15
Die Welt steht Kopf

Mau erwachte. Eine fremde Frau löffelte ihm Schleimsuppe in den Mund. Als sie sah, wie sich seine Augen öffneten, stieß sie einen kurzen Schrei aus, küsste ihn auf die Stirn und rannte aus der Hütte. Mau ließ sich zurücksinken und starrte zur Decke, während seine Erinnerungen langsam zurückkamen. Manches war etwas verschwommen, aber der Baum und die Axt und der sterbende Cox waren so klar und deutlich wie der kleine Gecko, der ihn kopfüber von oben betrachtete. Doch es war, als würde er jemand anderen betrachten, der sich ein Stück vor ihm befand. Es war eine andere Person, und diese Person war er…

Er fragte sich, ob…

»Geschieht nicht!« Der Schrei zuckte wie ein Blitz durch seinen Kopf, weil er aus einem Schnabel kam, der nur eine Handspanne von seinem Ohr entfernt war. »Zeig uns deinen« – dann murmelte der Papagei leise vor sich hin, bis er fast mürrisch fortfuhr – »Unterrock!«

»Ah, sehr gut. Wie geht es dir?«, sagte das Geistermädchen und trat ein.

Mau fuhr hoch. »Du bist von oben bis unten voller Blut!«

»Ja, ich weiß. Und damit wäre auch meine letzte gute Bluse ruiniert«, sagte Daphne. »Aber dafür geht es ihm jetzt schon viel besser. Eigentlich bin ich sogar ziemlich stolz auf mich. Ich musste einem Mann das Bein unter dem Knie absägen! Und ich habe die Wunde mit heißem Teer versiegelt, genau wie es im Handbuch steht!«

»Tut das nicht weh?«, sagte Mau und legte sich wieder auf die Matte. Das Sitzen hatte ihn schwindlig gemacht.

»Nicht, wenn man den Teereimer am Henkel hält.« Sie bemerkte seinen verständnislosen Gesichtsausdruck.

»Entschuldigung, das sollte ein Witz sein. Ich danke den Göttern für Mrs. Glucker. Sie kann jeden schlafen lassen, ganz gleich, was man mit ihm anstellt. Auf jeden Fall glaube ich, dass der Mann überleben wird, was er mit dieser schrecklichen Wunde wohl nicht geschafft hätte. Und heute früh musste ich einen Fuß abtrennen. Der war schon ganz… na ja, es war ziemlich schlimm. Sie haben ihre Gefangenen sehr schlecht behandelt.«

»Und du hast ihnen die faulen Stücke abgeschnitten?«

»Das nennt sich Chirurgie, danke der Nachfrage. Es ist gar nicht so schwierig, wenn ich jemanden finde, der das Handbuch auf der richtigen Seite aufgeschlagen halten kann.« »Nein! Nein, ich glaube nicht, dass es falsch ist«, sagte Mau hastig. »Es ist nur… dass du so etwas tust. Ich dachte, du könntest es nicht ertragen, Blut zu sehen.«

»Deshalb versuche ich, die Blutungen zu stillen. Ich kann etwas dagegen tun! Komm jetzt, probier mal, dich aufzusetzen.«

Sie legte die Arme um ihn.

»Wer war die Frau, die mich gefüttert hat? Ich habe sie schon mal gesehen.«

»Ihr wirklicher Name lautet Fi-ha-el, sagt sie…«, antwortete Daphne, und Mau musste sich an der Wand abstützen. »Am Anfang haben wir sie ›die Unbekannte Frau‹ genannt und jetzt ›die Papierrebenfrau‹.«

»Das war sie? Aber sie sah doch ganz anders aus…«

»Ihr Mann war in einem der Kanus. Sie hat ihn sofort gefunden und selbst ans Ufer getragen. Ich wüsste zu gern, woher sie wusste, in welchem er war. Ich habe sie zu dir geschickt, damit sie sich um dich kümmert, weil… nun ja, weil es sein Bein war, das ich absägen musste.«

»Newton war der Größte!«, schrie der Papagei und wippte auf und ab.

»Und ich dachte, der Papagei wäre tot!«

»Ja, alle dachten, der Papagei wäre tot«, sagte Daphne, »nur nicht der Papagei. Gestern tauchte er wieder auf. Mit einer Zehe und vielen Federn weniger, aber ich glaube, er wird schon zurechtkommen, sobald sein Flügel verheilt ist. Bis dahin läuft er den Großvatervögeln hinterher. Das können sie wirklich überhaupt nicht ausstehen. Und ich habe angefangen, äh, an seiner Sprache zu arbeiten.«

»Ja, das dachte ich mir schon«, sagte Mau. »Was ist Njuten?«

»Newton«, korrigierte Daphne ihn geistesabwesend. »Weißt du noch, wie ich dir von der Royal Society erzählt habe? Er gehörte zu den ersten Mitgliedern. Er war der größte Wissenschaftler, der je gelebt hat, glaube ich, doch als alter Mann sagte er, dass ihm sein Leben so vorkam, als sei er nur ein kleiner Junge gewesen, der am Strand mit Steinchen gespielt hat, während das große Meer der Wahrheit noch gänzlich unentdeckt vor ihm lag.«

Maus Augen weiteten sich, und sie musste erschrocken feststellen, dass er schon seit sehr langer Zeit nicht mehr so jung ausgesehen hatte.

»Er stand auf diesem Strand?«

»Äh, wohl nicht auf diesem«, sagte Daphne. »Eigentlich geht es aber auch gar nicht um einen Strand. So etwas nennen die Hosenmenschen eine Metapher. Eine Art Lüge, die einem hilft, die Wahrheit zu verstehen.«

»Ach, so etwas kenne ich sehr gut.«

»Ja, das glaube ich«, sagte Daphne lächelnd. »Jetzt komm mit nach draußen an die frische Luft.«

Sie nahm seine Hand. Er hatte ein paar böse Schrammen, wusste aber nicht mehr, woher sie stammten, sein ganzer Körper fühlte sich steif an, und an der Stelle, wo sein Ohr gewesen war, pochte nun eine ausgefranste Wunde, aber es hätte viel schlimmer kommen können. Er erinnerte sich an die Kugel im Wasser, wie sie langsamer wurde und ihm in die Hand fiel. Wasser konnte sehr hart sein, was man deutlich zu spüren bekam, wenn man mit dem Bauch zuerst aus größerer Höhe aufklatschte, aber trotzdem…

»Komm schon!«, sagte Daphne und zerrte ihn ins Licht. Der Frauenhain war voller Menschen. Auf den Feldern wurde gearbeitet. Am Strand herrschte emsiges Treiben. Sogar ein paar Kinder spielten in der Lagune.

»Wir haben noch so viel zu tun«, sagte Mau kopfschüttelnd.

»Die Leute tun es bereits«, erwiderte Daphne.

Sie sahen schweigend zu. Bald würden die Leute Sie bemerken, und dann würden sie in die Welt zurückkehren, aber im Augenblick waren sie einfach nur Teil der Kulisse.

Nach einer Weile sagte das Mädchen: »Ich kann mich noch erinnern, als hier… nichts war und es nur einen Jungen gab, der mich nicht einmal gesehen hat.«

Und der Junge sagte: »Ich kann mich an ein Geistermädchen erinnern.«

Nach noch längerem Schweigen fragte das Mädchen: »Würdest du gerne in der Zeit zurückgehen? Wenn du könntest?«

»Du meinst ohne die Welle?« »Ja. Ohne die Welle.«

»Dann wäre ich heimgekehrt, und alle wären noch am Leben, und ich wäre jetzt ein Mann.«

»Wärst du lieber jener Mann? Würdest du gerne mit ihm tauschen?«, fragte das Geistermädchen.

»Statt ich zu sein? Statt von der Weltkugel erfahren zu haben?

Statt dir begegnet zu sein?«

»Ja.«

Mau öffnete den Mund zu einer Antwort und stellte fest, dass seine Stimme unter dem Ansturm der Worte erstickt wurde. Er musste warten, bis er einen Weg fand, der hindurchführte.

»Wie könnte ich dir antworten? Dafür gibt es keine Sprache. Da war ein Junge namens Mau. Ich sehe ihn in meiner Erinnerung, voller Stolz, weil er ein Mann werden sollte. Er weinte um seine Familie und verwandelte seine Tränen in Zorn. Und wenn er könnte, würde er ›Ist nicht geschehen!‹ sagen, und die Welle würde rückwärts rollen und wäre nie gewesen. Aber es gibt einen anderen Jungen, der auch Mau heißt, und sein Kopf steht in Flammen, weil so viele neue Dinge darin sind. Was sagt er? In der Welle wurde er geboren, und er weiß, dass die Welt rund ist, und er ist einem Geistermädchen begegnet, dem es leid tut, auf ihn geschossen zu haben. Er nannte sich selbst den kleinen, blauen Einsiedlerkrebs, der über den Sand huschte und nach einem neuen Schneckenhaus suchte, doch nun blickt er in den Himmel und weiß, dass es kein Schneckenhaus gibt, das groß genug für ihn wäre. Du fragst ihn, ob er nicht sein möchte? Jede Antwort wäre eine falsche Antwort. Ich kann nur der sein, der ich bin. Aber manchmal höre ich in mir den Jungen, der um seine Familie weint.«

»Weint er auch jetzt?«, fragte Daphne und blickte zu Boden.

»Jeden Tag. Aber nur sehr leise. Du kannst ihn nicht hören. Pass auf, ich muss dir etwas erzählen. Locaha hat zu mir gesprochen. Am Strand hat er seine großen Flügel über mich gebreitet und die Räuber verjagt. Hast du es gesehen?«

»Nein. Die Räuber ergriffen die Flucht, sobald Cox ins Wasser stürzte«, sagte Daphne. »Willst du damit sagen, dass du dem Tod begegnet bist? Schon wieder?«

»Er hat mir gesagt, dass es mehr Welten als Zahlen gibt. So etwas wie ›Geschieht nicht‹ gibt es nicht. Dafür gibt es immer ein ›Geschieht irgendwo anders‹…« Er versuchte, es ihr zu erklären, und sie bemühte sich, ihn zu verstehen.

