soeben den furchtbaren Tod eines guten Freundes miterlebt. Mit müden Bewegungen zündete McDermott die Zigarette an, die ihm noch immer zwischen den Lippen hing.
»Besorgt mir alle Meßdaten«, sagte er nach dem ersten tiefen Zug. Ohne sich an jemand im besonderen zu wenden, fügte er hinzu: »Wäre ich ein weniger beherrschter Mensch, dann würde ich jetzt die Luft mit einer umfangreichen Auswahl unfeiner Worte füllen. Statt dessen lade ich hiermit alle Anwesenden in meine Behausung ein – zu einer kleinen Harakiri-Party.« Er stand auf und näherte sich der Tür des Blockhauses. »Ich gehe voraus, um das Schwert abzustauben.«
Zur selben Zeit placierte Chelonia Mydas, die Seeschildkröte, ihr letztes Ei in die Sandgrube. Dann scharrte sie mit den Vorderflossen heißen Sand darüber, der, wie sie wußte, das Ausbrüten dieser Portion ihrer Nachkommenschaft besorgen würde. Dabei blickte sie wie von ungefähr zu der Rauchspur, die noch am blauen Himmel hing und einige Meilen vom Strand entfernt im Ozean endete.
»Grandiose Leistung, das«, murmelte sie kopfschüttelnd auf Schildkrötisch und watschelte, noch immer verdrossen, zurück ins Meer.
Colonel Shandrack Gillespie sah von seinen Papieren auf und spießte den eintretenden McDermott mit durchdringendem Blick sozusagen an der Tür fest, die er eben hinter sich zumachte.
»Setzen Sie sich, Captain, und wir werden sprechen«, sagte Gillespie durch seinen gut zerkauten Zigarrenstummel, und McDermott wußte, daß er im Druck war. Denn wenn Gillespie ihn mit ›Captain‹ anredete, war er nicht zu einem Schwatz über das nächste Golfturnier ins Büro des Planungschefs gerufen worden.
»Nettes kleines Fiasko heute früh – eh, McDermott?«
»Ja, Colonel«, erwiderte McDermott, der sich von der Tür gelöst hatte und mit seiner Kehrseite vorsichtig nach der nächst erreichbaren Stuhlkante tastete.
»Zu schade, Captain, daß wir das Ding nicht nachts abgefeuert haben. Hätte ein prächtiges Feuerwerk für die paar hundert Steuerzahler abgegeben, die vermutlich am Strand knutschten. Eine pyrotechnische Galadarbietung für fünfundzwanzig Millionen Dollar kriegt man nicht jede Nacht zu sehen. Auf diese Art hätten die Leutchen immerhin eine Kleinigkeit für ihr Geld gehabt.«
»Colonel, niemand kann die Sache mehr bedauern als ich ...«
»Captain, Sie gelten als der fähigste Fernleitingenieur im Geschäft. Ich habe Sie erwählt, das Leitsystem für die Helios-Rakete auszuarbeiten, weil ich annahm, Sie könnten es. Würden Sie mir bitte sagen, weshalb, beim Teufel, wir jetzt dieses hundertprozentige Ergebnis haben – drei gestartet und drei geplatzt?«
»Colonel ...«
»Und jedesmal war ein nicht funktionierendes Leitsystem schuld! Heute früh riskierte ich wieder mal Kopf und Kragen, indem ich den Sicherheitsoffizier bat, die eventuelle Zerstörung bis zum letztmöglichen Moment hinauszuzögern, damit das Biest jede Chance erhielte, sich vielleicht doch noch auf korrekten Kurs zu bringen. Er entsprach meiner Bitte. Infolgedessen schlug eins der Trümmerstücke dicht außerhalb der südlichen Begrenzung unseres Geländes auf, statt im Meer. Es machte nicht nur den Kaninchen und Klapperschlangen, die dort hausen, eine Höllenangst. Es demolierte obendrein eine kleine Brennerei, die dort mitten im Mesquitagestrüpp von einigen illegalen Schnapsherstellern betrieben wurde. Und unser Rechtsoffizier schnappt jetzt beinah über bei dem Versuch, herauszufinden, ob die Regierung für die versehentliche Ausbombung einer illegalen Spritbrennerei, durch die sich immerhin vier italienische Einwandererfamilien mit insgesamt vierundvierzig Kindern ihren Lebensunterhalt verdienten, Schadenersatz bezahlen muß oder nicht!«
