8
»Hei, Cal! Nehmen Sie den Stuhl zu meiner Rechten.«
»Hei, Leuchte der Wissenschaft!« C. C. Callaghan erklomm den Barstuhl neben McDermott. »Kommen Sie aus dem Dschungel Ihrer Gelehrsamkeit doch mal wieder unter Menschen? Wie geht's?«
»Nicht schlecht. Freut mich, daß Sie sich von Ihren aufreibenden Pflichten beim zarten Geschlecht losreißen konnten. Ich möchte mit Ihnen über ADAM sprechen.«
»Deswegen also Ihre Einladung in diese Bar. Hätte ich mir eigentlich denken können.« Callaghan bestellte beim Barmann einen Martini und schaute McDermott fragend an. »Was für eine böse Suppe haben Sie mir nun wieder eingebrockt?«
»Diesesmal noch keine. Ich versuche, dem vorzubeugen.«
»Ah, eine neue Masche.«
»Cal, ich denke, es ist Zeit, die ›Geheim‹-Siegel von ADAM zu nehmen.«
Der Barmann brachte den Martini. Callaghan nahm einen Probeschluck und nickte anerkennend. Schließlich fragte er: »Wieso?«
»Zwei Wochen sind nun seit der Operation vergangen. Wir neigen dazu, es manchmal zu vergessen – aber ADAM ist ein menschliches Wesen. Er sollte wieder unter Menschen kommen. Für seine Moral würde das Wunder wirken.«
»Man erzählt, daß Schwester Riley in Sachen Moral bei ihm recht emsig ist. Sie soll sich eine schwere Strafpredigt von Doktor Ehrick eingehandelt haben.«
»Übertreibung. Sie erhielt einen leichten Verweis. Nicht wegen der Sache, sondern wegen des Zeitpunktes. Der Doktor mag nicht, daß ADAM so kurz nach der Operation in emotionale Wallung gerät.«
»Was ist denn geschehen?«
»Sie hat ihn geküßt.«
»Ihn geküßt? Susan Riley hat ihn geküßt?«
»Kein Grund zur Aufregung. Es geschah in Wahrnehmung ihrer pflegerischen Obliegenheiten.«
»Ihn geküßt!« Callaghan war fassungslos. »Kein Wunder, daß seine Sicherung durchbrannte. Würde dieses Rotköpfchen mich küssen, dann säße prompt die ganze Nachbarschaft im Dunkeln. Aber ich versuche ja seit Wochen vergebens, dieses Bündelchen allerliebster irischer Sommersprossen zu einer Spazierfahrt in meinem Spezial-Cadillac einzuladen! Was hat denn der synthetische Bursche mir voraus?«
»Beruhigen Sie sich, Cal. Ob Sie es glauben oder nicht – die beiden wollten nur feststellen, ob ADAM Gefühl in seinen Lippen hat.«
»Und da sind Sie besorgt um ADAMs Moral?«
»Bin ich. Er hatte es zuerst ziemlich hart. Und Suzy auch. Gäbe es eine Florence Nightingale des Raumfahrtzeitalters – in Susan Riley hätten wir sie. Während der ganzen ersten Woche wich sie nicht von der Seite seines Bettes. Sie aß und schlief in seinem Zimmer.«
»Ha! Was für Dinge geschehen bei euch im Namen der Wissenschaft hinter verschlossenen Türen?«
»Verscheuchen Sie Ihre trüben Gedanken, Cal! Nichts geschah. Nichts konnte geschehen. Dies war das Problem. ADAM erholte sich recht gut von den Folgen der Operation – bis zu jener zweiten Nacht, als er sich munter genug fühlte, seinen neuen Körper zu erforschen. Und da entdeckte er es.« McDermott hielt inne, um einen Schluck von seinem Martini zu nehmen.
»Entdeckte er was?« fragte Callaghan ungeduldig.
»Nichts.«
»Nichts?«
»Eben – nichts. Haben Sie ADAM jemals unbekleidet gesehen?«
»Bedaure, nein.«
»Nun, unglücklicherweise haben die Entwerfer ein recht wichtiges Ausstattungsstück fortgelassen.«
Callaghan erbleichte. »Sie meinen ...?«
»Genau. Die Entwerfer dachten, da ADAM keine Flüssigkeit zu sich nimmt, brauche er auch keine Vorrichtung, um sie wieder von sich zu geben.«
»Gütiger Himmel!« Es schien Callaghan sehr nahe zu gehen.
»Unterhalb der Gürtellinie ist ADAM glatt wie ein gerupfter Gockel.«
Diese überwältigende Eröffnung verschlug dem sinnenfreudigen C. C. C. die Sprache.
