13
Waffenstillstand

Die Räuber kamen bei Sonnenaufgang.

Sie kamen mit Trommeln, und ihre Fackeln leuchteten im Nebel wie kleine, rote Sonnen.

Maus Ohren hörten sie. In seinen Augen spiegelten sich die Flammen. Dann erwachte er aus einem Zustand, der kein richtiger Schlaf war, und spürte, wie die Zukunft geschah.

Wie funktionierte das?, fragte er sich. Seit dem ersten Tag, als er Wache über die Nation gehalten hatte, erinnerte er sich an dieses Ereignis. Sie war ihm aus der Zukunft entgegengeflogen.

Er kannte diesen Trick mit dem silbernen Faden, mit dessen Hilfe er sich in Richtung jener Zukunft ziehen konnte, die er als Bild im Kopf hatte. Doch diesmal war es die Zukunft, die an ihm zog, sie hatte ihn zu dieser Zeit an diesen Ort geführt.

»Sie sind da«, flüsterte jemand neben ihm. Er sah die Unbekannte Frau an. Ihr Gesicht hatte noch nie besonders ausgeprägte Gefühlsregungen gezeigt, aber jetzt erschreckte ihn der Ausdruck in ihren Augen fast zu Tode. Es war nackter, glühender Hass.

»Schlag die Glocke!«, bellte er, und sie hastete über den Strand davon. Mau ging rückwärts und beobachtete den Nebel.

Damit hatte er nicht gerechnet. Das hatte er nicht gesehen.

Das Läuten der Glocke von der Sweet Judy war auf der ganzen Insel zu hören. Mau lief den Pfad hinauf und bemerkte zu seiner Erleichterung ein paar Gestalten, die durch den Dunst hetzten.

Wo war die Sonne? Warum war sie noch nicht aufgegangen?

Drüben im unteren Wald erbrach sich der erste Großvatervogel und wurde im nächsten Moment von seinem Erzfeind attackiert.

»Rraa! Du verlogener, alter Heuchler!«

Das war der Auftakt zum Sonnenaufgangschor, für den sich sämtliche Vögel, Frösche, Kröten und Insekten die Lungen aus dem Leib schrieen. Goldenes Licht rollte von Osten heran und schmolz vereinzelte Löcher in den Nebel. Es war ein wunderschönes Bild, wenn man von den schwarzen und roten Kriegskanus absah. Die meisten waren zu groß und konnten nicht in die Lagune einfahren, aber sie landeten auf der Landzunge neben der Kleinen Nation, und mehrere Gestalten sprangen auf den Strand.

Ich höre keine Stimmen im Kopf, dachte Mau. Keine Toten.

Hier bin nur ich. Ich muss alles richtig machen…

Pilu kam mit einem schweren Paket, das in Tuch aus Papierreben gewickelt war, herbeigeeilt. »Es ist trocken geblieben. Es wird klappen.«

Mau blickte sich auf dem Hügel um. An jeder Kanone stand jemand und hielt eine lange Zündschnur in der Hand – vier Männer und eine Frau. Sie beobachteten ihn mit besorgten Mienen.

Alle beobachteten ihn.

Als er wieder zum Strand hinuntersah, entdeckte er Cox, der die Räuber ein gutes Stück überragte.

Er hatte jemanden wie Foxlip erwartet, der abgemagert und ungesund aussah, aber dieser Mann war etwa einen Fuß größer und wirkte fast genauso kräftig wie Milo. An seinem Hosenmenschenhut steckten Federn. Sie waren rot die Federn eines Häuptlings. Also hatte er genau das getan, was das Geistermädchen schon vermutete: Er hatte das Kommando übernommen.

So war es bei den Räubern Gesetz. Der stärkste Mann übernahm die Führung. Das war sinnvoll. Zumindest für starke Männer.

Doch die Räuber hielten sich zurück. Sie blieben in der Nähe ihrer Boote. Nur ein einziger Mann lief den Strand hinauf, und der hielt seinen Speer hoch über den Kopf.