»Ich hoffe, niemand wurde verletzt ...«
»Verdammt, Jeff! Ich weiß, daß es ein vertracktes Geschäft ist! Ich weiß, daß wir an Projekten arbeiten, für die es keine Grundregeln gibt! Aber wir haben es früher geschafft – die Atlas, die Titan, die Minuteman! Warum nicht auch die Helios? Wo liegt das Problem? Was, zum Teufel, machen wir falsch?«
»Colonel, ich kann nur sagen, daß die Helios die komplizierteste Rakete ist, die je erdacht wurde. Sie soll ein veritables Raumflugzeug in die erforderliche Höhe tragen. Über sechsunddreißigtausend Einzelteile stecken allein in den Komputern, Sensoren und Servosystemen, die nötig sind, um die errechneten Kommandos auf die Rakete zu übertragen und von ihr ausführen zu lassen. Ich versuche keine Entschuldigungen vorzubringen – immerhin arbeiten einige der besten Gehirne aus Industrie und Luftwaffe mit mir an diesem Projekt. Aber es bedarf nur einer einzigen Diode, eines einzigen Transistors, eines einzigen Widerstandes, die nicht richtig funktionieren, und schon fällt das ganze Ding auseinander.«
»Niemand weiß das besser als ich, Jeff. Aber wir müssen etwas tun! Wegen der Sache von heute früh hatte ich schon die NASA, die Luftwaffe und sogar das Weiße Haus auf dem Hals. Ich bange nicht um meine Haut, das wissen Sie. Doch jedesmal, wenn wir eine Katastrophe wie diese haben, fallen wir im Weltraumrennen weiter zurück. Und das können wir uns einfach nicht leisten!«
»Ganz meine Meinung, Sir.« McDermott konnte seine Augen nicht abwenden von den neuen Sorgenfurchen in den harten Gesichtszügen seines Chefs.
Das letzte Jahr hatte für Gillespie extreme Belastungen gebracht. Nach jahrzehntelang erfolgreicher Laufbahn als Air Force-Planungschef für den Bau von Weltraumraketen mußte er innerhalb knapper zwölf Monate erleben, wie die drei Versuche mit der neuen Helios-Rakete einer nach dem anderen mißlangen.
Aber sie hatten zu gelingen. Je weiter das Weltraumprogramm fortschritt, um so offenkundiger zeigte sich, daß der in eine enge Raumkapsel gepferchte Astronaut mit seinen begrenzten menschlichen Fähigkeiten praktisch außerstande war, neben seinen Pilotenpflichten die Unzahl vielfältigster Nebenaufgaben zu erfüllen, die die ständig komplizierter werdende Raumfahrttechnik ihm auferlegen wollte. Da es höchste Zeit war, günstigere Voraussetzungen für die Astronauten zu schaffen, hatte die Air Force den ›Brontosaurus‹ entwickelt, das erste wirkliche Weltraumfahrzeug, das sich im Raum so manövrieren lassen würde, wie ein normales Flugzeug in der Luft. Vor allem aber sollte der ›Brontosaurus‹ imstande sein, mit der Präzision eines normalen Flugzeuges zu einem vorher bestimmten Landeplatz auf festem Boden zurückzukehren, wodurch in Zukunft der unsinnige Kostenaufwand für die riesige Bergungsflotte entfallen würde, die bisher jedesmal aufgeboten werden mußte, um eine zurückgekehrte Raumkapsel aus dem Ozean zu fischen.
Darüber hinaus konnte ein richtiges Raumflugzeug gewisse militärische Aufgaben erfüllen, wie Unschädlichmachung feindlicher Satelliten, Weltraumerkundung, Transport von Menschen und Material zu Weltraumstationen und, nicht zuletzt, Bergung schiffbrüchig gewordener Astronauten. Dem Helios-Projekt fiel die Aufgabe zu, eine Rakete zu entwickeln, die stark genug war, das zehn Tonnen schwere Weltraumflugzeug in eine entsprechend hohe Umlaufbahn zu tragen.