»Meines Erachtens«, äußerte McDermott begütigend, »sind die Entwerfer dafür nicht wirklich zu tadeln.«
»Nicht zu tadeln!« Callaghan fand wieder Worte. »Wer, beim Teufel, hat ADAMs Körper entworfen? Eine Schar Eunuchen? So etwas kann ja nur passieren, wenn weltfremde Wissenschaftler ...«
»Blasen Sie Dampf ab, alter Freund. Ich weiß, daß die bloße Vorstellung Ihnen tiefes Weh bereitet – jeder urteilt nach seinen eigenen Erfahrungen. Aber viele Leute nehmen es gar nicht so tragisch.«
»Für ADAM ist es verdammt tragisch. Ich habe seine Geschichte gelesen. Er führte ein volles, reiches Leben und hat viele Frauen glücklich gemacht.«
»Als wir den M-1 entwarfen, wußten wir nicht, daß er eines Tages von dem abwechslungsbedürftigsten Junggesellen Hollywoods bewohnt werden würde. Hinterdrein ist gut reden.«
»Na, ich kann nur sagen – das ist ein ganz dreckiger Streich! Ihr Burschen solltet von zweihundert jungen Hühnern zu Tode gepickt werden!«
McDermott bestellte neue Martinis. Dann sagte er: »Ich fürchte, ADAM fühlt ganz ähnlich. Die erste Woche war hart, doch dank Suzy Riley überwetterte er den Sturm. Wir haben ihm noch nichts gesagt, aber die Entwerfer versuchen, sich etwas einfallen zu lassen. Wir wollen bei ihm keine Hoffnungen erwecken, ehe der Erfolg einigermaßen sicher scheint.«
»Das ist auch das mindeste, was ihr tun könnt. Wie ist seine Moral jetzt?«
»Alles in allem recht gut.«
»Ein Wunder, daß er überhaupt welche hat. Dieser arme Kerl ist nicht nur betrogen – er kann nicht mal einen Drink zu sich nehmen, um seine Sorgen fortzuspülen. Ihr habt ihn um die zwei Freuden gebracht, die er am höchsten schätzte! Wenn ihr schon Körper baut, solltet ihr etwas umsichtiger planen. Mein Gehirn kriegt ihr jedenfalls nicht.«
»Oh, welch schwerer Schlag für die Wissenschaft. Aber ADAM ist aus recht widerstandsfähigem Stoff gemacht. Wir haben ihn so beschäftigt gehalten, daß er nicht dazu kam, viel über sich nachzudenken. Er fügt sich sehr gut in seine Umgebung ein. Abgesehen von den zwei Problemen, über die wir sprachen, gefällt ihm seine neue Rolle durchaus.«
»Hat er seine Grundausbildung beendet?«
»Ja. Die Fachleute drehten ihn wirklich durch die Mühle. Aber dank seiner Vergangenheit als Ingenieur und Testpilot nahm er es, wie unsereins Martinis nimmt. Er kennt alle seine Systeme in- und auswendig. Als man ihn einer Art Abschlußprüfung unterzog, kam heraus, daß er in den praktischen Fragen mittlerweile besser Bescheid weiß als die Examinatoren. Er verblüffte uns alle mit der Versicherung, er sei auf Erden das einzige Wesen, das mit verbundenen Augen seinen eigenen Körper auseinandernehmen und wieder zusammensetzen könnte. Und was mehr ist – er hat dabei genug Einzelteile übrigbehalten, um sich daraus ein Kofferradio zu bauen.«
»Alle Wetter! Ich wünschte, das könnte ich auch. Ich wüßte ein paar Teile, die ich auswechseln würde ... Wann soll er nun seine Ausbildung für die ›Helios‹ bekommen?«
»Montag kehren wir nach Kap Kennedy zurück. Wenn alles nach Wunsch geht, haben wir ihn rechtzeitig vor dem nächsten Start mit der ›Helios‹ vertraut gemacht.«
»Das wäre günstig.«
»Ja. Und da wir ADAM nun nach Kap Kennedy mitnehmen, denke ich, vieles wäre einfacher, wenn wir die Geheimhaltung fallenließen. Versteckt halten können wir ihn dort nicht. Wie denken Sie darüber, Cal?«
»Nett, daß Sie mich abwechslungshalber mal vorher danach fragen.« Callaghan lächelte. »Aber wie sieht es mit der Sicherheit aus?«