In gewisser Weise, aber auf eine seltsame, gewisse Art und Weise, war es eine große Erleichterung. Mau arbeitete nicht gern mit zwei Plänen gleichzeitig.

»Er sieht noch ziemlich jung aus«, sagte das Geistermädchen neben ihm. Mau fuhr herum und sah sie an. Ihre Gestalt wirkte winzig klein neben Milo, der eine Keule von der Größe eines mittelprächtigen Baumes hielt. Und es war tatsächlich ein mittelprächtiger Baum, nur ohne Äste.

»Du hättest mit den anderen in den Wald gehen sollen!«, sagte er.

»Ach, wirklich? Jetzt bin ich hier bei dir.«

Mau blickte zu Milo hinüber, aber von ihm war keine Hilfe zu erwarten. Seit der Geburt von Leitstern konnte das Geistermädchen in seinen Augen ohnehin nichts falsch machen.

»Außerdem«, fuhr sie fort, »wird es sowieso für alle auf die gleiche Weise enden, wenn die Sache schiefgeht. Warum greifen sie uns nicht an?«

»Weil sie mit uns reden wollen.« Mau deutete auf den Mann, der über den Strand lief. Er war fast noch ein Kind und bemühte sich, keine Angst zu haben.

»Warum?«

Der junge Mann rammte seinen Speer in den Sand, drehte sich um und rannte zurück.

»Vielleicht weil sie die Kanonen gesehen haben. Darauf hatte ich gehofft. Sieh sie dir an. Sie wirken alles andere als glücklich.«

»Können wir ihnen vertrauen?«

»Bei einem Waffenstillstand?

Ja.«

»Wirklich?«

»Ja. Es gibt Regeln. Pilu und Milo werden mit ihnen reden. Ich bin nur ein Junge ohne Tätowierungen. Mit mir würden sie nicht verhandeln.«

»Aber du bist der Häuptling!«

Mau lächelte. »Ja, aber sag es ihnen bitte nicht.«

War es bei der Schlacht von Waterloo genauso?, fragte sich Daphne, als sie gemeinsam zum Strand hinunter- und der wartenden Gruppe entgegengingen. Das ist so… seltsam. Es ist so … zivilisiert, so als würde ein Kampf erst dann anfangen, wenn jemand in eine Trillerpfeife bläst. Es gibt Gesetze, sogar hier.

Und da kommt Cox. Großer Gott, selbst die Luft, die er atmet, müsste dringend gewaschen werden.

Erster Offizier Cox kam auf sie zu und lächelte wie jemand, der nach langer Zeit einen alten Freund trifft, der ihm Geld schuldet. Cox zog nie eine finstere Miene. Genau wie Krokodile und Haie begrüßte er Menschen stets mit einem Lächeln, vor allem, wenn sie seiner Gnade ausgeliefert waren – wenn er denn so etwas wie Gnade gekannt hätte.

»Na, das ist ja eine Überraschung!«, sagte er. »Wie schön, Sie hier zu sehen, junges Fräulein. Dann ist die Judy also doch noch so weit gekommen, was? Wo sind denn der alte Roberts und seine wackere Mannschaft? Beim Gebet?«

»Sie sind hier und bewaffnet, Mr. Cox«, sagte Daphne. »Ach, wirklich?«, entgegnete Cox fröhlich. »Dann bin ich wohl die Königin von Saba.« Er zeigte auf den Hügel, die Kanonen waren nicht zu übersehen. »Diese Kanonen sind von der Judy, nicht wahr?«

»Ich werde Ihnen gar nichts verraten, Mr. Cox.«

»Also sind sie es. Nicht mehr als ein Haufen Altmetall, wenn ich mich recht entsinne. Der Geizkragen Roberts war viel zu knauserig, um neue zu beschaffen. Ich weiß, dass ich recht habe.