Eine große Aufgabe. Die Flugfähigkeit des ›Brontosaurus‹ in der Luft war durch Schleppflüge mit einer B-52 erprobt worden; obwohl er gut flog und im Gleitflug sicher landete, hatte er wegen seines hohen Gewichts den Spitznamen ›Bleischlitten‹ erhalten. Die Rakete, die einen so schweren Flugkörper in eine entsprechend hohe Umlaufbahn befördern konnte, mußte eine Schubkraft von mindestens eintausend Tonnen entwickeln. Die hierbei entstehende extreme Beschleunigung, in kritischen Phasen verbunden mit wahnwitzigem Vibrieren, konnte leicht zur Folge haben, daß der Astronaut das Bewußtsein verlor, und daß ihm obendrein die Augäpfel aus dem Kopf geschüttelt wurden. Die Frage, ob man es überhaupt riskieren durfte, einen lebenden Astronauten in den ›Brontosaurus‹ zu setzen, bildete ein Problem für sich. Andererseits war das Fernleitsystem mittlerweile so verfeinert und durch die Verfeinerung so kompliziert geworden, daß es seine eigenen Sicherheitskontrollen überholt hatte.
Drei Fehlstarts hintereinander waren scheußlich für einen Planungschef. McDermott empfand tiefes Mitgefühl für seinen Vorgesetzten. »Ich will zwar alles tun, Colonel«, sagte er. »Aber vielleicht wäre es besser, wenn Sie mich von diesem Projekt abzögen. Viele begabte junge Leute mit frisch erworbenen Diplomen möchten sich praktisch bewähren. Vielleicht braucht das Projekt neues Blut ...«
»Zur Hölle mit Ihnen, McDermott! So einfach kommen Sie mir nicht davon! Sie sollen weiter mit mir leiden! Wir beide werden diese Sache gemeinsam zu Ende bringen! So, und jetzt will ich zweierlei von Ihnen.«
»Ja, Sir?«
»Erstens werden Sie heute abend ausgehen und sich bis an den Kehlkopfknorpel vollaufen lassen. Ihr wesentlichster Mangel ist, daß Sie nicht genug trinken, und das macht mir Kummer.«
»Sehr wohl, Sir. Und zweitens?«
»Binnen längstens dreißig Tagen melden Sie sich zurück mit Ihren Vorschlägen, wie wir diese Sache in Ordnung bringen. Ich halte es nicht für nötig, zu wiederholen, daß alle drei Fehlstarts auf Mängeln im Leitsystem beruhten. Ich will auch nicht daran erinnern, daß Sie für die Leitsysteme verantwortlich waren. Es liegt ganz bei Ihnen, Jeff, ob wir diese Sache noch zum Erfolg bringen.«
»Sehr wohl, Sir.«
Gillespie lehnte sich im Schreibtischsessel zurück und strich mit einer Hand über seine müden Augen. »Wenn ich etwas nicht ertragen kann, sind es Captains, die immerzu ›Sehr wohl, Sir‹ sagen«, fügte er in versöhnlichem Ton hinzu und lächelte dabei ein bißchen. »Hauen Sie jetzt ab und befolgen Sie meine Befehle.«
»Aye, aye, Colonel. Ich werde mein Bestes tun.« McDermott war aufgestanden, hatte salutiert und wandte sich jetzt der Tür zu.
»Und, Jeff«, rief Gillespie ihm nach, »grüßen Sie Melodie von mir.«
»Aye, aye, Colonel. Wie Sie befehlen.«
Aber Gillespie hörte die Antwort nicht mehr. Er hatte sich bereits wieder in die vor ihm liegende Akte vertieft, aus der ein roter Anhänger mit der Aufschrift baumelte: ›Unverzüglich bearbeiten! Kongreß-Anfrage!‹
Melodie Monahan war im weiblichen Geschlecht ungefähr dasselbe wie Ted Williams im Baseball – wenigstens auf den weiteren Bereich von Kap Kennedy bezogen. Sie galt als die Hauptattraktion des Hauptstraßen-Clubs ›Zur Milchstraße‹ und konnte ihre Songs wesentlich persönlicher hinauszwitschern als die meisten anderen Sternchen im Showbusiness. Ihre Popularität – wieder auf den weiteren Bereich von Kap Kennedy bezogen – beruhte teils auf ihren Stimmbändern, teils auf der Art, wie diese verbrämt waren – nämlich mit einhundertzwölf Pfund echt weiblicher Frau, dermaßen wohlgestaltet und hübsch, daß sie auch inmitten einer kriegsstarken Amazonenbrigade nicht zu übersehen gewesen wäre.
