8
Es dauert ein Leben,
um das Sterben zu lernen
Daphne aß für Mrs. Glucker, die keine Zähne mehr hatte. Und zwar indem sie ihr das Essen mundgerecht vorkaute, damit es schön weich wurde. Das, dachte Daphne, während sie den Bissen aus gepökeltem Rindfleisch pflichtbewusst mit den Zähnen bearbeitete, war ein völlig anderes Leben als zu Hause.
Doch inzwischen kam ihr das Leben zu Hause ohnehin nur noch unwirklich vor. Ihr Zuhause war jetzt eine Matte in einer Hütte, auf der sie jede Nacht so tief und fest schlief, dass der Schlaf einfach schwarz blieb, und der Hain, in dem sie sich nützlich machte. Und hier konnte sie sich wirklich nützlich machen. Außerdem beherrschte sie die Sprache jeden Tag ein bisschen besser.
Mrs. Glucker jedoch konnte Daphne überhaupt nicht verstehen. Selbst Cahle hatte damit Schwierigkeiten und ihr irgend wann erklärt: »Sehr alte Sprache. Von lange her.« Auf allen Inseln hatte man von der alten Frau gehört, aber keiner der Überlebenden wusste mehr über sie zu sagen, als dass sie uralt war.
Auch der Junge Oto-I konnte nur berichten, dass sie ihn von einem dahintreibenden Baumstamm aufgelesen und die ganze Zeit Meerwasser getrunken hatte, damit das Süßwasser in ihrem Beutel für ihn reichte.
Mrs. Glucker tippte ihr an den Arm. Geistesabwesend spuckte Daphne das zerkaute Fleisch aus und reichte es ihr. Sie musste zugeben, dass es nicht gerade der angenehmste Zeitvertreib war. Wenn man ganz genau darüber nachdachte, konnte man es nur mit bah umschreiben, aber schließlich musste sie sich ihr Essen ja nicht von der alten Frau vorkauen lassen.
»Ermintrude.«
Einen Moment lang hing dieses Wort in der Luft.
Sie blickte sich erschrocken um. Niemand auf der Insel kannte diesen Namen! Vor ihr im Garten kümmerten sich ein paar Frauen um die Pflanzen, aber die meisten Leute arbeiteten auf den Feldern. Neben ihr schlürfte die alte Frau begeistert die Fleischpampe und gab dabei Geräusche von sich wie ein verstopfter Abfluss.
Es war ihre eigene Stimme gewesen. Offenbar hatte sie sich Tagträumen hingegeben, um sich vom Vorkauen abzulenken.
»Hol den Jungen her. Bring sofort den Jungen hierher.«
Schon wieder. Hatte sie das wirklich gesagt? Ihre Lippen hatten sich nicht bewegt – das hätte sie gespürt. Das war nicht das, was die Leute mit Selbstgesprächen meinten. Sie hatte nicht mit, sondern zu sich selbst gesprochen. Aber sie konnte ja nicht »Wer bist du?« fragen – nicht ihre eigene Stimme.
Pilu hatte ihr erzählt, dass Mau tote Großväter in seinem Kopf hörte, und sie vermutete, dass so etwas wohl unausweichlich war, nach allem was der Junge durchgemacht hatte.
Konnte auch sie jetzt seine Vorfahren hören? »Ja«, sagte ihre eigene Stimme.
»Warum?«
»Weil dies ein heiliger Ort ist.«
Daphne zögerte. Wer auch immer das tat, kannte ihren Namen, und hier kannte niemand ihren richtigen Namen, wirklich niemand! Es war ein Geheimnis, das sie lieber für sich behalten wollte. Und sie war auch nicht verrückt geworden, weil ein Verrückter bestimmt nicht die letzte halbe Stunde damit zugebracht hätte, Mrs. Glucker das Essen vorzukauen… na ja, vielleicht war das doch kein so gutes Beispiel, denn ihre Großmutter und Leute wie sie würden bestimmt sagen, dass ein Mädchen, das Königin sein würde – wenn einhundertneununddreißig Leute starben – und das Fleisch für jemanden vorkaute, der wie Mrs. Glucker aussah, klang und roch, verrückter nicht sein konnte, ohne dass ihm der Sabber aus den Mundwinkeln lief.