Als ihm die Worte ausgingen, sagte sie: »Du meinst, es gäbe eine Welt, in der die Welle nicht geschehen ist? Irgendwo… da draußen?«

»Ich glaube, ja… ich glaube, ich habe sie fast gesehen. Manchmal in der Nacht, wenn ich das Ufer bewache, kann ich sie fast sehen. Ich kann sie beinah hören! Und dort gibt es einen anderen Mau, einen Mann, der wie ich ist, und er tut mir leid, denn in seiner Welt gibt es kein Geistermädchen…«

Sie legte die Arme um seinen Hals und zog ihn behutsam näher heran. »Ich würde gar nichts ändern wollen«, sagte sie. »Hier bin ich nicht nur so etwas wie eine Puppe. Mein Leben hat einen Sinn. Die Menschen hören mir zu. Ich habe erstaunliche Dinge getan. Wie könnte ich in mein früheres Leben zurückkehren?«

»Wirst du das auch deinem Vater erzählen?« Seine Stimme klang plötzlich traurig.

»So etwas in der Art, denke ich, ja.«

Mau drehte sie vorsichtig herum, so dass sie aufs Meer hinausblicken konnte.

»Da kommt ein Schiff«, sagte er.

Der Schoner hatte draußen vor dem Riff bereits den Anker geworfen, als sie die Lagune erreichten. Daphne watete so weit hinaus, wie sie konnte, ohne darauf zu achten, dass ihr Rock vom Wasser emporgehoben wurde, während das Schiff ein Beiboot aussetzte.

Vom Ufer aus beobachtete Mau, wie der Mann im Bug des kleinen Bootes ins Wasser sprang, sobald es Daphne erreicht hatte. Dann watete er mit ihr zum Strand, dabei stützten sie einander und lachten und weinten gleichzeitig. Die Menge zog sich zurück und machte ihnen Platz, als sie sich in die Arme fielen. Mau jedoch behielt die zwei Männer im Auge, die gerade aus dem Boot stiegen. Sie trugen rote Jacken und hielten komplizierte Stöcke in den Händen, und sie sahen Mau an, als wäre er bestenfalls ein Ärgernis.

»Lass mich dich anschauen«, sagte Seine Exzellenz und trat zurück. »Aber du siehst ja… Was ist mit dir passiert? Deine Schulter blutet! Wir haben einen Arzt an Bord, ich werde ihn sofort…«

Daphne blickte an sich herab. »Das ist nur ein Spritzer«, sagte sie mit einer wegwerfenden Geste. »Außerdem ist es gar nicht mein Blut. Ich musste einem Mann das Bein absägen und hatte noch keine Zeit zu waschen.«

Hinter ihnen stieg ein dritter Soldat aus dem Boot. In der Hand hielt er ein dickes Rohr, das er nun entrollte. Er warf Mau einen nervösen Blick zu.

»Was ist hier los?«, wollte Mau wissen. »Warum haben sie Waffen? Was tut dieser Mann?« Er trat vor, und im nächsten Augenblick versperrten ihm zwei Bajonette den Weg.

Daphne drehte ihren Kopf und riss sich von ihrem Vater los.

»Was soll das?«, rief sie. »Ihr könnt ihn nicht daran hindern, sich frei in seinem eigenen Land zu bewegen! Was ist in dieser Röhre? Eine Flagge, nicht wahr? Ihr habt eine Flagge mitgebracht! Und Waffen!«

»Liebes, aber wir wussten doch nicht, was wir vorfinden würden«, sagte ihr Vater erstaunt. »Schließlich sind da oben Kanonen.«

»Ja, gut, richtig«, murmelte Daphne und stolperte über ihre eigene Wut. »Die sind nur Attrappen.« Erneut flammte ihr Zorn auf. »Aber diese Waffen nicht! Legt sie nieder!«

Seine Exzellenz nickte den Männern zu, die ihre Musketen sehr vorsichtig, aber auch sehr schnell auf den Sand legten. Milo hatte soeben den Strand betreten, um zu sehen, was los war, und er machte wie üblich einen imposanten Eindruck.

»Und die Flagge!«, sagte Daphne.

»Nur einen Moment, Evans, wenn Sie so freundlich wären«, sagte Seine Exzellenz.

»Hör mal, Liebes, wir haben nicht vor, diesen, äh…« Er blickte zu Milo auf. »… diesen netten Leuten etwas zuleide zu tun, aber wir müssen unseren Anspruch auf die Muttertagsinseln untermauern. Wir betrachten sie lediglich als Ausläufer des Archipels der Rosenmontagsinseln…«

»Wer ist wir? Du?«

»Nun, in letzter Konsequenz der König…«

»Er kann sich diese Insel nicht nehmen!«, schrie Daphne. »Er braucht sie gar nicht! Er darf sie nicht haben! Er ist noch nicht einmal mit Kanada fertig!«

»Mein Liebes, ich hege die Befürchtung, dass die Entbehrungen auf dieser Insel dich gewissermaßen in Mitleidenschaft…«, begann Seine Exzellenz.

Daphne wich einen Schritt zurück. »Entbehrungen? Es gibt keinen Ort, an dem ich lieber wäre als hier! Ich habe geholfen, zwei Babys auf die Welt zu bringen. Ich habe einen Mann getötet…«

»Den, dessen Bein du abgesägt hast?«, fragte ihr Vater verblüfft.

»Was? Den? Nein, ihm geht es sehr gut«, sagte Daphne irritiert. »Der Mann, den ich getötet habe, war ein Mörder. Und ich habe Bier gebraut. Wirklich gutes Bier! Vater, du musst mir jetzt zuhören. Es ist sehr wichtig, dass du es jetzt verstehst. Dies ist das andere Ende der Welt, Vater, wirklich. Hier ist der Anfang. Hier… ist der Ort, an dem du Gott Absolution erteilen könntest.«

Sie hatte nicht vorgehabt, ihm das zu sagen, es war ihr einfach herausgerutscht. Ihr Vater stand betroffen da.

»Es tut mir leid«, fügte sie hinzu, »aber du und Großmutter, ihr habt in jener Nacht so laut geschrien, dass ich es unmöglich hätte überhören können.« Und da in einem solchen Moment eine Lüge fehl am Platz gewesen wäre, schob sie noch hinterher: »Zumal ich mir alle Mühe gegeben habe, die Ohren weit aufzusperren.«

Er sah sie mit grauem Gesicht an. »Was ist so besonders an dieser Insel?«, fragte er.

»Hier gibt es eine Höhle mit wunderbaren Statuen und Reliefs.

Sie ist uralt. Sie könnte über hunderttausend Jahre alt sein.«

»Höhlenmenschen«, sagte Seine Exzellenz ruhig.

»Ich glaube, an der Höhlendecke sind sogar Sternenkarten abgebildet. Dieses Volk hat… praktisch alles erfunden. Diese Leute sind schon um die ganze Welt gesegelt, als wir noch an unseren Lagerfeuern kauerten. Ich kann es beweisen.« Daphne nahm die Hand ihres Vaters. »Wir haben noch etwas Öl für die Lampen«, sagte sie. »Ich will es dir zeigen. Nicht Ihnen!«, rief sie, als die Wachen Haltung annahmen. »Sie werden hierbleiben. Und niemand wird versuchen, irgendwelches Land in Besitz zu nehmen, solange wir fort sind, ist das klar?«

Die Männer blickten zu Seiner Exzellenz. Er zuckte nur unbestimmt mit den Schultern – der Mann war durch und durch vertochtert.

»Ihr Wunsch ist mir Befehl«, sagte er nur.

Die Tochter nahm den Vater bei der Hand. »Komm mit und schau es dir an.«

Sie liefen den Pfad hinauf, waren aber noch nicht außer Hörweite, als Pilu zu den Soldaten ging und sagte: »Möchtet ihr etwas Bier?«

»Lass sie erst davon trinken, wenn sie hineingespuckt und sechzehnmal Bi-Ba-Butzemann gesungen haben«, kam von oben die Anweisung. »Und sag ihnen, dass wir Lampenöl brauchen.«

Das Erste, was ihr Vater sagte, als er die Götter sah, war:

»Grundgütiger!« Und nachdem er sich alles eine Weile mit offenem Mund angeschaut hatte, stieß er hervor: »Unglaublich! All das gehört in ein Museum!«

Das konnte sie nicht unwidersprochen im Raum stehen lassen, also sagte sie: »Ja, ich weiß. Deshalb befindet es sich ja auch in einem.«

»Und wer kann es sich hier unten ansehen?«

»Jeder, der kommt und es sich ansehen will, Papa. Und das dürfte so ziemlich jeder Wissenschaftler der Welt seIn.«

»Dieser Ort liegt weit entfernt von allen bedeutenden Erdregionen«, stellte Seine Exzellenz fest und glitt mit den Fingern über den steinernen Globus.

»Nein, Papa. Dies ist die bedeutende Erdregion. Alle anderen liegen weit entfernt von hier. Und für die Mitglieder der Royal Society würde es ohnehin keine Rolle spielen. Sie würden selbst in Bleistiefeln hier raufschwimmen!«

»Wohl eher hier runter, würde ich meinen«, sagte ihr Vater.

Daphne gab dem Globus einen Schubs. Er rollte ein kleines Stück, und die Kontinente tanzten. Aber nun stand die Welt kopf. »Die Erde ist ein Planet, Papa. Oben oder unten – das hängt ganz davon ab, von wo man es betrachtet. Ich glaube, die Menschen hier hätten nichts dagegen, wenn für alle großen Museen Kopien angefertigt werden. Aber nehmt ihnen diesen Ort nicht weg. Er gehört ihnen.«

»Ich glaube, die meisten Menschen werden sagen, dass er der ganzen Welt gehört.«

»Und dabei werden sie wie Diebe denken. Wir haben überhaupt kein Recht darauf. Aber wenn wir uns nicht wie dumme Rüpel verhalten, werden sie bestimmt großzügig sein.«

»Großzügig«, sagte ihr Vater und schob das Wort in seinem Mund hin und her, als wäre es ein seltsam schmeckender Keks.