Beim ersten Versuch, sie abzufeuern, werden sie platzen wie heiße Würstchen! Aber sie scheinen meinen getreuen Untertanen einen gehörigen Schrecken eingejagt zu haben. Ach ja, ich bin übrigens ihr Häuptling. Haben Sie meine neue Kopfbedeckung gesehen? Sehr schick, nicht wahr? Für mich, den König der Kannibalen.« Er beugte sich vor. »Sie sollten lieber nett zu mir sein, jetzt, wo ich König bin«, fügte er hinzu. »Sie sollten mich Eure Majestät nennen.«

»Und wie sind Sie König geworden, Mr. Cox?«, erwiderte Daphne. »Ich bin mir sicher, dass dabei Menschen zu Tode gekommen sind.« Sie musste sich zwingen, nicht zurückzuweichen, aber das hätte bei diesem Mann sowieso nichts genützt.

»Ein einziger! Also tragen Sie Ihre Nase nur nicht so hoch, junges Fräulein. Wir hatten soeben ein schönes, neues Schiff erworben, dank einer Handvoll Holländer, die in großzügiger Stimmung waren, und nachdem wir die gerade über Bord komplimentiert hatten, stürmte eine Horde unserer braunen Kumpel herbei, und es kam zu einigen Meinungsverschiedenheiten. Ich habe diesen hünenhaften Teufel voller Federn und Kriegsbemalung erschossen, als er mich gerade mit seinem Riesenhammer dem Deckboden gleichmachen wollte. Eine schöne Pistole übrigens, die der Käsefresserkapitän an seinem Gürtel hatte, viel zu gut für einen Holländer. Deswegen habe ich sie auch an mich genommen, bevor wir ihn an die Haie verfütterten. Jedenfalls habe ich diesem aufgeblasenen Affen ordentlich die Luft rausgelassen. Eine wunderbare Mechanik hat diese Waffe, sanft wie ein Kuss. Und im nächsten Moment, Abrakadabra, bin ich König der ganzen Bande. Dann ging es schnurstracks zu einer netten Insel, wo wir ein großes Krönungsfestmahl abgehalten haben. Sehen Sie mich doch nicht so an – ich habe nur vom Fisch gekostet.«

Er blickte sich um. »Ach du Schreck, wo sind nur meine Manieren? Darf ich Ihnen meine Jungs aus dem Land der Vielen Feuer vorstellen, wie sie es nennen? Sie haben doch bestimmt schon von ihnen gehört. Die Herzen dieser Schurken sind so schwarz wie Priesterröcke!« Er winkte theatralisch einer Gruppe von Männern zu, vielleicht untergeordnete Häuptlinge, die sich um Pilu und Milo versammelt hatten.

»Für eine feine Nase müffeln sie ein wenig zu streng, darauf gebe ich Ihnen mein Wort, doch das liegt nur an ihrer einseitigen Ernährung. Zu wenig Ballaststoffe, verstehen Sie? Lasst sie bekleidet, sage ich ihnen immer wieder, und auch die Knöpfe werden euch guttun! Aber sie wollen ja nicht hören. Sind fast so schlimm wie ich, und mit derartigem Lob gehe ich wirklich äußerst sparsam um. Diese Kerle hier sind der kannibalistische Adelsstand, ob Sie es glauben oder nicht.«

Sie sah sich einige Vertreter dieses so genannten Adelsstandes an und musste schockiert feststellen, dass sie sie wiedererkannte. Unter ihresgleichen hatte Daphne die meiste Zeit ihres Lebens gelebt. Auch wenn es offensichtlich keine leibhaftigen Kannibalen gewesen waren (obwohl immer wieder diese Gerüchte über den zehnten Earl von Crowcester kursierten, doch auf der Dinnerparty, die sie in ihrem getreuen Speiseaufzug belauscht hatte, einigte man sich schließlich darauf, dass er wohl nur äußerst hungrig und extrem kurzsichtig gewesen war).