Melodie Monahan, unter blauem Scheinwerferlicht, machte bei ihrem Song mal wieder Sachen, die jedem Mann im Club den Atem verschlugen. Captain Jeffrey McDermott allerdings saß still an seinem Tisch und studierte Miß Monahan durch den geschliffenen Boden seines Martiniglases. Sein wissenschaftlich trainierter Geist bewunderte, was so ein bißchen Prismenschliff aus Miß Monahans Brustkasten machte – ein überdimensionales Phänomen, das Mutter Natur, so großzügig sie sonst in Sachen Brustkastengestaltung verfahren mochte, wohl kaum zu verwirklichen gewagt hätte, weil es mit einer chronischen Gefährdung des Gleichgewichts verbunden gewesen wäre. Noch überwältigt von seinen Visionen, war er sehr überrascht, als er plötzlich spürte, daß Miß Monahans Brust seine Schultern streifte.
»Hei, Angebeteter«, sagte Melodie in einem Tonfall, bei dem geringeren Männern das Blut ins Sieden geraten wäre.
»Hei, Melodie.« McDermott klang zerstreut.
Melodie setzte sich zu ihm und fragte etwas irritiert: »Warum hast du dir ein Martiniglas vor das rechte Auge geklemmt?«
»Das hängt mit einer äußerst faszinierenden Studie zusammen. Hattest du je Gelegenheit, deinen Busen durch den geschliffenen Boden eines Martiniglases vergrößert zu betrachten?«
»Ich glaube, nicht«, antwortete sie nach kurzem Überlegen. »Ist es interessant?«
»Es ist Poesie. Reine Poesie in Prismentechnicolor.«
»Oh, Jeff! Etwas so Reizendes hast du mir bisher kaum gesagt.«
»Obendrein ist es wahr.«
»Nun, da du die Rede darauf brachtest – wollen wir nicht ein bißchen in meine Garderobe gehen? Da du in Entdeckerlaune bist, läßt sich nicht absehen, was für Schätze wir dort finden könnten.«
»Bitte, Melodie. Benimm dich. Mir ist nicht nach solchen Banalitäten zumute.«
»Dann also nicht, Liebster. Bestell mir einen Drink, und wir werden uns seriös unterhalten. Was führt dich hierher?«
»Ich befolge Befehle.«
»Du tust – was?«
»Als gehorsamer Offizier befolge ich Befehle meines Vorgesetzten. Ich soll mich vollaufen lassen bis an den Kehlkopfknorpel.«
»Warum denn das?«
»Vermutlich soll ich mich meinen Problemen mit offenem, unverkrampftem Verstand nähern.«
»Ich möchte nicht direkt dumm erscheinen, Jeff, aber ...«
»Hast du gehört, wie der Abschuß heute früh verlief?«
»Ja. Und es tut mir schrecklich leid, Jeff.«
»Danke. Ich bin jetzt verantwortlich für drei nutzlose Fünfundzwanzig-Millionen-Dollar-Feuerwerke. Bis heute habe ich fünfundsiebzig Millionen Steuerzahlerdollar verpulvert. Weißt du, Melodie, so etwas kann selbst einem beherrschten Mann Komplexe verschaffen.«
»Du darfst dich nicht persönlich dafür tadeln, Liebster. Sicher hast du alles menschenmögliche getan.«
»Alles menschenmögliche vielleicht. Aber leisten muß ich Übermenschliches! Es liegt an dem verwünschten Leitsystem. In den Versuchslabors funktionieren die einzelnen Konstruktionsaggregate tadellos. Aber steck sie in das System und – Pfffttt! Einfach so – Pfffttt!«
»Pfffttt!«
»Möchtest du eine kleine Geschichte hören?«
»O ja.«
»Gut. Ich werde uns Drinks bestellen und dir eine Geschichte erzählen.« McDermott erhaschte den Blick eines Kellners und hob zwei Finger. »Es ist eine wahre Geschichte. Sie hat mit einer großen Firma zu tun, die Fernsehgeräte herstellt. Die Firma erhielt Beschwerden, daß eine gewisse Anzahl ihrer Geräte an bestimmten Tagen eines jeden Monats nicht richtig funktionierten.« Die Drinks wurden serviert, und McDermott nahm einen Schluck. »Die Firma ging der Sache systematisch nach und fand schließlich den Grund, nämlich eine winzige Diode, die an einigen Tagen eines jeden Monats versagte. Ahnst du, weshalb?«