Daphne kniff die Augenlider zusammen. »Du willst doch wohl nicht etwa andeuten, dass Großzügigkeit etwas ist, das man nur am anderen Ende der Welt findet, oder, Papa?« »Nein, du hast ja recht. Natürlich werde ich tun, was ich kann. Mir ist klar, dass dieser Ort von großer Bedeutung ist.«

Sie küsste ihn.

Als er erneut sprach, klang er nervös und schien nicht genau zu wissen, wie er sich ausdrücken sollte. »Also ist es dir hier… auch gut ergangen? Hast du ordentlich gegessen? Eine sinnvolle Beschäftigung gefunden… ähm… abgesehen von dem Absägen von Beinen?«

»Es war nur ein einziges Bein, wirklich. Ach so, und noch ein Fuß. Ich war Geburtshelferin bei zwei Babys aber um ehrlich zu sein, habe ich beim ersten Mal eigentlich nur zugesehen und ein Lied gesungen. Und ich habe von Mrs. Glucker viel über Medizin gelernt, als Gegenleistung, wenn ich ihr Fleisch für sie vorgekaut habe…«

»Du hast… ihr Fleisch… für sie… vorgekaut…«, wiederholte ihr Vater wie unter Hypnose.

»Weil sie keine Zähne mehr hat, verstehst du?«

»Ach ja, natürlich.« Seine Exzellenz trat unbehaglich von einem Bein auf das andere. »Und hast du noch weitere… Abenteuer erlebt?«

»Lass mich nachdenken… ich wurde vor dem Ertrinken gerettet, von Mau, der hier jetzt der Häuptling ist… ach ja, und ich bin einem Kannibalenhäuptling begegnet, der genauso aussieht wie der Premierminister!«

»Tatsächlich?«, sagte ihr Vater. »Obwohl, wenn ich es mir recht überlege, ist es gar nicht so schwer, sich das vorzustellen.

Und… äh… war jemand… hat irgendjemand… versucht… garstig zu dir… zu sein?«

Er sagte es so vorsichtig, dass sie fast gelacht hätte. Väter!

Aber von den kichernden Dienstmädchen und dem Küchentratsch konnte sie ihm nichts erzählen, ganz zu schweigen von Cahles Witzen. Sie hatte sehr viel Zeit im Frauenhain verbracht.

Er konnte wohl kaum erwarten, dass sie mit geschlossenen Augen und Fingern in den Ohren herumlief!

»Nur der Mörder. Er hatte zur Besatzung der Judy gehört, wie ich zu meinem Bedauern sagen muss. Er hat jemanden erschossen, und dann hat er eine Pistole auf mich gerichtet.«

»Gütiger Himmel!«

»Also habe ich ihn vergiftet. Das heißt, gewissermaßen. Aber die Nation hat geurteilt, dass es so etwas war wie.,. Wie nennt man es, wenn ein Henker jemanden aufhängt?«

»Äh… eine richterlich angeordnete Exekution?«, sagte Seine Exzellenz und musste sich alle Mühe geben, um den Anschluss nicht zu verlieren.

»Genau. Und einem anderen Mann habe ich mit einer Lehmschale die Nase gebrochen, weil er gedroht hat, mich zu erschießen.«

»Wirklich? Na, in diesem Fall hätte es wohl zu lange gedauert, ihn zu vergiften«, sagte Seine Exzellenz in dem Bemühen, das Beste daraus zu machen. Im Lampenschein sah sein Gesicht schauderhaft aus, als würde es aus Wachs bestehen und jeden Moment schmelzen.

»Während ich so darüber spreche, kommt es mir in der Tat ein wenig… ähm…« Sie verlor den Faden. »Ereignisreich vor?«, half ihr Vater aus.

Und dann erzählte sie ihm auch noch alles andere – wie der Mond auf die Lagune schien, und wie hell die Sterne hier leuchteten, von der Meuterei, dem bedauernswerten Captain Roberts, dem Papagei, den roten Krabben, den Pantalonvögeln und dem Kraken, der auf Bäume kletterte, und vom Ersten Offizier Cox, während die Götter auf sie herabschauten. Sie schleppte ihn entlang der über hundert weißen Steintafeln an den Wänden und redete ununterbrochen.

»Sieh nur, das ist eine Giraffe. Sie wussten von Afrika!

Da drüben ist sogar ein Elefant, aber es könnte auch ein indischer sein. Das hier ist eindeutig ein Löwe. In einem der Steine, die jetzt am Strand liegen, ist ein Pferd eingraviert. Und wer sollte schon ein Pferd hierherbringen? Aber die Darstellungen auf diesen Reliefs hier kenne ich nicht, also habe ich mir überlegt, ob dieser Teil vielleicht so etwas wie ein Alphabet sein könnte – A wie Apfel und so weiter. Aber hier sind auch überall diese Linien und Punkte zu sehen, so dass ich damit auch völlig falschliegen könnte. Und schau mal, wie oft hier Hände abgebildet sind! Sie dienen ganz bestimmt zum Größenvergleich.

Und da drüben…« Und so weiter und so fort, bis sie ihren Monolog schließlich mit einer kühnen Behauptung endete: »Und ich bin mir sicher, dass sie ein Teleskop hatten.«

»Ganz bestimmt nicht! Gibt es davon etwa ein Relief?«

»Das nicht. Aber viele Tafeln fehlen.« Dann erzählte sie ihm von den Söhnen des Jupiter und dem Gürtel des Saturn.

Er schien nicht sehr beeindruckt und tätschelte ihre Hand.

»Oder der Himmel war in früheren Zeiten klarer, oder es gab jemanden mit außergewöhnlich guter Sehkraft.«

»Aber ich habe eine plausible wissenschaftliche Erklärung gefunden!«

Ihr Vater schüttelte den Kopf. »So sehr ich dich liebe, aber das ist nur eine Vermutung. Und, lass mich dir das sagen, eine Hoffnung. Du musst härter daran arbeiten, mein Mädchen.«

Ach so, jetzt kommen wieder die Streitgespräche, die wir so oft auf dem Heimweg von der Royal Society hatten, dachte Daphne. Ich werde also kämpfen müssen. Sehr gut!

Sie zeigte auf die Götter.

»Sie glänzen, weil sie mit winzigen Glasplättchen besetzt sind«, sagte sie. »Gehalten werden sie von Bleinägeln. Einer der Jungen ist für mich hinübergeschwommen und hat es sich angesehen. Diese Menschen wussten, wie man gutes Glas macht!«

Ihr Vater, der mit dem Rücken gegen den kühlen Stein gelehnt da saß, nickte. »Das ist recht wahrscheinlich. Viele Kulturen kannten Glas. Wir haben hier den Anfang einer Hypothese, aber du hast deinen Linsenschleifer noch nicht gefunden.«

»Papa, mein gesunder Menschenverstand sagt mir, dass ein Glaser früher oder später eine Luftblase in dem Glas bemerkt und sieht, wie das Licht…«

Ihr Vater hob eine Hand. »Die Wissenschaft interessiert sich nicht für den ›gesunden Menschenverstand‹«, sagte er. »Für den gesunden Menschenverstand ist völlig klar, dass die Erde flach ist. Unser Wissen dagegen sagt uns, dass die Römer einfache Linsen verwendeten und dass Brillen nicht vor dem dreizehnten Jahrhundert erfunden wurden. Mutmaßlich gilt der Italiener Salviano d’ Armati als…«

»Warum stellst du immer so sehr die Nordhalbkugel in den Mittelpunkt?«, sagte Daphne. »Stell die Welt auf den Kopf!«

Sie zog ihren Vater zur Wand neben dem Globus und zeigte auf ein Relief. »Du erinnerst dich, dass sie gerne darstellen, wie Dinge von Händen gehalten werden?« Sie hob die Lampe.

»Da! Sieht das nicht verblüffend nach einer Brille aus?«

Er nahm die Illustration kritisch in Augenschein wie jemand, der sich zwischen Kuchen und Torte entscheiden musste.

»Es wäre denkbar«, sagte er schließlich, »aber es könnte auch eine Maske oder eine Waage sein – oder etwas mit unbekannter religiöser Bedeutung. Leider muss ich dir sagen, dass es dir auch nicht weiterhilft.«

Daphne seufzte. »Aber wenn ich einen Beweis finde, dass sie Linsen kannten, würdest du mir dann zustimmen, dass sie vielleicht wussten, wie man ein Teleskop baut?«

»Ja, das wäre plausibel. Allerdings wäre ich nicht überzeugt davon, dass sie es getan haben, sondern nur, dass sie es hätten tun können.«

»Komm mit.«

Diesmal führte sie ihn auf die andere Seite der Götter, zu einer Wandnische, aus der die weiße Steintafel herausgefallen war.

»Einer der Jungen hat sie im Schlick am Grund des Götterteichs gefunden. Das eine Glas ist zerbrochen, und das andere hat einen Riss, aber man kann deutlich erkennen, dass es Linsen waren. Sei vorsichtig.« Sie legte sie ihm behutsam in die Hand.

Er blinzelte. »Eine Brille mit Goldrand…«, hauchte er.

»Habe ich jetzt meine Teleskop-Hypothese bewiesen, Papa?«, sagte sie zufrieden. »Wir wissen, dass es nur ein kleiner Schritt von der Brille zum Fernrohr ist.«

»Zumindest in einem historischen Präzedenzfall. Warum hast du sie mir nicht gleich gezeigt?«

»Ich wollte nur, dass du mir korrektes wissenschaftliches Arbeiten bescheinigst!«

»Gut gemacht«, sagte Seine Exzellenz. »Du hast in der Tat eine bezwingende Hypothese aufgestellt, aber zu meinem Bedauern muss ich dir sagen, dass du keineswegs die gesamte Theorie bewiesen hast. Dazu müsstest du tatsächlich ein Teleskop finden.«

»Das ist ungerecht!«, sagte Daphne.