Diese alten Männer hatten Knochen in ihren Nasen und Muscheln in den Ohren, aber sie strahlten auch etwas sehr Vertrautes aus. Sie machten diesen wohlgenährten, bedeutungsschwangeren und abwägenden Eindruck von Leuten, die stets darauf bedacht waren, nicht ganz oben zu stehen. Viele Regierungsbeamte waren wie sie und hatten sich häufig zu gesellschaftlichen Ereignissen im Anwesen eingefunden. Im Laufe der Jahre hatten sie gelernt, dass die höchsten Positionen keineswegs Zufriedenheit oder Sicherheit bedeuteten. Eine Sprosse tiefer war genau der richtige Platz für einen vernünftigen Mann. Man beriet den König, man hatte sehr viel Macht, aber eher im Stillen, und man wurde nicht annähernd so häufig ermordet. Und falls der Herrscher auf seltsame Ideen kam und sich peinlich verhielt, dann… kümmerte man sich einfach um die Angelegenheit.

Der Mann, der ihr am nächsten stand, bedachte sie mit einem nervösen Lächeln, doch erst später wurde ihr bewusst, dass er vielleicht nur hungrig gewesen sein könnte. Auf jeden Fall war die Ähnlichkeit verblüffend, denn wenn man sich die langen Haare wegdachte, die zu einem Kopfschmuck zusammengerollt waren, in dem eine Feder steckte, und sich dafür eine silberne Brille hinzudachte, würde er exakt wie der Premierminister ihres Heimatlandes aussehen – oder zumindest so, wie der Premierminister aussehen würde, nachdem er ein Jahr in der Sonne verbracht hatte.

Trotz seiner Bemalung konnte Daphne die Falten ganz deutlich erkennen. Kannibalenhäuptling, dachte sie. Ein scheußlicher Name. Aber sie bemerkte den glattpolierten Schädel an seinem Gürtel, und seine Halskette bestand aus kleinen weißen Muscheln und Fingerknochen, und soweit ihr bekannt war, besaß der Premierminister auch keine große, schwarze Kampfkeule, die mit Haizähnen gespickt war.

»Erstaunliche Ähnlichkeit, nicht wahr?«, sagte Cox, als hätte er ihre Gedanken gelesen. »Und da hinten ist noch einer, den man bei schlechter Beleuchtung mit dem Erzbischof von Canterbury verwechseln könnte. Daran zeigt sich mal wieder, was ein ordentlicher Haarschnitt und ein maßgeschneiderter Anzug ausmachen, nicht wahr?«

Er zwinkerte wieder auf seine fiese Art, und Daphne, die geschworen hatte, nicht auf so etwas einzugehen, hörte sich sagen: »Der Erzbischof von Canterbury, Mr. Cox, ist kein Kannibale!«

»Er hält sich nicht dafür, Fräulein. Ich sage nur: Wein und Hostien, Mylady, Wein und Hostien!«

Daphne erschauderte. Dieser Mann hatte die unheimliche Fähigkeit, einem in den Kopf zu schauen, so dass man sich hinterher beschmutzt fühlte. Selbst hier am Strand hätte sie sich am liebsten bei dem Sand dafür entschuldigt, dass Cox darauf herumtrampelte, aber als sie die Blicke der runzligen, alten Männer in seiner Begleitung bemerkte, machte ihr Herz einen Sprung. Deren Augen funkelten vor Zorn! Sie hassten ihn! Er hatte sie hierher gebracht, und nun steckten sie bis zum Hals im Kanonenrohr, sozusagen. Sie könnten hier getötet werden, und dabei hatten sie doch ihr ganzes Leben damit verbracht, nicht getötet zu werden. Nun gut, er hatte den letzten König getötet, aber das war ihm nur wegen dieses magischen Waffenstocks gelungen. Er roch nach Wahnsinn. Traditionen waren etwas Gutes, aber manchmal musste man praktisch denken…

»Sagen Sie, Mr. Cox, sprechen Sie eigentlich die Sprache Ihrer neuen Untertanen?«, fragte sie zuckersüß.