Vielleicht war es auch Gottes Stimme, aber so fühlte es sich nicht an. In der Kirche hatte sie angestrengt gelauscht, ob sie Gott hören konnte, vor allem nach jener schrecklichen Nacht, aber natürlich war Er immer ziemlich beschäftigt. Allerdings gab es hier auch kleinere Götter. Vielleicht war es einer von denen.
Sie ließ den Blick über den Garten schweifen. Hier gab es keine Kirchenbänke und schon gar kein poliertes Messing, doch dieser Ort strahlte eine besondere Ruhe aus, ein von Brisen durchwobenes Schweigen. Hier schien der Wind nie besonders stark zu wehen, und laute Geräusche verloren sich heimlich in den Bäumen.
Dies war wirklich ein heiliger Ort, und nicht etwa wegen irgendeines Gottes. Er war… einfach heilig, weil er existierte, weil hier Schmerz und Blut und Freude und Tod endlos durch die Zeiten hallten und ihn so dazu gemacht hatten.
Da war die Stimme wieder. »Schnell! Beeil dich!« Daphne sah sich erschrocken um. Doch die Frauen im Garten hatten nicht einmal aufgeblickt. Dennoch lag in diesem »Beeil dich« eine Dringlichkeit, die sie aufspringen ließ.
Ich scheine Selbstgespräche zu führen, dachte Daphne, als sie den Frauenhain verließ. So etwas machen Menschen mitunter.
Und für jemanden, der auf einer einsamen Insel gestrandet ist, dürfte es sogar absolut normal sein. Da bin ich mir ganz sicher.
Dann rannte sie den Hügel hinunter, an dessen Fuß sich eine kleine Gruppe von Leuten versammelt hatte. Zuerst dachte sie, dass weitere Überlebende eingetroffen wären, doch dann sah sie eine Gestalt, die zusammengesackt an der Wand der neuen Hütte lag.
»Was habt ihr mit ihm gemacht?«, rief sie im Laufen. Pilu drehte sich um, während der Rest der Gruppe schnell vor ihrem Zorn zurückwich.
»Wir? Ich habe nur versucht, ihn zu überreden, sich hinzulegen, aber er sträubt sich mit Händen und Füßen. Ich könnte schwören, dass er schläft, aber ich habe noch nie jemanden gesehen, der so schläft!«
Sie ebenfalls nicht. Maus Augen standen zwar offen, aber Daphne hatte das unbehagliche Gefühl, dass sie nicht diesen Strand betrachteten, falls sie denn überhaupt etwas sahen. Seine Arme und Beine zuckten, als wollten sie sich bewegen, konnten es jedoch nicht.
Sie kniete neben Mau nieder und legte ein Ohr an seinen Brustkorb. Dabei hätte sie ihm gar nicht so nahe kommen müssen, denn sein Herz schlug, als wollte es sich aus seinem Gefängnis befreien.
Pilu trat zu ihr und flüsterte: »Es hat Ärger gegeben!« Mit diesen wenigen Worten gelang es ihm, ihr zu verstehen zu geben, dass er den Ärger nicht ausgelöst hatte – er auf gar keinen Fall – und dass er grundsätzlich gegen jede Art von Ärger war, insbesondere dann, wenn er so kurz bevorstand. Seit dem Funkel-Lied fühlte er sich in Daphnes Nähe immer etwas unwohl.
Sie war eine Frau mit großer Macht.
»Was für Ärger?«, wollte sie wissen und sah sich fragend um.
Aber sie brauchte keine Antwort abzuwarten, weil Ataba mit wutverzerrter Miene dastand. Anscheinend war es zu einer dieser Situationen gekommen, in denen »ein Wort das andere gab«, wie sich Cook zu Hause ausgedrückt hätte.
Er stierte sie an, und sein Gesicht sah aus wie ein versohlter Hintern (ebenfalls Cooks Ausdrucksweise), dann schnaufte er und drehte sich zur Lagune um.
In diesem Moment wölbte sich das Wasser, und Milo trat triefend auf den leicht ansteigenden, weißen Sand. Auf den Schultern trug er einen Götterstein.
»Ich will wissen, was hier los ist!«, sagte Daphne. Doch niemand nahm Notiz von ihr. Alle Augen waren auf den näher kommenden Milo gerichtet.