»Nein, das ist Wissenschaft«, erwiderte ihr Vater. »Ein ›Könnte gewesen sein‹ genügt nicht. Auch nicht ein ›Es wäre möglich‹! Dazu ist schon ein ›So war es‹ nötig. Und wenn du mit einer solchen Hypothese an die Öffentlichkeit trittst, werden sehr viele Leute versuchen, dich zu widerlegen. Je häufiger sie dabei versagen, desto seltener wird man dich anzweifeln. Aber wahrscheinlich würden sie sogar darauf pochen, dass irgendein europäischer Reisender hier war und seine Brille verloren hat.«

»Und die falschen Zähne aus Gold?«, sagte Daphne schnippisch und erzählte ihm, was sich Mrs. Glucker als kostbarsten Besitz angeeignet hatte.

»Die würde ich mir sehr gern ansehen. So etwas werden viele Leute leichter akzeptieren können. Aber lass dich wegen des Teleskops nicht entmutigen. Zumindest steht unzweifelhaft fest, dass diese Insel die Heimat einer bislang unbekannten Seefahrerkultur war, die in den technischen Künsten große Fortschritte erzielte. Gütiger Himmel, die meisten Leute würden Freudentänze aufführen, wenn sie all das hier entdeckt hätten!«

»Nicht ich hab es entdeckt, sondern Mau«, sagte Daphne.

»Ich musste ihm nur über die Schulter blicken. Er musste an hunderttausend Vorfahren vorbeigehen. Es waren seine Vorfahren, die diese Höhle gebaut haben. Und sie haben den Globus mit dem Symbol einer Welle vor dem Sonnenuntergang verziert. Dieses Symbol trug seit Jahrtausenden jeder Mann von diesen Inseln als Tätowierung. Ich habe es gesehen! Und weißt du was? Ich kann beweisen, dass vor mir kein Europäer diese Höhle je betreten hat.«

Daphne blickte sich um, und ihr Brustkorb hob und senkte sich leidenschaftlich. »Siehst du das Gold an den Göttern und auf dem Globus und an der großen Tür?«

»Ja. Natürlich, mein Liebes. Wie könnte es mir entgangen sein?«

»Das ist der Beweis«, sagte Daphne und nahm die Lampe in die Hand. »Es ist immer noch da!«

Mau hatte eine der Seekarten von der Judy auf den Knien. Offiziell war dies eine Versammlung des Inselrats – wenn auf der Insel irgendetwas offiziell gewesen wäre. Jeder konnte kommen, und genau deshalb waren viele nicht gekommen. Es gab noch mehr Neuankömmlinge, die versorgt und ernährt werden mussten. Viele von ihnen kehrten vielleicht zu ihren eigenen Inseln zurück, falls die noch existierten, aber dazu mussten sie in guter Verfassung sein. Das bedeutete noch mehr Arbeit für alle. Und manche Leute waren nicht gekommen, weil sie zum Fischen hinausgefahren waren. Wenn es um Abstimmung oder Fischfang ging, fiel die Wahl meistens auf den Seebarsch.

»Alle roten Länder gehören den englischen Hosenmenschen?«

»Ja«, sagte Pilu.

»Das sind sehr viele Länder!«

»Ja.«

»So schlimm sind sie gar nicht«, sagte Pilu. »Die meiste Zeit wollen sie nur Hosen tragen und ihren Gott verehren. Er heißt übrigens Gott.«

»Einfach nur… Gott?«

»Genau. Er hatte einen Sohn, der Zimmermann war, und wenn man auch ihn verehrt, steigt man nach dem Tod über den schimmernden Pfad auf. Die Lieder sind nett, und manchmal bekommt man einen Keks.« Pilu sah Mau aufmerksam an.

»Was denkst du, Mau?«

»Mehr Menschen werden kommen. Und manche werden Waffen haben«, sagte Mau nachdenklich.

»Wohl wahr«, bestätigte Pilu. »In der Höhle ist sehr viel von dem gelben Gold. Hosenmenschen lieben es, weil es so schön glänzt. Wenn es um Gold geht, sind sie wie Kinder.«

»Große Kinder«, sagte Milo, »mit Waffen.«

»Was meinst du, was wir tun sollten, Cahle?«, fragte Mau, der immer noch die Karten betrachtete.

Die große Frau zuckte mit den Schultern. »Ich vertraue dem Geistermädchen. Der Vater eines solchen Mädchens kann nur ein guter Mann sein.«

»Was wäre, wenn ich mit einem Kanu zur Insel der Hosenmenschen segle und dort meine Flagge in den Sand stecke?«, sagte Tom-ali. »Würde sie dann uns gehören?«

»Nein«, sagte Mau.

»Sie würden dich auslachen. Flaggen sind so etwas wie Kanonen, die flattern. Wenn du eine Flagge hast, brauchst du auch Waffen.«

»Gut. Wir haben Kanonen.«

Mau verstummte.

»Und schlechtes Schießpulver«, gab Pilu zu bedenken. »Ich glaube… wenn man ein Saugfisch in einem Meer voller Haie ist, sollte man besser neben dem größten Hai schwimmen«, sagte Milo. Dieser Vorschlag fand allgemeine Zustimmung. Der Inselrat musste noch viel über internationale Politik lernen, doch die Leute waren Experten, wenn es um Fische ging.

Alle blickten Mau an, der wieder auf den Atlas starrte. Er starrte so lange darauf, dass sie sich Sorgen machten. Etwas an ihm war anders, seit die Räuber abgezogen waren. Das sagten alle.

Er lief wie jemand, dessen Füße den Boden nur deshalb berührten, weil er sie dazu zwang. Wenn man ihn ansprach, blickte er einen an wie jemand, der einen neuen Horizont absuchte, den nur er selbst sehen konnte.

»Wir können nicht stärker sein als das Empire«, sagte er.

»Aber wir können etwas sein, was das Empire niemals wagen würde. Wir können schwach sein. Das Geistermädchen hat mir von einem Mann namens Ei-sack Nju-ten erzählt. Er war kein Krieger, und er hatte keinen Speer, aber in seinem Kopf kreisten die Sonne und der Mond, und er stand auf den Schultern von Giganten. Der König zu jener Zeit erwies ihm große Ehre, weil er die Geheimnisse des Himmels kannte. Und ich habe eine Idee. Zuerst werde ich mit dem Geistermädchen darüber reden.«

Es sollte ein Wort wie »Flitterwochen« geben, dachte Daphne, aber nicht für Jungvermählte, sondern für Vater und Tochter.

In ihrem Fall dauerte die Phase zwölf Tage, und sie kam sich vor, als wäre sie die Erwachsene und er das Kind. So hatte sie ihren Vater noch nie zuvor erlebt. Sie erkundeten die gesamte Insel, und er schnappte in kürzester Zeit sehr viel von der Sprache auf. Er fuhr mit Milo zum Fackelfischen hinaus, betrank sich im Kreis der anderen Männer sinnlos mit Bier, bis sie alle in einem der großen Kanus saßen, in mehrere Richtungen gleichzeitig paddelten und dabei ein altes Lied aus seiner Schulzeit sangen.

Er brachte ihnen Cricket bei, und sie veranstalteten ein Spiel gegen die Soldaten und Seeleute vom Schiff, wobei sie Gewehre als Schläger benutzten. Es wurde besonders interessant, als sie Cahle erlaubten, die Kugel zu werfen.

Daphnes Vater erklärte, dass Cahle nicht nur die schnellste Werferin war, die er jemals erlebt hatte, sondern dass sie obendrein ein beinahe australisches Talent für gemeine und anatomisch gezielte Würfe hatte. Nachdem die ersten drei wimmernden Soldaten zur Lagune getragen worden waren, damit sie im Wasser sitzen und ihre Schmerzen lindern konnten, warf der vierte Mann nur einen kurzen Blick auf Cahle, wie sie mit weit ausholendem Arm auf ihn zugestürmt kam, und flüchtete sich ins Gehölz, wobei er sich schützend den Helm vor die empfindlicheren Körperteile hielt. Um das Spiel zu retten, wurde sie als Werferin vom Platz geschickt, nachdem Daphnes Vater erklärt hatte, dass man Frauen wirklich nicht erlauben sollte, Cricket zu spielen, weil es ihnen an grundsätzlichem Verständnis für das Spiel mangelte. Daphne hatte jedoch den Eindruck, dass Cahle es sogar sehr gut verstanden hatte und es deshalb so schnell wie möglich beenden wollte, damit sich alle wieder interessanteren Aufgaben widmen konnten. Denn ihrer Ansicht nach war die Welt übervoll mit Dingen, die wesentlich interessanter waren als Cricket.

Für die Soldaten wurde es allerdings auch nicht viel angenehmer, als die Inselbewohner die Schlagrunde übernahmen. Denn sie waren nicht nur »teuflisch gut« darin, den Schläger zu schwingen, sondern hatten außerdem irgendwie die Idee aufgeschnappt, dass der Ball direkt auf einen gegnerischen Spieler gezielt werden sollte. Schließlich wurde das Spiel wegen der vielen Verletzten, von denen die meisten in der Lagune hockten, für unentschieden erklärt.

Und in diesem Moment kam das Schiff, woraufhin das Spiel sowieso beendet worden wäre.

Mau bemerkte es zuerst. Er war immer der Erste, wenn es auf dem Meer etwas zu entdecken gab. Es war das größte Schiff, das er je gesehen hatte, und es hatte so viele Segel, dass es aussah wie eine drohende Sturmwolke. Alle warteten am Strand, als es vor der Lagune den Anker warf und ein Boot zu Wasser ließ.

Diesmal waren es keine Soldaten, sondern vier Männer in Schwarz ruderten zum Strand.

»Du meine Güte, das ist die Cutty Wren«, sagte Seine Exzellenz und gab seinen Schläger an Pilu zurück. »Was haben die hier zu suchen? – Ahoi, Matrosen! Kann ich Ihnen meine Hilfe anbieten oder etwas anderes?«

Das Boot glitt auf den Sand, und einer der Männer sprang heraus. Er eilte zu Daphnes Vater und zog ihn unter leichtem Protest ein Stück über den Strand vom Spielfeld weg.

Das folgende Gespräch war verwirrend für Mau, weil der Mann in der schwarzen Kleidung flüsterte, während Seine Exzellenz mit lauter Stimme zurückfragte.