Cox sah sie erstaunt an. »Was, ich? Sehe ich so aus, als würde ich ihr heidnisches Gebrabbel ernst nehmen? Ugga wugga hier und lugga mugga dort! Das ist nichts für mich! Ich bringe ihnen Englisch bei, wenn Sie schon fragen. Ich werde sie zivilisieren, und wenn ich sie dazu der Reihe nach erschießen muss, das können Sie mir glauben. Apropos ugga wugga, was hat all das Kinnwackeln zu bedeuten?«

Daphne spitzte die Ohren und versuchte, etwas von dem Gespräch mitzubekommen. Diese Kriegsverhandlungen nahmen einen eher seltsamen Verlauf. Die feindlichen Krieger hörten Pilu zwar zu, schauten aber zu Milo auf, wenn sie antworteten, als hätte Pilu selbst überhaupt keine Bedeutung.

Mau hielt sich aus allem heraus. Er stand hinter den Brüdern, auf seinen Speer gestützt und lauschte. Daphne wollte sich zu ihnen durchschubsen, doch das war gar nicht nötig, denn die Kannibalenhäuptlinge machten ihr unverzüglich Platz.

»Was passiert hier?«, flüsterte sie. »Machen sie sich Sorgen wegen der Kanonen?«

»Ja. Sie glauben an den Kampf Mann gegen Mann, ein Häuptling gegen den anderen. Wenn unser Häuptling ihren besiegt, werden sie abziehen.«

»Kann man ihnen vertrauen, dass sie sich auch daran halten?«

»Ja. Es ist eine Frage des Glaubens. Wenn ihr Gott ihnen nicht freundlich gesinnt ist, werden sie nicht kämpfen. Aber Cox will, dass sie alle kämpfen, und sie wissen, dass sie ihm gehorchen sollten. Er will ein Massaker. Er sagt ihnen, dass die Kanonen nicht funktionieren werden.«

»Aber du glaubst, dass sie es doch tun«, sagte Daphne. »Ich glaube, dass eine funktionieren wird«, sagte Mau leise.

»Eine? Eine!«

»Nicht so laut! Ja, eine. Nur eine. Aber das spielt keine Rolle, wir haben sowieso nur genug Schießpulver für diesen einen Schuss.«

Daphne war sprachlos. Schließlich stieß sie hervor: »Aber es waren insgesamt drei Pulverfässer!«

»Das stimmt. Aber das kleine Fass aus deiner Kabine war halb leer, und die anderen sind nass geworden. Sie sind jetzt nur noch voller Schießpulversuppe.«

»Aber vor ein paar Wochen hast du doch eine Kanone abgefeuert!«

»In dem kleinen Fass war gerade genug Pulver für zwei Schüsse. Den ersten haben wir mit der Kanone ausprobiert, die am wenigsten lädiert zu sein schien. Es hat geklappt. Du hast es gesehen. Aber jetzt hat sie einen langen Riss, und es war die beste von allen. Aber mach dir keine Sorgen, wir haben sie repariert.«

Daphne runzelte die Stirn. »Wie wollt ihr denn eine Kanone reparieren? Ihr könnt hier doch gar keine Kanone reparieren!«

»Ein Hosenmensch kann es vielleicht nicht, aber ich schon«, sagte Mau stolz. »Vergiss nicht, dass du dir auch erst nicht vorstellen konntest, wie man eine Sau melken könnte!«

»Also gut. Wie habt ihr eine kaputte Kanone repariert?«

»Auf unsere Art«, sagte Mau strahlend. »Mit Stricken!«

»Mit Str…?«

»Rraa! Cox ist die Krabbe des Teufels!«

Selbst Daphne, die immer noch den Mund zur Erwiderung geöffnet hatte, drehte sich um…

Doch Cox war schneller als alle anderen. Seine Hand reagierte sofort, als der Papagei über den Strand flatterte. Er zog, zielte und feuerte in einer Bewegung, drei Schüsse, in rascher Folge.

Der Papagei kreischte auf und stürzte in das Papierrebendickicht über dem Strand. Nur ein paar in der Luft schwebende Federn blieben zurück.

Cox wandte sich der Zuschauermenge zu und verbeugte sich wie ein Musiker, der soeben ein besonders schwieriges Klavierkonzert gegeben hat. Doch die Räuber sahen ihn an, als wäre er ein kleiner Junge, der stolz darauf war, sich nassgemacht zu haben.