»Nun, einige seiner Systeme sollten geheim bleiben. In seiner Radio- und Elektronikausrüstung sind Neuerungen, die die Russen noch nicht haben, soviel ich weiß. Selbstverständlich müßte auch seine Kernenergieanlage geheim bleiben – sie ist das eigentliche Zentrum des Systems. Um die hydraulische Pumpe, die Gehirnpumpe, das elektronische Nervenzentrum – nicht zu erwähnen das Radio – mit Strom zu versorgen, ist ein richtiges Kraftwerk nötig.« McDermott wartete, bis der Barmann außer Hörweite war, ehe er flüsternd hinzufügte: »Dieses winzige Atomkraftwerk wurde unter Mitwirkung der Atomenergiekommission entwickelt. Ich glaube nicht, daß sie bereit wäre, Einzelheiten darüber bekanntzugeben.«
»Bestimmt nicht ... Alle diese Systeme sind in ihm, sagten Sie?«
»Ja. Innerhalb des Körpers.«
»Also kein Problem, solange seine Plastikhaut geschlossen bleibt.«
»Stimmt. Seine Innenausstattung geheimzuhalten, sollte nicht schwierig sein. Was mir Sorgen bereitet, ist er selbst. Die ›Helios‹-Rakete wird für die Presse offen sein. Auch wenn wir es wollten, würden wir das Projekt nicht geheimhalten können.«
»Da haben Sie recht – nicht bei den scharfen, technisch und wissenschaftlich gut informierten Presseleuten, die nach Kap Kennedy kommen werden.« Callaghan signalisierte um neue Drinks. »Die erwähnten Systeme ausgenommen, würden Sie also alle Karten auf den Tisch legen wollen? Die Geschichte offenbaren, woher ADAMs Gehirn stammt? Alles das?«
»Wie denken Sie darüber?«
Callaghan spielte versonnen mit seinem Glas. Schließlich sagte er: »Ich denke, wir werden einen Sturm der Entrüstung hervorrufen. Bieten wir dem die Stirn. Wir haben einen mächtigen Sprung vorwärts gemacht. Das dürfte die Einsicht vieler Leute übersteigen. Aber ich glaube, wir haben keine andere Wahl. Falls nicht gute Gründe dafür sprechen, dieses Projekt im Interesse der nationalen Sicherheit geheimzuhalten – und ich wüßte keine solchen Gründe –, dann haben die Steuerzahler ein Recht, zu erfahren, was mit dem Geld geschieht, das sie für unser Weltraumprogramm hergeben ... Ja, mein Lieber – ich empfehle eine Pressekonferenz zum nächstmöglichen Datum.«
McDermott fischte die Olive aus seinem Glas. »Diese Antwort hatte ich erwartet. Welches werden unsere nächsten Schritte sein?«
»Da die Geschichte internationales Interesse finden dürfte, muß sie mit dem Pentagon abgestimmt werden. Gut, ich fliege also gleich morgen zu der fünfeckigen Magengeschwürzuchtstätte, um mit den zuständigen Leuten zu sprechen. Wenn sie zustimmen, werden wir unseren Plan ausarbeiten. Allerdings fürchte ich, daß wir keine Klarheit haben, ehe Sie ADAM zum Kap Kennedy bringen. Diese Dinge brauchen Zeit.«
»Wieviel Zeit?«
»Das kommt darauf an. Mit dem Pentagon verhandeln, ist ein bißchen, wie eine Liebschaft mit einer Elefantenkuh haben.«
»Wieso?«
»Nun, erstens vollzieht es sich auf sehr hoher Ebene. Zweitens hat man gute Aussichten, im Lauf der Prozedur zertrampelt zu werden. Und drittens vergehen über vierundzwanzig Monate, ehe sich ein Ergebnis zeigt.«
»Oh ...«
»Dazu kommt, daß eine Geschichte von dieser Bedeutung zweifellos auch den Segen des Weißen Hauses braucht. Doch gehöre ich nicht zu denen, die sich durch so etwas erschüttern lassen. Der morgige Tag findet mich auf dem Weg nach Washington.«
»Callaghan, Sie sind ein guter Kamerad.«
»McDermott, damit haben Sie völlig recht.«
Die beiden tranken sich zu.