Also hörte er so etwas wie ein hektisches Summen, das von kurzen Explosionen unterbrochen wurde, zum Beispiel »Ich?«… »Was dann, alle?«… »Was ist mit Onkel Bernie? Ich weiß genau, dass er in Amerika ist!«… »Dort gibt es Löwen?«… »Hören Sie, ich bin wirklich nicht… «… »Hier und jetzt?«… »Natürlich wünscht sich niemand einen zweiten Richard Löwenherz, aber wir müssen doch bestimmt nicht…« und so weiter.

Dann hob Seine Exzellenz eine Hand, um den Mann in Schwarz zum Schweigen zu bringen, und wandte sich an Mau. Er wirkte erschüttert und sagte mit angestrengter Stimme: »Sir, wären Sie so freundlich, meine Tochter zu holen? Ich glaube, sie weilt im Damenhain und näht irgendjemanden zusammen. Äh, ich bin mir sicher, dass es sich um ein Missverständnis handelt. Zweifellos gibt es keinen Grund, sich Sorgen zu machen.«

Als Mau mit Daphne zurückkehrte, hatten sich die Soldaten Seiner Exzellenz, die über eine Woche lang in Hemdsärmeln herumgelaufen waren, wieder in ihre roten Jacken gezwängt und standen nun Wache, auch wenn ihnen im Moment noch nicht klar war, wen sie wie und wovor bewachen sollten, ganz zu schweigen, warum. Und solange es keine eindeutigen Befehle gab, begnügten sie sich also damit, jeden vor allem zu bewachen.

Das Schiff hatte ein weiteres Boot ausgesetzt, welches nun die Lagune ansteuerte. Darin befanden sich mehrere Personen, aber nur eine von ihnen saß kerzengerade da, und die kam Daphne bedauerlicherweise bekannt vor.

Sie lief zu ihrem Vater. »Was geht hier vor?« Sie blickte die Männer in den schwarzen Anzügen finster an und fügte hinzu:

»Und wer sind diese… Leute?«

»Ist das Ihre entzückende Tochter, Sire?«, sagte einer der Männer und zog vor ihr den Hut.

»Sire?«, wiederholte Daphne und warf einen strengen Blick auf den Mann in Schwarz. Niemand sollte jemanden ohne schriftlichen Beweis als »entzückend« bezeichnen dürfen.

»Wie sich herausstellt, bin ich, ohne mich hervortun zu wollen, König«, sagte Seine Majestät. »Und das zu einem überaus ungünstigen Zeitpunkt, wie ich sagen muss. Dieser Herr ist Mister Black aus London.«

Daphne hörte auf, finster zu blicken.

»Aber ich dachte, es wären einhundertachtunddreißig…«, begann sie. Dann nahm ihr Gesicht kurz einen entsetzten Ausdruck an, und sie blickte zum zweiten Ruderboot hinüber. »Hat meine Großmutter etwas… Dummes getan? Möglicherweise mit Messern und Pistolen?«

»Ihre Ladyschaft? Nicht dass ich wüsste«, sagte der Hüter des Letzten Ausweges. »Da kommt sie schon, Eure Majestät. Natürlich haben wir zunächst Port Mercia angelaufen, wo wir Seine Exzellenz Topleigh an Bord nahmen. Bedauerlicherweise kann dem Erzbischof von Canterbury eine so lange Reise nicht zugemutet werden, aber er hat uns seine Anweisungen für die Krönungszeremonie übermittelt.«

»Eine Krönungszeremonie hier? Das kann doch sicher noch warten!«, sagte Seine Majestät.

Doch Daphne hatte nur Augen für die Gestalt im noch fernen Boot. Das konnte nicht wahr sein, oder? Diesen weiten Weg würde sie doch nicht auf sich nehmen! Nur für die Gelegenheit, einen König herumkommandieren zu können? Aber natürlich würde sie das – sie hätte das Schiff nötigenfalls mit den Zähnen hierhergeschleppt! Und diesmal würde er sich nicht bis ans andere Ende der Welt flüchten können.

»Streng genommen schon«, sagte Mr. Black. »Sie wurden in dem Moment König, als der letzte König starb. Genau in jener Sekunde. So bestimmt es das Gesetz.«

»Tatsächlich?«, sagte Seine Majestät.

»Ja, Sire«, sagte Mr. Black geduldig. »Gott hat es so gewollt.«

»Na gut«, sagte der König matt. »Das war wohl sehr klug von Ihm.«

»Um den Rechtsanspruch zu bestätigen, müssen Sie allerdings auf englischem Boden stehen«, fuhr Mr. Black fort. »Unter diesen ungewöhnlichen Umständen und in diesen ungewissen Zeiten und so weiter und so fort hielten wir es für angebracht, dafür zu sorgen, dass die Krone fest auf Ihrem Haupt sitzt, und somit erst gar keine Zweifel aufkommen können, falls wir beispielsweise aufgehalten werden. Damit ließen sich kleinliche Streitereien, wie zum Beispiel mit den Franzosen, im Voraus vermeiden, die ansonsten zu langwierigen Verzögerungen führen könnten.«

»Niemand möchte einen zweiten Hundertjährigen Krieg«, sagte ein anderer Herr.

»Gut gesagt, Mr. Amber. Auf jeden Fall wird es eine weitere Krönungszeremonie geben, sobald wir zu Hause sind was selbstredend eine Angelegenheit von höchster Dringlichkeit ist.

Fahnenschwenken, Jubel, Kaffeetassen als Souvenirs und solche Sachen. Doch in diesem Fall hat die Krone entschieden, dass es das Beste wäre, so schnell wie möglich klare Verhältnisse zu schaffen, wie ich sagen möchte.« Während er sprach, begannen zwei seiner Kollegen damit, äußerst vorsichtig eine kleine Kiste auseinanderzunehmen, die sie ans Ufer getragen hatten.

»Bin ich nicht die Krone?«, sagte Seine Majestät.

»Nein, Sire, Sie sind der König, Sire«, sagte Mr. Black geduldig. »Sie unterstehen ihr genauso wie wir. Als Untertanen.«

»Aber ich kann Ihnen doch sicherlich Befehle erteilen.«

»Sie dürfen Wünsche äußern, Sire, und wir werden uns alle Mühe geben, sie Ihnen zu erfüllen. Aber befehlen können Sie uns bedauerlicherweise nichts. Es würde schlimm um uns stehen, wenn wir Befehle von Königen entgegennehmen müssten. Ist es nicht so, Mr. Brown?«

Einer der Männer, die an der Kiste arbeiteten, schaute kurz auf. »Das hatten wir schon einmal mit Charles dem Ersten, Mr. Black.«

»Wie wahr, Mr. Brown, wie wahr«, sagte Mr. Black. »Das hatten wir schon einmal mit Charles dem Ersten, und ich denke, keiner von uns möchte noch einmal erleben, wie es mit Charles dem Ersten war, nicht wahr?«

»Warum nicht?«, fragte Daphne.

Mr. Black drehte sich zu ihr um und schien sie für einen Moment einer gründlichen Musterung zu unterziehen. »Weil England durch seine Arroganz und Dummheit beinahe die Krone verloren hätte, Eure Königliche Hoheit«, sagte er schließlich.

Ach du liebe Güte, jetzt bin ich wirklich eine Prinzessin!

Logischerweise. Heiliger Bimbam! Und ich glaube, das ist kein Posten, von dem man zurücktreten kann! Eine Prinzessin! Haben Sie das gehört, Mr. Foxlip, wo auch immer Sie stecken mögen? Ha!

»Aber war es nicht Oliver Cromwell, der ihn exekutieren ließ?«, entgegnete sie und bemühte sich um einen hoheitlichen Tonfall.

»Gewiss, Majestät. Aber Oliver Cromwell war nicht das Problem. Charles der Erste war das Problem. Oliver Cromwell war die Lösung. Ich gebe zu, dass er sich daraufhin eine Weile als großes Ärgernis erwiesen hat, aber wenigstens war das Volk nach seiner unangenehmen Herrschaft glücklich, wieder einen König auf dem Thron zu sehen. Die Krone ist geduldig.«

»Charles dem Ersten wurde der Kopf abgehackt«, sagte Daphne und beobachtete, wie das zweite Boot den Strand erreichte.

»Zweifellos ein weiterer Grund, ihn nie wiedersehen zu wollen«, erwiderte Mr. Black schlagfertig. »Niemand würde verstehen, was er sagen wollte.«

Ein dicker Mann in geistlichem Gewand – wenn man vom Sarong absah – stieg mit Hilfe der Seemänner aus dem Boot und reichte seine Hand wiederum… ja, ihrer Großmutter! Sie hielt einen Regenschirm. Einen Regenschirm! Natürlich sollte er nicht dazu dienen, sie vor Regen zu schützen. Sondern um anderen Leuten damit Hiebe zu versetzen. Das wusste Daphne ganz genau.

»Ah, und hier kommt Ihre Ladyschaft«, sagte Mr. Black überflüssigerweise, wie Daphne fand. Er fügte hinzu: »Auf der Reise hierher durften wir ihre wunderbar angenehme Gesellschaft genießen. Die nautischen Meilen sind nur so dahingeflogen.«

Das feine Lächeln auf seinem Gesicht war ein Meisterstück.

Großmutter sah sich auf der Insel um, als würde sie kontrollieren, ob überall Staub gewischt worden war, und seufzte.

»Man sollte meinen, wir hätten sehr wohl einen saubereren Ort finden können«, sagte sie. »Aber lassen wir das. Ich vermute, du bist wohlauf, Henry, und ich hoffe doch, du bist bereit, die Verantwortung zu übernehmen, die uns die göttliche Vorsehung beschert hat.«

»Meinst du, es war Vorsehung, dass all diese Menschen gestorben sind?«, sagte Daphne streng. Vor ihrem geistigen Auge stürzten Vorfahren wie Dominosteine um… insgesamt einhundertachtunddreißig.

»Es gehört sich nicht, so mit deiner Großmutter zu sprechen, Daphne«, sagte ihr Vater.