Daphne kam noch nicht so ganz über die Sache mit den Stricken hinweg, aber nun schob sich ein anderer Gedanke in den Vordergrund: drei Schüsse hintereinander! Die Waffe des holländischen Captains war ein Revolver!

»Ich glaube, das ist jetzt ein guter Zeitpunkt«, sagte Mau.

»Pilu müsste sie inzwischen hinreichend verwirrt haben. Verwandelst du meine Worte bitte in Hosenmenschensprache?«

Dann stapfte er los, bevor sie etwas dazu sagen konnte.

Er drängte in den Kreis und baute sich vor den Räubern auf.

»Wer sagt, dass unsere Kanonen nicht feuern können?«, brüllte er. »Genug geredet! Feuer!«

Oben auf dem Hügel legte die Unbekannte Papierrebenfrau, die sich gehorsam über ihre grüne Kanone gebeugt hatte, das Zündholz an die Zündschnur und rannte dann wie befohlen sehr schnell fort und ging hinter einem Baum in Deckung, bis der Donner verhallt war. Dann rannte sie noch schneller wieder zurück. Sie achtete nicht auf die Kanone, die unter einer Rauchwolke verborgen war, sondern blickte auf die Lagune.

Die Kugel war im Wasser gelandet und hatte drei Boote zum Kentern gebracht. Menschen schwammen im Meer. Sie lächelte und ging zur Kanone zurück. Obwohl sie ohne Worte war, hatte sie die anderen angefleht, sie abfeuern zu dürfen. Hatte sie nicht die ganze Zeit Papierreben gesammelt? Hatte sie daraus nicht von morgens bis abends Stricke gemacht und den unauslöschlichen Hass mit hineingeflochten, der in ihrem Herzen war? Hatte Mau nicht gesehen, wie sie Pilu geholfen hatte, Metallplatten zu formen, um die Risse in der Kanone abzudecken?

Hatte er nicht gesehen, wie sorgfältig sie die Stricke um die Kanone gewickelt hatte, Schicht um Schicht, jede so stark wie ihre Sehnsucht nach Rache?

Mau hatte es gesehen, und die Stricke hatten gehalten.

Dünne Fasern aus Papierreben konnten den roten Donner bändigen.

Sie kehrte zum Baum zurück, nahm ihr Baby aus der Wiege aus Papierreben, küsste es und weinte.

»Wir werden wieder feuern«, rief Pilu inmitten der Verwirrung. »Wir werden eure großen Kanus zerstören. Wir haben euch zum Einzelkampf herausgefordert. Ihr müsst annehmen!

Oder wollt ihr nach Hause schwimmen?«

Räuber drängten sich um Cox, der sie laut anbelferte.

»Was haben Sie schon zu verlieren, Mr. Cox«, rief Daphne in dem ganzen Durcheinander. »Glauben Sie denn nicht, dass Sie gewinnen würden?« Und in der Inselsprache zischte sie: »Wir werden jedes einzelne Kanu versenken! Unsere Waffen sind gut bewacht!« Mau flüsterte ihr etwas ins Ohr, und sie fügte in Hosenmännisch hinzu: »Sollten Sie Ihre Waffe im Kahana-Kreis erheben, wird man Sie sofort töten, Mr. Cox. Das wäre gegen alle Regeln!«

Ein dumpfes Trommeln war zu hören. Es war Milo, der sich auf die Brust schlug. »Wer will kämpfen?«, brüllte er. »Wer will gegen mich kämpfen?«

»Also gut. Ich werde kämpfen!«, knurrte Cox. Er stieß ein paar seiner Spießgesellen weg und klopfte sich den Staub vom Hemd. »Hm. Und dabei bin ich doch eigentlich König in dieser Gegend«, beklagte er sich. »Die Wachbrigade würde ihrem König niemals so verräterisch in den Rücken fallen, das könnt ihr mir glauben.« Er funkelte Milo an. »Ich werde gegen den Großen kämpfen. Es ist ja nicht so, dass er leicht zu verfehlen wäre.«

»Du hast einen Plan, nicht wahr?«, zischte Daphne Mau zu.