»Hast du nicht gehört? Ich hatte dir verboten, das da aus dem Wasser zu holen!«, brüllte Ataba. »Ich bin ein Priester des Wassers!«
Milo bedachte ihn mit einem langen, ruhigen Blick und setzte seinen Weg fort. Seine Muskeln traten hervor wie geölte Kokosnüsse unter seiner Haut. Daphne hörte den Sand unter seinen Füßen knirschen, als er zu den Gottesankern hinüberstapfte und seine Last mit einem Grunzen absetzte. Der Stein versank ein kleines Stück im Sand.
Jetzt lagen dort schon vier. Das ist doch nicht richtig, dachte Daphne. Sollten es nicht drei sein, von denen einer verschwunden war? Woher kamen die anderen?
Sie beobachtete, wie sich Milo streckte und seine Gelenke knacken ließ, bevor er sich der kleinen Gruppe zuwandte. Mit der bedachten und ernsten Stimme eines Mannes, der die Wahrheit jedes einzelnen Wortes überprüfte, bevor er es aussprach, verkündete er: »Wenn irgendjemand diese Steine anrührt, wird er sich dafür vor mir verantworten müssen.«
»Der da wurde von einem Dämon gemacht!«, schrie Ataba. Er blickte sich zu den anderen um, doch von dort bekam er keine Unterstützung. Soweit Daphne erkennen konnte, hatten die Leute für keine Seite Partei ergriffen. Sie mochten es nur nicht, wenn herumgebrüllt wurde. Ihre ganze Situation war auch so schon schlimm genug.
»Dämon«, grollte Milo. »Du scheinst dieses Wort zu mögen. Dämonenjunge nennst du ihn. Aber er hat dich vor dem Hai gerettet, nicht wahr? Und du selbst hast gesagt, dass wir die Gottesanker gemacht haben. Das hast du gesagt! Ich habe es genau gehört!«
»Nur einige«, sagte Ataba und wich zurück. »Nur einige!«
»Von einigen war nicht die Rede«, erwiderte Milo schnell.
»Er hat nie das Wort ›einige‹ benutzt«, verkündete er der Menge. »Es ging um sein Leben, und er hat niemals von ›einigen‹ gesprochen. Ich habe sehr gute Ohren und weiß, dass er nicht ›einige‹ gesagt hat!«
»Wen interessiert es, was er gesagt hat!« Daphne wandte sich an eine der umstehenden Frauen. »Hol ein paar Decken für Mau. Er ist eiskalt!«
»Mau hat Ataba vor einem Hai gerettet«, sagte Pilu.
»Das ist eine Lüge! Ich war überhaupt nicht in Gefahr…«, setzte der Priester an und verstummte sofort wieder, als Milo ihn anknurrte.
»Ihr hättet ihn sehen sollen!«, sagte Pilu eifrig und wandte sich mit weit aufgerissenen Augen und ausgebreiteten Armen der Menge zu. »Es war der größte Hai, den ich je gesehen habe!
Er war so lang wie ein Haus! Er hatte Zähne wie… wie… gewaltige Zähne! Als er auf uns zustürmte, machte er Wellen, die beinahe das Kanu umgeworfen hätten!«
Daphne blinzelte und sah sich verstohlen zu den Leuten um. Ihre Augen waren genauso groß wie die von Pilu. Alle Münder standen offen.
»Und Mau hat einfach abgewartet und Wasser getreten«, fuhr der Junge fort. »Er ist nicht umgekehrt und geflüchtet! Er hat nicht versucht zu entkommen! Mau hat dem Hai direkt ins Auge geblickt, dort unten in seiner Welt! Er hat ihm gewunken, diesem Hai mit Zähnen wie Nadeln, mit Zähnen wie Macheten, damit er zu ihm kommt. Ja, er hat ihn zu sich gerufen! Das hat er getan! Ich war im Wasser und habe es gesehen. Er hat auf den Hai gewartet! Und der Hai kam unaufhaltsam auf ihn zu, sehr schnell! Er schoss wie ein Speer heran! Schneller und immer schneller!«
Im Publikum wimmerte jemand.
»Und dann sah ich etwas sehr Erstaunliches!«, fuhr Pilu fort mit großen, schimmernden Augen. »Es war das Allererstaunlichste, was ich jemals gesehen habe! So etwas erlebe ich bestimmt kein zweites Mal, auch wenn ich hundert Jahre alt werde! Als dieser Hai durch das Wasser schoss, als der Hai mit den riesigen Zähnen zum Angriff überging, als dieser Hai, der so lang wie ein Haus war, pfeilschnell auf ihn zuflog – habe ich gesehen, wie Mau vor Angst ins Wasser gepinkelt hat!«
Die kleinen Wellen der Lagune schwappten leise an den Strand, was in diesem bodenlosen Augenblick der Stille ungewöhnlich laut klang.