»Daphne? Daphne? Ich höre immer nur ›Daphne‹!«, sagte Ihre Ladyschaft. »Törichter Name. Mach dich nicht lächerlich, Ermintrude. Um Himmels willen, können wir die Angelegenheit jetzt endlich hinter uns bringen, bevor wir noch gefressen werden?«

Daphne errötete vor Wut und Verlegenheit. »Wie kannst du es wagen? Einige dieser Menschen sprechen unsere Sprache!«

Daphne holte tief Luft und spürte dann die Hand ihres Vaters auf der Schulter, als sie gerade den Mund öffnen wollte. Sie schloss ihn wieder und ließ ihren Zorn innerlich weiterkochen.

»So nicht, Liebes«, sagte er. »Außerdem sollten wir jetzt wirklich anfangen.« Er ließ sie stehen und schüttelte dem Bischof die Hand. »Charlie! Schön, dich wiederzusehen! Hast du deinen spitzen Hut nicht dabei?«

»Hab ihn auf See verloren, alter Junge. Und als ich meinen Stab an mich nehmen wollte, musste ich feststellen, dass er voll vermaledeiter Termiten war! Tut mir leid wegen des Sarongs, aber ich konnte meine Hosen nicht finden«, sagte der Bischof, während er die Hand des Königs schüttelte. »Natürlich ist es eine üble Schande, was geschehen ist. Ein ziemlicher Schock für uns alle. Trotzdem steht es uns nicht zu, über die göttliche Vor … über die Wege des Herrn zu urteilen.«

»Wahrscheinlich war es ein Akt Gottes«, sagte Daphne.

»Wohl wahr, wohl wahr«, sagte der Bischof und kramte in seiner Tasche.

»Oder ein Wunder«, fuhr Daphne fort und forderte ihre Großmutter regelrecht heraus, ihr auf ihrem Strand die Ohren langzuziehen.

Doch Großmutter nahm ihre aufsässige Herausforderung nicht sonderlich ernst, wenn überhaupt. »Ich werde später mit dir über dein eigensinniges Betragen reden, Ermintrude…«, begann sie und trat vor. Doch sofort versperrten zwei Herren ihr den Weg.

»Ach, da ist es ja«, sagte der Bischof recht laut und richtete sich zu voller Größe auf. »Selbstverständlich haben wir hier draußen normalerweise kein königliches Salbungsöl vorrätig, aber meine Jungs machen ein Kokosnussöl, mit dem sich Cricketschläger schön griffig halten lassen. Ich hoffe, das wird genügen.« Seine Worte galten Mr. Black, der ihm noch mehr Sorgen machte als Ihre Ladyschaft.

»Durchaus, Euer Gnaden«, sagte Mr. Black. »Miss… Daphne, wären Sie so freundlich, die Inselbewohner zu fragen, ob wir einen dieser Altarsteine als Thron benutzen dürften?«

Daphne blickte zu den herumliegenden Göttersteinen.

Während der vergangenen Woche waren sie kaum beachtet worden.

»Mau, dürfen sie…?«

»Ja, sie dürfen«, sagte Mau. »Aber sag ihnen, dass sie nicht funktionieren.«

Den Geschichtsbüchern nach war es die schnellste Krönungszeremonie, seit sich Bubric der Sachse während eines Gewitters auf einem Hügel mit einer sehr spitzen Krone selbst krönte und etwa anderthalb Sekunden lang regierte.

Heute setzte sich ein Mann auf einen Stein. Ihm wurden ein goldener Reichsapfel und ein goldenes Zepter gereicht, was die interessierten Inselbewohner für gut befanden, weil ein Zepter im Grunde nichts anderes war als eine glänzende Keule. Mau war mit seinem Fischspeer völlig zufrieden, aber insgeheim dachten seine Leute, dass ein Häuptling eigentlich eine richtig große Keule haben sollte. Einige von ihnen probierten es später damit aus, stellten jedoch fest, dass sie für einen echten Kampf etwas zu unhandlich war. Jedenfalls fanden sie das Zepter viel interessanter als die Krone, die zwar schön im Sonnenlicht funkelte, aber ansonsten zu nichts nütze war. Doch wegen dieser Utensilien und einiger Worte erhob sich schließlich ein Mann, der über so viele Länder des Planeten herrschte, dass Kartenzeichnern oft die rote Farbe ausging.

An dieser Stelle zogen die Männer in Schwarz kleinere Versionen der Hosenmenschenflagge hervor, wedelten sie begeistert und riefen: »Hurra!«

»Wenn Sie mir jetzt bitte die Krone zurückgeben, Eure Majestät«, sagte Mr. Black hastig. »Natürlich gebe ich Ihnen dafür gern eine Quittung.«

»Ach, es wird alles so viel besser sein, wenn wir erst in London richtig gekrönt werden«, sagte Großmutter. »Das ist hier ja eigentlich nur…«

»Schweig jetzt, Frau«, sagte der König, ohne die Stimme zu heben.

Einen Moment lang dachte Daphne, sie hätte seine Worte als Einzige gehört. Großmutter jedenfalls nicht, denn sie sprach einfach weiter. Doch dann holten ihre Ohren ihre Zunge ein und wollten nicht glauben, was ihre Augen sahen.

»Was hast du gesagt?«, stieß sie hervor.

»Ah, endlich hast du es verstanden, Mutter«, sagte der König.

»Ich bin ich, nicht wir. Zwei Hinterbacken auf dem Thron, ein Kopf unter der Krone. Du hingegen bist eine scharfzüngige Vettel mit den Manieren eines Fuchses, und du wirst mir nicht ins Wort fallen, wenn ich rede! Wie kannst du es wagen, unsere Gastgeber zu beleidigen! Und bevor du auch nur ein weiteres Wort verlierst, bedenke Folgendes: Du bist stolz darauf, über den von dir so genannten unteren Klassen zu stehen, von denen ich immer den Eindruck hatte, dass es recht anständige Leute sind, nachdem sie Gelegenheit zu einem Bad hatten. Nun bin ich König, verstehst du? König! Und das Wesen der Aristokratie, an die du dich mit Leib und Seele klammerst, bringt es mit sich, dass du mir nicht über den Mund fährst. Du wirst dich vielmehr bescheiden und dankbar verhalten, solange wir auf dieser Insel weilen. Und wer weiß, vielleicht spricht sie genauso zu dir, wie sie zu mir gesprochen hat. Und falls dir gerade in diesem Augenblick eine bissige Bemerkung auf den Lippen brennt, lege ich dir ans Herz, gründlich die höchst ratsame Möglichkeit des Schweigens in Betracht zu ziehen. Das ist ein Befehl!«

Der König, dessen Atem etwas schwerer ging als zuvor, nickte dem Wortführer der Hüter des Letzten Ausweges zu. »Das war doch in Ordnung, oder?«, sagte er.

Großmutter schwieg tatsächlich und starrte ins Leere. »Selbstverständlich, Sire. Schließlich sind Sie der König«, murmelte Mr. Black.

»Tschuldigung, Miss«, sagte eine Stimme hinter Daphne.

»Sind Sie Miss Ermintrude?«

Sie drehte sich zu dem Sprecher um. Eins der Boote war zurückgekehrt, um weitere Besatzungsmitglieder abzuholen, und nun blickte sie auf einen kleinen Mann in schlecht sitzender Kleidung. Vorher hatte sie offensichtlich jemandem gehört, der froh gewesen war, sie loszuwerden.

»Cookie?«

Er strahlte. »Hab Ihnen doch gesagt, dass mir mein Sarg das Leben retten wird!«

»Papa, das ist Cookie, der mir auf der Judy ein wirklich guter Freund war. Cookie, das ist mein Vater. Er ist König.«

»Freut mich«, sagte Cookie.

»Sarg?«, sagte der König – erneut mit verwirrter Miene. »Ich habe dir von ihm erzählt, Papa. Weißt du noch? Die Taschen? Mast und Leichentuch? Der kleine aufblasbare Billardtisch?«

»Ach, dieser Sarg! Du meine Güte! Wie lange waren Sie damit unterwegs, Mr. Cookie?«

»Zwei Wochen, Sir. Mein kleiner Ofen gab nach einer Woche den Geist auf, also musste ich mich mit Zwieback, Pfefferminzkeksen und Plankton begnügen, bis ich auf dieser Insel strandete«, sagte der Koch.

»Plankton?«, fragte Daphne.

»Hab es mit meinem Bart aus dem Wasser gesiebt, Miss. Ich dachte mir, wenn Wale davon leben, schaff ich das auch.«

Er griff in seine Hosentasche und zog ein abgewetztes Stück Papier hervor. »Komische kleine Insel, auf der ich da gelandet bin. Ihr Name stand auf einem Messingschild, das an einen Baum genagelt war. Hab ihn abgeschrieben, schauen Sie.«

Der König und seine Tochter lasen die krakelige Schrift: Mrs.-Ethel-Bundys-Geburtstag-Insel.

»Sie existiert wirklich!«, rief Daphne begeistert. »Wahrlich gut gemacht«, sagte der König. »Beim Abendessen müssen Sie uns alles darüber erzählen. Doch wenn Sie mich jetzt einen Augenblick entschuldigen würden ich muss regieren.« König Henry der Neunte rieb sich die Hände.

»Was gibt es sonst noch zu tun? Ach ja. Charlie, möchtest du Erzbischof werden?«

Seine Exzellenz Topleigh war gerade dabei, alles wieder in seine Tasche zu packen. Der Bischof blickte erschrocken auf und winkte hektisch ab.

»Nein, vielen Dank, Henry!«

»Wirklich nicht? Bist du dir ganz sicher?«

»Ja. Wirklich nicht. Man würde mich zwingen, Schuhe zu tragen. Hier auf den Inseln gefällt es mir ausgesprochen gut!«

»Aha, also ist dir das weite Meer lieber als weit mehr«, sagte der König mit langsamer und sonorer Betonung, wie es Leute taten, wenn sie ein schlechtes Wortspiel zum Besten gaben.

Niemand lachte. Nicht einmal Daphne, die ihren Vater sehr liebte, brachte mehr als ein gezwungenes Grinsen zustande.