»Du lässt Milo nicht einfach von ihm erschießen, oder?«

»Ja, ich habe einen Plan. Nein, er wird Milo nicht erschießen. Wir haben den Räubern gesagt, dass Milo der Häuptling ist, für den Fall, dass einer von ihnen gegen ihn antreten wollte, denn er hätte mit Sicherheit gewonnen. Aber ich werde nicht zulassen, dass Cox Milo erschießt. Er ist so groß, so leicht zu treff…«

Daphnes Gesichtsausdruck wurde hart, als sie begriff. »Du willst es tun, nicht wahr…? Du willst gegen ihn kämpfen.« Sie wurde zur Seite gedrängt, als Milo seine riesige Hand auf die Schulter des Jungen fallen ließ, worauf dieser etwas windschief dastand.

»Hört mir zu!«, rief Milo den Räubern zu. »Ich bin nicht der Häuptling. Mau ist der Häuptling. Er ist aus dem Land Locahas zurückgekehrt. Er hat die Seelen der Toten befreit. Die Götter haben sich vor ihm in einer Höhle versteckt, aber er hat sie gefunden, und sie haben ihm das Geheimnis der Welt verraten! Und er hat keine Seele.«

Heiliger Bimbam!, dachte Daphne. Als sie acht Jahre alt gewesen war, wurde einer der Diener entlassen, weil er diesen Ausdruck benutzt hatte, und bis sie an Bord der Sweet Judy kam, hatte sie gedacht, es wäre der schlimmste Fluch der ganzen Welt. Aber so fühlte er sich auch immer noch an.

Heiliger Bimbam! Das waren mehr Worte auf einmal, als Milo sonst an einem ganzen Tag sagte! Und sie hätten auch von seinem Bruder kommen können, denn sie verkleideten die Wahrheit als Lüge, und genau das ließ sie in Daphnes Kopf widerhallen. Das Gleiche schienen sie in den Köpfen der Krieger zu bewirken. Sie starrten Mau voller Erstaunen an.

Dann landete auch auf Daphnes Schulter eine schwere Hand, und Cox sagte:

»Fräulein? Ich werde den kleinen Mistkäfer wohl erschießen müssen, was?«

Sie fuhr herum und stieß seine Hand weg. Doch er packte sie fest am Handgelenk.

»Ich könnte Sie erschießen, Cox, ganz gleich, was Sie sagen!«

Cox lachte. »Oh, Sie haben wohl Geschmack am Töten gefunden, kleines Fräulein, wie?«, sagte er, während sein Gesicht genau vor ihrem hing. »Ich finde ja, dass Vergiften eigentlich gar nicht zählt. Hat er geröchelt? Wurde er ganz grün im Gesicht?

Aber toll, wie Sie Polegrave zwei Zähne ausgeschlagen haben, dem bösen, kleinen Wicht…

Er hat doch nicht etwa versucht, Ihnen Ihre Unschuld zu rauben, oder? Ich werde ihn erschießen, wenn er Ihnen zu nahe gekommen ist! Ach, dabei fällt mir ein, ich habe ihn erst gestern erschossen, weil er mir wieder mal endlos auf den Sack ging – wie man so schön sagt…«

Daphne riss ihren Arm los. »Fassen Sie mich nie wieder an! Und denken Sie noch nicht einmal daran, dass ich wie Sie sein könnte. Wagen Sie es nicht…«

»Halt.« Mau sprach nicht laut. Das tat sein Speer für ihn.

Er zielte genau auf Cox’ Herz.

Ein paar Sekunden lang rührte sich niemand, bis Cox langsam und vorsichtig sagte: »Ah, das ist also Ihr Verehrer? Was würde Ihr lieber Papa wohl dazu sagen? Ach du meine Güte! Und Sie haben ihm sogar das Sprechen beigebracht!«

Der Kannibalenzwilling des Premierministers trat mit erhobenen Händen zwischen sie, und plötzlich wurden sehr viele Speere und Keulen geschwenkt.