Die Frau, die eine Decke aus der Hütte geholt hatte, wäre fast gegen Daphne gelaufen, weil sie ihren Blick nicht von Pilu abwenden konnte.
Na, besten Dank, Pilu, dachte sie verbittert, als sich der Zauber in Luft auflöste. Du warst richtig gut, du hattest ihre Herzen in der Hand, und dann musstest du es ruinieren, indem du…
»Und in diesem Moment habe ich gesehen«, flüsterte Pilu mit gesenkter Stimme und blickte jedem aus dem Kreis der Gesichter tief in die Augen. »In diesem Moment habe ich gewusst. In diesem Moment habe ich verstanden! Mau ist kein Dämon! Er ist auch kein Gott und kein Held! Nein. Er ist einfach nur ein Mensch. Ein Mensch, der große Angst hatte! Ein Mensch wie jeder von uns! Aber würden wir dort unten im Wasser abwarten, in Todesangst, wenn ein Hai mit riesengroßen Zähnen auf uns zurast und uns fressen will? Er hat es getan! Ich habe es gesehen! Und als der Hai kurz vor ihm war, schrie Mau ihm seine Verachtung entgegen! Er schrie diese Worte: »Ge! Schi! Ni!«
»Ge! Schi! Ni!«, murmelten einige Leute wie in Trance. »Und der Hai drehte ab und flüchtete vor ihm. Er konnte Mau nicht in die Augen blicken. Der Hai kehrte um, und wir waren gerettet. Ich war dabei. Ich habe alles gesehen.«
Daphnes Hände schwitzten. Sie hatte regelrecht gespürt, wie der Hai an ihr vorbeigestrichen war. Sie konnte sein schreckliches Auge sehen. Sie hätte ein Bild von seinen Zähnen malen können. Auch sie war dabei gewesen. Auch sie hatte ihn gesehen. Pilus Worte hatten ihr alles gezeigt!
Sie erinnerte sich noch daran, wie Mr. Griffith einmal von den Nonkonformisten eingeladen worden war, in der Gemeindekirche zu sprechen. Die Predigt war recht feucht gewesen, weil er, immer wenn er lauter wurde, einen leichten Nieselregen versprühte, doch er war so sehr von Gott erfüllt, dass seine Worte bis in den letzten Winkel der Kirche vordrangen.
Er predigte, als hielte er ein Flammenschwert in Händen. Fledermäuse fielen aus dem Dachstuhl. Die Orgel fing von allein an zu spielen. Im Taufstein schwappte das Wasser. Alles in allem unterschied sich diese Predigt doch sehr von den Andachten des Pfarrers Fleblow-Poundup, der an guten Tagen seinen Gottesdienst in einer halben Stunde heruntermurmelte, derweil sein Schmetterlingsnetz und der Kollektenbeutel an der Kanzel warteten.
Als sie danach wieder nach Hause kamen, hatte ihre Großmutter in der Diele gestanden, tief Luft geholt und gesagt: »Nun denn!« Das war alles. Normalerweise neigten die Menschen dazu, sich in der Gemeindekirche möglichst leise zu verhalten.
Vielleicht hatten sie Angst davor, Gott aufzuwecken, der dann womöglich unangenehme Fragen stellte oder sie gar einer Prüfung unterzog.
Pilu jedoch hatte die Geschichte vom Hai ebenso fesselnd geschildert, wie Mr. Griffith predigte. Er hatte Bilder heraufbeschworen, lebendige Bilder. Stimmte die Geschichte?
Hatte es sich wirklich genauso abgespielt? Aber wie sollte es anders sein? Sie waren ja dabei gewesen. Sie hatten alles gesehen. Sie waren Teil davon.