»Nein.«
»Ich will es dir verraten.« McDermott nahm einen weiteren Schluck. »Es lag eben – an den Tagen.«
»An den Tagen?«
»Genau. Die Dioden dieser Produktionsreihe wurden von einer jungen Frau installiert. Sie waren so empfindlich, daß, wenn die junge Frau ihre Tage hatte, diese chemische Veränderung ihres körperlichen Zustands die winzigen Dioden beeinflußte.«
»Unglaublich!«
»Aber wahr. Ist es da ein Wunder, daß manche unserer Raketen, bestehend aus hunderttausend von Menschenhand montierten Einzelteilen, unterwegs versagen? Was wir brauchen, wäre ein Komputer mit menschlichen Einsichten. Ein Komputer, der dank dieser Einsichten, dank einer Art individueller Intelligenz mit den kleinen Unberechenbarkeiten fertig wird, die ab und zu in einer so komplizierten Maschinerie vorkommen, wie eine ferngesteuerte Rakete es ist. Ein Komputer, der Fehlleistungen im System von sich aus beheben kann, ohne erst Anweisungen abwarten zu müssen. Ein Komputer, der nicht ratlos ist, wenn ein Widerstand oder eine winzige Diode versagt!« McDermott lehnte sich zurück und spielte müßig mit seinem Martiniglas; sein Blick war entrückt. »Melodie, weißt du, was wir tun sollten?«
»Vielleicht ein bißchen in meine Garderobe gehen?«
»Nein. Still dasitzen und uns die Sache mit den Raketen gründlich überlegen. Wie dir bekannt sein dürfte, ist das menschliche Gehirn der vollendetste Komputer auf der Welt. Es ist der kleinste, verzwickteste und leistungsfähigste Komputer, der je entwickelt wurde. Ist dir auch bekannt, warum wir das menschliche Gehirn in unseren Raketen nicht verwenden können?«
»Nein«, sagte sie, stützte ihr Kinn in ihre Hände und blickte aufmerksam zu dem Mann, den sie liebte. »Aber ich hoffe, ich werde es noch erfahren.«
»Ganz einfach. Der menschliche Körper ist von Natur aus nicht darauf eingerichtet, den überwältigenden Unbilden des Weltraumfluges zu widerstehen. Wir haben bei der Mercury-Serie Milliarden dafür ausgegeben, um einen Astronauten in eine Umlaufbahn zu bringen. Nach den Maßstäben des Weltraumfluges war die Mercury-Kapsel noch nicht einmal das, was einst im Automobilbau Henry Fords altes vielbelachtes ›Modell T‹ gewesen ist. Weit mehr Forschung als für die Entwicklung starker Raketen ist darauf verwendet worden, die Reise für den gebrechlichen Körper des Menschen erträglich zu machen. Wir haben Kapsel und Rakete derart mit Sicherheitssystemen überladen und außerdem noch mit Sicherheitssystemen für die Sicherheitssysteme, daß es ein Wunder ist, wie sich diese Dinger überhaupt noch vom Boden abheben können. Jetzt werden wir das Problem von der entgegengesetzten Seite anpacken müssen.«
»Bitte, Liebling, wie soll ich das verstehen?«
»Ich weiß jetzt, warum Gillespie mir eine Gehirnreinigung befahl. Zum erstenmal sehe ich klar. Und nicht mehr als fünf Martinis hat es dazu gebraucht. Zäumen wir unser Pferd am Schwanz auf. Verstehst du, was ich meine, Melodie? Anstatt den Menschen, das schwächste Glied in unserer Kette, den Gegebenheiten anzupassen, haben wir bisher versucht, die Gegebenheiten so zu gestalten, daß sie in etwa den Bedürfnissen des Menschen entsprechen. Die Astronauten sind großartige Kerle, aber es reicht bei ihnen nicht weit genug. Wir brauchen den menschlichen Geist mit seinem Urteilsvermögen, um das Leitsystem an Ort und Stelle zu kontrollieren und notfalls zu korrigieren. Was wir aber nicht brauchen können, ist der althergebrachte menschliche Körper mit seiner Anfälligkeit gegen