»Noch nicht Kampf!«, sagte er in gebrochenem Hosenmännisch zu Cox und wandte sich dann an Daphne.

»Der Junge hat keine Seele?«, fragte er sie in der Inselsprache. »Die Welle hat seine Seele fortgespült, aber er hat sich eine neue gemacht«, sagte sie.

»Falsch. Niemand kann sich eine Seele machen!« Aber seine Miene zeigte Besorgnis, wie Daphne bemerkte.

»Er konnte es. Er hat sie außerhalb von sich gemacht. Deine Füße berühren sie jetzt in diesem Augenblick. Und versuch nicht, zur Seite zu treten. Sie bedeckt die ganze Insel, jedes Blatt und jeden einzelnen Kieselstein!«

»Man nennt dich eine Frau mit großer Macht, Geistermädchen.« Der Mann trat einen Schritt zurück. »Ist es wahr? Welche Farbe haben die Vögel im Land von Locaha?«

»Dort gibt es keine Farben. Und auch keine Vögel. Die Fische glänzen silbrig und schwimmen schnell wie Gedanken.« Die Worte waren bereits in ihrem Kopf, bevor sie darüber nachdenken musste. Gütiger Himmel, dachte sie, ich weiß das alles!

»Wie lange kann sich jemand im Land von Locaha aufhalten?«

»So lange, wie ein Wassertropfen fällt«, sagten Daphnes Lippen, bevor sie die Frage zu Ende gehört hatte.

»Und die Seele, die sich eine eigene Seele macht… er war in Locahas Land?«

»Ja. Doch er rannte schneller als Locaha.«

Die dunklen, stechenden Augen fixierten sie noch eine Weile, und dann schien es ihr, als hätte sie irgendeinen Test bestanden.

»Du bist sehr klug«, sagte der alte Mann schüchtern. »Eines Tages würde ich gern dein Hirn essen.«

Aus irgendeinem Grund waren die Benimmbücher, die Daphnes Großmutter ihr aufgezwungen hatte, nie auf eine solche Situation eingegangen. Natürlich sagten dumme Menschen gern zu kleinen Babys: »Du bist so süß, ich könnte dich vernaschen!« Aber solcher Unsinn war längst nicht mehr so witzig, wenn er von einem Mann mit Kriegsbemalung kam, der diverse Totenschädel am Gürtel trug. Daphne, die unter dem Fluch guter Manieren stand, erwiderte schließlich: »Es ist sehr freundlich von dir, das zu sagen.«

Der Mann nickte und kehrte zu seinen Leuten zurück, die sich um Cox geschart hatten.

Mau trat wieder zu ihr. »Ihr Priester scheint dich zu mögen.«

»Nur mein Gehirn, Mau, und selbst wenn er es zu Mittag verspeisen würde, hätte ich immer noch mehr als du! Hast du nicht die Pistole gesehen, die er jetzt hat? Es ist eine Pepperbox. Ein Freund meines Vaters hatte so eine! Sie fasst sechs Patronen.

Also hat er sechs Schüsse, ohne nachladen zu müssen! Und außerdem hat er noch eine normale Pistole!«

»Ich werde schnell sein.«

»Du kannst nicht schneller rennen als seine Kugeln!«

»Ich werde ihnen aus dem Weg gehen«, sagte Mau mit einer Ruhe, die sie wahnsinnig machte.

»Verstehst du denn nicht? Er hat zwei Pistolen, und du hast einen Speer! Dir wird der Speer ausgehen, bevor ihm die Pistolen ausgehen!«

»Ja, aber seiner Pistole werden die Kugeln ausgehen, bevor meinem Messer die Schärfe ausgeht«, sagte Mau.

»Mau, ich will nicht, dass du stirbst!«, rief Daphne. Die Worte hallten von der Klippe zurück, und sie wurde puterrot.

»Wer soll dann sterben? Milo? Pilu? Oder wer? Nein. Wenn irgendjemand stirbt, sollte ich es sein. Ich bin schon einmal gestorben. Ich weiß, wie es geht. Ende der Diskussion!«