Dann sagte Callaghan: »Sobald ich grünes Licht aus dem Rätselpalast erhalte, setze ich den Termin für eine Pressekonferenz auf Kap Kennedy an ... Ja, und Ihre Besorgnis um ADAMs Moral kann ich verstehen. Ich tadle sein Verlangen nicht, in die menschliche Gesellschaft zurückzukehren.«
»Apropos ADAMs Moral. Ich frage mich, ob Sie mir einen Gefallen tun würden, Cal?«
»Welchen?«
»Zu ADAM hineinschauen. Vielleicht können Sie ihn aufheitern. Er schien mir ziemlich bedrückt.«
»Stimmt etwas nicht?«
»Nun, er bekam heute durch Luftpost ein Paket Zeitungen aus Los Angeles. Alle Nummern der Los Angeles Times seit dem Tag, an dem Horace ›Crash‹ Murphy ermordet wurde. Er hatte sie telefonisch anfordern lassen. Wie Sie wissen dürften, hat die Polizei wegen dieses Mordes eine gewisse Diane LaFlare festgenommen.«
»Ja. Sie stand mit einem Harpunengewehr neben dem Swimmingpool, nicht wahr?«
»So ist es. Freund ADAM studierte alle Berichte über den Mordfall sehr genau. Irgend etwas dabei scheint ihn verstimmt zu haben.«
»Ganz verständlich. Wenn jemand sich einfallen ließe, meinen exquisiten Körper mit einer Harpune zu durchlöchern, läge mir auch enorm viel daran, daß dieser Jemand sein Fett abkriegt!«
»Es ist mehr als das.« McDermott nahm einen langen Schluck aus seinem Glas. »Hier wird ein einzigartiges gesetzliches Problem berührt. Praktisch ist Horace Murphy tot und beerdigt ...«
»Stimmt. Ich las über die Beisetzung. Glanzvolle Veranstaltung. Vermutlich wissen Sie, daß er in einem Callaghansarg beigesetzt wurde, Modell 18-B, Typ ›Schlummerlied‹, ausgestattet mit Transistorradio für Orgelmusik und gemischten Chor.«
»Horace Murphy ist für das Gesetz tot und begraben und dennoch höchst lebendig. Er hat nur seinen Körper älterer Bauart gegen ein neues Modell vertauscht.« McDermott leerte sein Glas. »Wissen Sie, Cal, mir scheint, wir haben da einige komplizierte Rechtsprobleme geschaffen.«
»Dem ist kaum zu widersprechen«, bestätigte Callaghan und bestellte neue Drinks.
»Zum Beispiel die Mordanklage. Offenkundig ist es Diane LaFlare nicht gelungen, Murphy zu ermorden. Folglich kann sie auch nicht unter Mordanklage gestellt werden.«
»Oho! Da liegt aber ein recht überzeugendes Beweisstück in einem prächtigen Callaghansarg anderthalb Meter unter dem Friedhofsrasen! Der Umstand, daß ihr zwei Unholde ein Bestandteil aus Murphys Anatomie entfernt habt, macht die Täterin nicht weniger schuldig. Sie hat in mörderischer Absicht das Harpunengewehr abgedrückt. Dafür muß sie bestraft werden.«
»Aber bedenken Sie, Cal – dasselbe Gehirn, das einen Körper aus Fleisch und Blut im Swimmingpool eines Hollywoodstarlets herumturteln ließ, steuert jetzt einen raumfahrtgemäßen neuen Körper in hitziger Verfolgungsjagd auf eine hübsche Krankenschwester durch die Hospitalkorridore. Ich behaupte, dieser Mord hat nie stattgefunden.«
»Wi-wi-wissen Sie, was ich denke?« Der fünfte Martini machte Callaghans Zunge schwer und seine Augenlider auch. »I-i-ich denke, dies ist eine Angelegenheit, die nur von den Rechtsgelehrten entschieden werden kann.«
»Dem stimme ich zu«, versicherte McDermott, auch seinerseits gegen gewisse Ermüdungserscheinungen kämpfend. »U-u-und ich beneide die Gentlemen nicht um ihren Job.«
»I-i-ich auch nicht. Aber wissen Sie – i-i-ich finde, ich habe Mühe, meiner Unterhaltung zu folgen, von Ihrer ganz zu schweigen. Beenden wir das Thema Rechtsprechung. Nehmen wir noch einen für den Weg. Dann gehen wir ADAM besuchen und mu-mu-muntern ihn auf.«
McDermott hatte eben die Drinks bestellt, als er seinen Namen aus dem Lokallautsprecher tönen hörte: »Captain McDermott wird am Telefon verlangt.«
Er entschuldigte sich bei Callaghan und ging auf etwas unsicheren Füßen zu dem Telefon am anderen Ende der Bar.
Callaghan blickte ihm nach. Er sah, wie McDermott den Hörer ans Ohr nahm, einen Moment lang lauschte, plötzlich blaß wurde und heftig gestikulierend ins Telefon sprach, um schließlich den Hörer auf den Apparat zu knallen und hastig zurückzukommen.
»Verdammt«, knurrte McDermott. »Darauf hätte ich gefaßt sein müssen.« Er stürzte den Inhalt seines Glases hinunter und zog Callaghan am Ärmel. »Trinken Sie aus, mein Freund. Wir haben dringende Arbeit zu tun.«
Ehe Callaghan sich sammeln konnte, war McDermott schon auf dem Weg zur Tür. Callaghan ließ seinen Martini stehen, eilte hinter McDermott her und rief: »Wohin so schnell? Brennt's?«
»Schlimmer«, knurrte McDermott über die Schultern. »Der Anruf war von Suzy. ADAM ist verschwunden!«