die hohe Beschleunigung oder gegen heftige Vibrationen und andere zerstörende Effekte, die in überstarken Raketen beobachtet worden sind. Eine unserer Grundregeln lautet, daß zehn Zentner Antriebskraft erforderlich sind, um ein einziges Pfund in eine entsprechend hohe Umlaufbahn zu tragen. Bei einem langen Weltraumflug wirkt sich jedes Extrapfund, das an Nahrung, Wasser und flüssigem Atmungssauerstoff für die Astronauten gebraucht wird, in geradezu astronomischen Zahlen auf die Antriebskraft aus. Kein Wunder, daß wir so verdammt viele Pannen haben. Unser Fehler ist, daß wir, behindert durch unsere eigenen physischen Unzulänglichkeiten, hinauf in den Weltraum zu hinken versuchen. Das aber ...«
»Moment, mein Freund! Du bist zwar ein wenig schmal in den Wangen und ein bißchen kahl über den Schläfen, aber sonst glaube ich bei dir nicht an physische Unzulänglichkeiten. Drück mich an deine knochige Männerbrust, und ...«
»Weißt du, was absolut lächerlich ist? Daß wir uns in einem Zeitalter, da wir Atome spalten und mit zehnfacher Schallgeschwindigkeit fliegen können, noch immer damit begnügen, in demselben veralteten Körper herumzulaufen, den wir von Adam und Eva geerbt haben. Des Menschen Behälter für seine zahlreichen verschiedenen Organe, seine Drüsen, seine Lebenskräfte, seine Nerven, Muskeln, Sehnen und Knochen besteht nach wie vor aus demselben nicht-stromlinienförmigen, unzweckmäßigen Gebilde mit herausragendem Kopf und bruchgefährdeten Gliedmaßen, genau wie während der Neandertalerperiode. Weißt du, daß dieses alte Wrack selbst unter günstigsten Voraussetzungen nicht mehr als einundzwanzig Schwerkrafteinheiten zu ertragen vermag? Und auch das nur auf dem Rücken liegend? Der Weltraum müßte mindestens fünfzig Schwerkrafteinheiten widerstehen können.«
»Mein Freund, sprich nicht geringschätzig über das Auf-dem-Rücken-Liegen. Ich hörte sagen, unter Umständen könne es ganz vergnüglich sein ...«
»Ich weiß genau, was ich zu tun habe«, erklärte McDermott mit entrücktem Blick. »Ich werde eine neue Methode versuchen!«
»Oh, fein! Gehen wir rasch in meine Garderobe ...«
»Ich denke, ich weiß die Lösung für unser Problem. Ich habe eine Idee, wie wir menschliches Urteilsvermögen in unsere Flugkörper bringen und sie damit instand setzen können, ihre Aufgaben in zweckmäßigster Art zu erfüllen. Ich werde den Astronauten so gestalten, daß er die wichtigste Rolle spielt, statt umgekehrt.« McDermott schlug mit der Faust auf den Tisch. »Ich denke, ich habe es.«
»Großartig, mein Liebster! Aber was hast du – genau?«
»Zunächst werde ich Doktor Ehrick aufsuchen. Wir nehmen es noch heute abend in Angriff.« McDermott erhob sich und legte eine Banknote auf den Tisch. »Bezahl die Rechnung, Melodie – ja, bitte?« Er küßte sie auf die Stirn und wollte gehen.
»Was tust du denn bei Doktor Ehrick, du leidenschaftlicher Sexfanatiker?« fragte Melodie mit einem tapferen Versuch, ihre Enttäuschung zu unterdrücken. »Ich meine – für den Fall, daß jemand es wissen möchte?«
»Mit ihm gedenke ich den menschlichen Körper umzuformen«, sagte McDermott bereits im Gehen. »Was sonst?« Und schon entschwand er durch die Tür.
»Was sonst?« wiederholte Melodie kopfschüttelnd und blickte bekümmert auf gewisse Partien ihres Oberkörpers hinab. »Fast fünfundzwanzig Jahre habe ich gebraucht, um diese sechsundneunziger Oberweite zu entwickeln, und mein Liebster gedenkt die Formen des menschlichen Körpers umzugestalten ... Oh, arme Melodie Monahan – sollst du dich am Ende in Frankensteins Ungeheuer verlieben müssen?«