Dann tat ihr Vater etwas, das niemand, nicht einmal ein König, tun sollte. Er versuchte, den Witz zu erklären.

»Vielleicht ist meinen Zuhörern das beabsichtigte Wortspiel entgangen«, sagte er in leicht verletztem Tonfall. »Es geht um den Gleichklang von ›Meer‹ mit ›ee‹ und ›mehr‹ mit ›eh‹, wobei ich mit dem Meer den jetzigen Wirkungsbereich des Bischofs gemeint habe und mit mehr den größeren eines Erzbischofs.«

»Wobei dieser Wirkungsbereich ein Bistum wäre, Sir«, sagte Mr. Black ernst.

»Das Interessante am Wirkungsbereich eines Erzbischofs ist jedoch«, sagte Mr. Red nachdenklich, »dass er gleichzeitig mehr und weniger ist. Denn der Erzbischof von Canterbury ist eben auch Bischof des Bistums von Canterbury. Vielleicht ließe sich humoristisch umsetzen, dass Canterbury weniger am Meer liegt, England als Ganzes jedoch mehr vom Meer umgeben ist.«

»Da haben Sie es, Eure Majestät«, sagte Mr. Black und sah den König mit einem zufriedenen Lächeln an. »Mit einer geringfügigen Anpassung dürfte Ihr wunderbares Wortspiel ein durchschlagender Erfolg in geistlichen Kreisen werden.«

»Allerdings haben Sie nicht darüber gelacht, Mr. Black!«

»Nein, Eure Majestät. Es ist uns verboten, über die Äußerungen von Königen zu lachen, Sire, weil wir sonst den ganzen Tag lang nur damit beschäftigt wären.«

»Nun gut, aber wenigstens eine Sache kann ich noch tun«, sagte der König und trat zu Mau.

»Sir, es wäre mir eine Ehre, wenn Sie meinem Empire beitreten würden. Ein solches Angebot erhalten nicht gerade viele Staatsoberhäupter, wie ich hinzufügen möchte.«

»Vielen Dank, König«, sagte Mau, »aber wir…« Er hielt inne und drehte sich hilfesuchend zu Pilu um.

»Wir möchten nicht beitreten, Sire. Ihr Imperium ist viel zu groß, wir würden darin ertrinken.«

»Dann wären Sie hilflos dem ersten Mann ausgeliefert, der mit einem Boot und einem halben Dutzend bewaffneter Männer auf Ihrer Insel landet«, sagte der König. »Von mir abgesehen, meine ich natürlich.«

»Ja, König«, sagte Mau. Er sah, wie das Geistermädchen ihn beobachtete, und dachte: Jetzt oder nie! »Deshalb möchten wir lieber der Royal Society beitreten.«

»Wie bitte?« Der König wandte sich an seine grinsende Tochter.

»Hast du ihm diesen Floh ins Ohr gesetzt, Liebes?«

»Papa, hier hat die Wissenschaft ihren Anfang genommen«, sagte Daphne schnell, »und ich habe ihnen nur die Worte dafür gegeben. Auf die Ideen sind sie von ganz allein gekommen. Ihre Vorfahren waren Wissenschaftler. Du hast die Höhle gesehen! So wird es funktionieren!«

Pilu blickte nervös vom König zu dessen Tochter und fuhr fort:

»Als die Royal Society gegründet wurde, gab der König ihnen eine Keule, die genauso voller Großheit war. Wie seine eigene…«

»Großheit?«, sagte der König.

»So hat es Charles der Zweite formuliert, Sire«, flüsterte Mr. Black. »Er hat in der Tat gesagt, die Society hätte eine Streitkeule verdient, deren ›Großheit unserer eigenen gleichkommt‹. Ich vermute, wir können dankbar sein, dass er nicht von ›Großhaftigkeit‹ oder Schlimmerem gesprochen hat.«

»… und damit meinte er, dass die Wissenschaftler genauso mächtig sind wie Könige. Deshalb bitten wir voller Demut – nein, voller Stolz, dieser ehrwürdigen Gesellschaft beitreten zu dürfen«, sagte Pilu mit einem Seitenblick auf das Geistermädchen. »Wir werden alle Männer der Wissenschaft als, äh, Brüder willkommen heißen.«

»Sag ja, Papa, sag ja!«, rief Daphne. »Die Wissenschaft ist international!«

»Ich kann nicht für die Royal Society sprechen…«, begann der König, aber Daphne war darauf vorbereitet. Und es gab keinen Grund, Prinzessin zu sein, wenn man den König nicht unterbrechen durfte.

»Natürlich kannst du das, Papa. Es ist doch die ›Königliche Gesellschaft‹!«

»Also Ihre Gesellschaft, Eure Majestät«, schnurrte Mr. Black. »Die ihren Sitz natürlich in London hat.«

»Und wir werden ihr die goldene Tür schenken«, sagte Mau.

»Was?«, rief Daphne. Damit hatte sie nicht gerechnet. »Sie soll nie wieder verschlossen werden«, sagte Mau mit Nachdruck. »Sie ist ein Geschenk an unsere Brüder, die so weit segelten, dass sie zurückkehrten.«

»Das sind viele Tonnen Gold!«, sagte der König. »Mindestens acht Tonnen, würde ich schätzen.«

»Sehr gut gemacht, Sire«, sagte Mr. Black. »Dem Sieger die Beute.«

»Nur dass es gar keinen Krieg gegeben hat«, sagte der König.

»Das ist zu viel. Wir können das Geschenk nicht annehmen! Diese Menschen waren sehr freundlich zu uns.«

»Ich wollte damit nur andeuten, dass es dem Volk gefällt, wenn Könige wertvolle Dinge mit nach Hause bringen, Sire«, sagte der Hüter des Letzten Ausweges.

»Wie zum Beispiel ganze Länder«, sagte Daphne und blitzte ihn an.

»Aber es ist ein Geschenk, Mr. Black. Keine Beute«, sagte der König.

»Das ist in der Tat ein glückliches, wenn auch recht ungewöhnliches Resultat«, sagte Mr. Black zurückhaltend.

»Und auch ihr werdet uns ein Geschenk machen«, sagte Mau. »Wenn viel genommen wird, muss etwas dafür zurückgegeben werden. Pilu?«

»Ein großes Teleskop«, sagte Pilu, »und ein Schiff von gleicher Großheit wie die Sweet Judy sowie zehn Fässer mit gepökeltem Rindfleisch und Werkzeug in allen Größenheiten. Bauholz, Metalle verschiedener Artigkeiten, Bücher mit Bildern und mit Schrift, die über die Bilder spricht…«

So ging es noch einige Zeit weiter, und als er fertig war, sagte Daphne: »Das ist immer noch recht günstig, Papa, selbst mit dem Schiff. Und vergiss nicht, das Erste, worum sie gebeten haben, war ein Teleskop. Was könntest du dagegen einwenden?«

Der König lächelte. »Nichts. Und ich werde auch nicht laut darüber nachdenken, ob ihnen bei der Zusammenstellung dieser Liste jemand geholfen haben könnte. Jedenfalls hat mir ›Metalle verschiedener Artigkeiten‹ ziemlich gut gefallen. Außerdem hast du natürlich recht. Die Wissenschaftler werden diese Insel in Scharen besuchen. Und ihr könnt eure Tür behalten, Mau.«

»Nein«, sagte Mau entschieden. »Sie war viel zu lange verschlossen, König. Ich werde nicht zulassen, dass sie wieder zufällt. Aber wir haben noch eine weitere Forderung, die allerdings sehr einfach ist. Jeder Mann der Wissenschaft, der hierherkommt, um sich anzusehen, was wir einst wussten, muss uns alles sagen, was er weiß.«

»Vorträge!«, platzte es aus Daphne heraus. »Au ja!«

»Und irgendwer soll uns bitte in der Kunst der Doktrinen unterrichten«, fügte Mau hinzu.

Der Bischof, der sich bis zu diesem Moment etwas übergangen gefühlt hatte, trat plötzlich strahlend vor. »Wenn ich irgendwie helfen kann…«, setzte er mit hoffnungsvollem Unterton an.

»Doktrinen, die uns heilen«, sagte Mau und warf Daphne einen flehenden Blick zu.

»Aber sicher«, sagte der Bischof. »Ich denke, dass ich…«

Daphne seufzte. »Es tut mir leid, Euer Gnaden, aber er meint die Kunst der Doktoren, nicht der Doktrinen«, sagte sie.

»Ach so«, erwiderte der Bischof traurig. »Wie dumm von mir.«

»Aber wenn Sie gut im Diskutieren sind, könnte Mau durchaus interessiert sein.« Sie sah Mau an, der sie ansah, dann die Hüter des Letzten Ausweges, dann den König, dann die Cutty Wren und dann wieder sie.

Und er weiß, dass ich gehe, dachte sie. Und zwar schon bald.

Ich kann nicht anders. Das einzige Kind eines Königs kann nicht auf einer verlorenen Insel irgendwo im Ozean leben. Er könnte mich lesen wie ein Buch, wenn er Bücher lesen könnte.

Er weiß es. Ich erkenne es in seinem Gesicht.

Im Morgengrauen des siebenten Tages nach Ankunft der Cutty Wren war Captain Samson bereit, die Segel zu setzen. Das Schiff hatte fast alle Vorräte für die Rückreise schon in Port Mercia an Bord genommen, aber für acht Tonnen Gold waren eine Menge Sägearbeiten nötig, wenn man kein einziges Körnchen Goldstaub zurücklassen wollte.

Nun wartete das Schiff außerhalb des Riffs und war im Nebel gerade noch zu erkennen. Es sah aus wie ein Spielzeug, aber im Frauenhain war alles nur eine Frage der Perspektive.

Der Schoner Seiner Exzellenz hatte bereits gestern abgelegt, mit viel Jubel und Gewinke und weniger Lampenöl, Segeltuch und Besteck als zum Zeitpunkt seiner Ankunft. Das schnellste Segelschiff der Welt brannte darauf, endlich wieder fliegen zu können.

Zu dieser Tageszeit war es hier oben mehr oder weniger wie ausgestorben, doch es kamen einige Schnarcher aus den Hütten und das gelegentliche Gluckern aus der Behausung der Dame gleichen Namens. Die Gärten schwiegen und lauschten. Und der Hain lauschte tatsächlich, da war sich Daphne ganz sicher.

Er zwang einen zum Lauschen, denn sie tat es ja auch. Er schien selbst ihre Großmutter dazu gebracht zu haben, weil Daphne sie gestern beobachtet hatte, wie sie neben Mrs. Glucker saß – die ganz offensichtlich eine Frau mit großer Macht war, denn es sah ganz danach aus, als hätte ihre neue Gefährtin auf einem Stück gepökeltem Rindfleisch herumgekaut. Ihre Ladyschaft hatte ihre Enkeltochter nicht bemerkt, und das war wahrscheinlich für beide das Beste.

Nun blickte sich Daphne im Garten um. »Ich bin gekommen, um mich zu verabschieden«, sagte sie. »Und um mich zu bedanken.« Sie sprach nicht sehr laut. Entweder hörten die Großmütter zu oder nicht.

Daphne stand da und wartete. Es kam keine Antwort, nur das Schweigen des Gemüses war zu hören und in der Ferne ein Pantalonvogel, der die Reste seiner gestrigen Mahlzeit von sich gab.

»Auf jeden Fall danke«, sagte sie und drehte sich um. Waren sie wirklich?, fragte sie sich. Erinnerungen konnten einem hier so schnell entgleiten. Ich glaube, sie werden aufs Meer hinausgeweht. Aber ich werde mich erinnern. Und in ihrem Kopf sagte eine verhallende Stimme: »Gut!« Oder sie bildete es sich vielleicht auch nur ein. Das Leben wird ziemlich kompliziert, wenn man zu viel darüber nachdenkt.

Der König hatte den Zimmermann von der Cutty Wren gebeten, beim Bau des neuen Gebäudes zu helfen, mit dem der Zimmermeister seines Schoners bereits begonnen hatte. Und schon bald hatten beide Besatzungen, weil es den Leuten unangenehm war, einem König mit hochgekrempelten Ärmeln zuzusehen, ebenfalls ihre Ärmel hochgekrempelt. Aus dem Rest der Judy war eine weitere Langhütte entstanden sowie ein großer Haufen aus nützlichen Dingen. Und natürlich die Sweet Judy selbst. Sie war ein unerwarteter Fund gewesen.

Der Bug des Schiffes hatte sich zwischen zwei riesigen Feigenbäumen verkeilt, wo sich auch unsichtbar und unbeschadet die Galionsfigur verklemmt hatte, während das Schiff hinter ihr zusammengebrochen war.

Einige Seemänner hatte die Galionsfigur über die Tür genagelt, unter dem Beifall aller bis auf den König, der laut überlegte, ob ihr unbekleideter Busen nicht als unanständig betrachtet werden könnte. Er hatte nicht verstanden, warum alle lachten, aber es hatte ihn gefreut. Es war eine kleine Entschädigung für Meer und mehr gewesen.

Nun blickte Daphne zum letzten Mal zu ihr auf. Um die hölzernen Lippen spielte ein leichtes Lächeln, und jemand hatte ihr eine Blumengirlande um den Hals gelegt.

Daphne machte vor ihr einen Knicks, denn wenn sich irgendein nicht lebendes Wesen größten Respekt verdient hatte, dann die Judy. Vor Jahren hatte sie schon gelernt, wie man knickste, doch auf der Insel war diese Fertigkeit noch unnützer gewesen als Schlittschuhlaufen. Aber in diesem Moment war es genau das Richtige.

Ein Boot wartete am Rand der Lagune. Und das schon seit längerem. Irgendwann hatte sich die Menge zerstreut, da man nur begrenzte Zeit winken und rufen konnte, wenn etwas gar nicht in Eile war, sich in Bewegung zu setzen, worauf sich früher oder später eine gewisse Langeweile einstellen musste. Auf jeden Fall hatte Cahle die Inselbewohner taktvoll und gleichzeitig auch wieder nicht besonders taktvoll gedrängt, zu den Feldern zurückzukehren. Sie wusste, wann jemand mehr Raum für sich brauchte. Außerdem hatte Daphne sich schon gestern beim großen Festmahl von allen verabschiedet. Und der König war der einzige Hosenmann gewesen, der die Tätowierung der Sonnenuntergangswelle bekam, und alle hatten gelacht und geweint. Erst vor wenigen Stunden hatten die Hüter des Letzten Ausweges den König zum Schiff zurückgetragen, weil er »ein wenig unter dem Wetter« litt, womit in Wirklichkeit »zu viel Bier« gemeint war.

Und nun, abgesehen von einem Hund, der sich in der Sonne wärmte, schien sie hier ganz allein zu sein. Doch sie hätte alles darauf verwettet, dass Hunderte von Augen sie von den Feldern beobachteten.

Sie blickte zum Strand. Dort lag das wartende Boot, und ein Stück entfernt stand Mau, wo er immer stand, mit seinem Speer. Er schaute auf, als sie sich näherte, und zeigte sein mattes Halblächeln, das er immer aufsetzte, wenn er unsicher war.

»Alle anderen sind schon an Bord«, sagte er. »Ich werde wiederkommen«, sagte Daphne.

Mau malte mit dem Speer Kringel in den Sand. »Ja, ich weiß«, sagte er.

»Nein, ich meine es ernst.«

»Ja. Ich weiß.«

»Du klingst, als würdest du mir nicht glauben.«

»Ich glaube dir. Aber du klingst, als würdest du dir selbst nicht glauben.«

Daphne senkte den Blick. »Ja, ich weiß«, sagte sie mit niedergeschlagenen Augen. »Vater will Großmutter als unsere Botschafterin in die Wiedervereinigten Staaten schicken, nachdem sie sich jetzt wieder besser fühlt. Sie hat begriffen, dass sie dann all die hochnäsigen Bostoner herumkommandieren kann, und bemüht sich, ihre Begeisterung nicht allzu offen zu zeigen. Und dann hat er sonst niemanden mehr… natürlich abgesehen von vielen Höflingen, dem Regierungskabinett und den Beamten des Empires, aber sie erleben ihn nicht als Menschen, verstehst du, sondern nur als Gesicht unter einer Krone. Ach, es ist alles ganz fürchterlich! Aber Vater braucht mich.«

»Ja«, sagte Mau.

Daphne blickte ihn finster an. Es war dumm, so zu denken, aber sie wollte, dass er ihr widersprach… oder protestierte… oder wenigstens irgendwie… enttäuscht war. Es war schwierig, mit jemandem zu reden, der für alles Verständnis hatte, also gab sie auf, und erst da bemerkte sie seinen Arm.

»Was ist denn mit dir passiert?«, fragte sie. »Das sieht schlimm aus!«

»Das ist gar nicht schlimm. Ich wurde gestern Abend nach dem Festmahl tätowiert. Schau mal.«

Sie sah es sich an. Auf Maus linkem Handgelenk war ein kleiner, blauer Einsiedlerkrebs.

»Das sieht gut aus!«

»Milo hat es gemacht. Und auf dem anderen Arm…« Er drehte sich um.

»Die Sonnenuntergangswelle«, sagte Daphne. »Ach, ich bin so froh, dass du dich doch dazu entschieden hast…«

»Schau genauer hin, Geistermädchen«, sagte Mau lächelnd.

»Was? Äh… Oh, die Welle läuft in die falsche Richtung.«

»Nein, in die richtige. Es ist die Sonnenaufgangswelle, und wir sind ihre Kinder, und wir werden nie wieder in die Dunkelheit zurückkehren. Das schwöre ich. Es ist eine neue Welt. Sie braucht neue Menschen. Und du hast recht. Dein Vater ist ein guter Mann, aber er braucht dich mehr als… als diese Insel.«

»Also, ich glaube…«

»Er braucht deine Kraft«, fuhr Mau fort. »Ich habe euch beide beobachtet. Du gibst seiner Welt Gestalt. Er wird seiner armen Nation Gestalt geben. Du musst mit ihm auf dieses Schiff gehen. Du musst an seiner Seite sein. Das weißt du in deinem Herzen. Dein Leben wird einen Sinn haben. Und die Menschen werden dir zuhören.«

Mau nahm ihre Hand. »Ich habe dir gesagt, dass Imo viele Welten gemacht hat. Ich habe dir auch gesagt, dass ich manchmal glaube, ein kleines Stück in die Welt blicken zu können, in der die Welle nicht geschehen ist. Du wirst jetzt dieses Schiff besteigen oder… du wirst es nicht tun. Wie auch immer du dich entscheidest, es bedeutet, dass es zwei neue Welten geben wird. Und vielleicht werden wir manchmal kurz vor dem Einschlafen den Schatten der anderen Welt sehen. Es wird keine unglücklichen Erinnerungen geben.«

»Ja, aber…«

»Genug Worte. Wir kennen sie, all die Worte, die nicht gesagt werden sollten. Aber du hast meine Welt vollkommener gemacht.«

Daphne wollte etwas erwidern, suchte verzweifelt nach den passenden Worten, doch ihr fiel nicht mehr ein als: »Der Verband um Mrs. Whi-aras Bein sollte morgen abgenommen werden. Äh, ich finde, Caah-as Hand sieht immer noch sehr schlimm aus. Der Arzt der Wren meinte, sie würde verheilen, aber ich würde Mrs. Glucker wecken, damit sie einen Blick darauf wirft. Ach, und lass dich von ihr nicht täuschen – mit den Goldzähnen kann sie kein Fleisch kauen, also muss es jemand anderer für sie tun… Ich mache alles falsch, oder?«

Mau lachte. »Was könnte daran falsch sein?« Er küsste sie etwas unbeholfen auf die Wange. »Und jetzt werden wir beide fortgehen, ohne zu bereuen, und wenn wir uns wiedersehen, werden wir gute, alte Freunde sein.«

Daphne nickte und schnäuzte sich mit ihrem letzten guten Taschentuch. Und das Schiff segelte davon.

Und Mau ging fischen. Er schuldete Nawi noch einen Fisch.