Sie betrachtete Mau. Noch immer standen seine Augen offen, und sein Körper zuckte. Dann sah sie Cahle ins Gesicht, die sagte: »Locaha hat ihn gepackt.«
»Du meinst, er stirbt?«
»Ja. Locahas kalte Hand liegt auf ihm. Du kennst Mau. Er schläft nie. Er isst nicht genug. Er trägt jede Last, läuft jede Strecke. In seinem Kopf kreiseln zu viele Gedanken. Hat irgendwer auch nur einmal gesehen, dass er nicht gearbeitet, Wache gehalten, gegraben oder getragen hat? Er versucht, die ganze Welt auf seinem Rücken zu tragen! Und wenn solche Menschen schwach werden, eilt Locaha herbei.«
Daphne beugte sich zu Mau hinunter. Seine Lippen waren blau. »Du stirbst nicht«, flüsterte sie. »Du darfst nicht sterben.«
Sie schüttelte ihn behutsam, als ein Hauch über seine Lippen kam, leise wie das Niesen einer Spinne: »Geschii…« »Geschieht nicht!«, sagte sie triumphierend. »Hörst du?
Locaha hat ihn noch nicht erwischt! Sieh dir seine Beine an. Er stirbt nicht! In seinem Kopf rennt er!«
Cahle betrachtete aufmerksam Maus zuckende Beine und legte ihm eine Hand auf die Stirn. Ihre Augen wurden groß. »Ich habe von so etwas schon mal gehört«, sagte sie. »Das hat mit den Schatten zu tun. Aber es wird ihn trotzdem töten. Die Himmelsfrau wird wissen, was zu tun ist.«
»Und wo ist sie?«
»Du hast ihr das Fleisch vorgekaut«, sagte Cahle lächelnd.
Hinter ihr tauchte die Unbekannte Frau auf und starrte Mau entsetzt an.
»Mrs. Glucker?«, sagte Daphne.
»Sie ist sehr alt. Eine Frau mit großer Macht.«
»Dann sollten wir uns lieber beeilen!«
Daphne schob ihre Hände unter Maus Arme und zog ihn hoch.
Zu ihrem Erstaunen gab die Unbekannte Frau ihr Baby an Cahle ab und übernahm Maus Füße. Erwartungsvoll blickte sie zu Daphne.
Gemeinsam rannten sie den Hügel hinauf und ließen alle anderen hinter sich zurück. Als sie die Hütte erreichten, wartete Mrs. Glucker schon auf sie mit glänzenden, kleinen, schwarzen Augen.
Sobald sie Mau auf eine Matte gelegt hatten, veränderte sich die alte Frau.
Bis zu diesem Moment war Mrs. Glucker für Daphne ein eher seltsames Persönchen gewesen. Sie hatte das meiste Kopfhaar verloren, lief wie ein Schimpanse auf allen vieren und sah aus, als wäre sie aus alten Lederbeuteln zusammengenäht worden.
Außerdem war sie, offen gesagt, ausgesprochen gierig, wenn es ums Essen ging, und neigte zu äußerst undamenhaften Fürzen, obwohl daran in erster Linie wohl das Pökelfleisch schuld war.
Nun kroch sie vorsichtig um Mau herum und berührte ihn hier und dort. Sie horchte aufmerksam an seinen Ohren, hob abwechselnd seine Beine an und beobachtete interessiert, wie sie zuckten, fast als hätte sie eine neue Tierart entdeckt.
»Er darf nicht sterben!«, platzte es aus Daphne heraus, unfähig, die Spannung noch länger zu ertragen. »Er schläft einfach nur zu wenig! Er hält jede Nacht Wache! Aber man kann doch nicht an Schlafmangel sterben! Oder?«
Die uralte Frau bedachte sie mit einem breiten Grinsen und hob einen von Maus Füßen hoch. Langsam glitt sie mit ihrem stumpfen, schwarzen Fingernagel über seine zuckende Sohle und schien enttäuscht von dem zu sein, was auch immer sie dadurch in Erfahrung gebracht hatte.
»Er stirbt doch nicht, oder? Er darf nicht sterben!«, beharrte Daphne, als Cahle hereinkam. Vor der Tür drängten sich inzwischen schon ein paar Leute.
Mrs. Glucker ignorierte sie jedoch und bedachte Daphne mit einem Blick, der unverkennbar besagen sollte: Ach, und wer bist du, dass du alles zu wissen glaubst? Dann zog und zupfte sie weiter an Maus Beinen herum, nur um klarzustellen, dass sie das Kommando übernommen hatte. Schließlich blickte sie zu Cahle und redete unglaublich schnell auf sie ein. An einer Stelle lachte Cahle und schüttelte den Kopf.
»Sie sagt, er ist in der…« Cahle hielt inne, und ihre Lippen bewegten sich, als suchte sie nach einem Wort, von dem sie glaubte, dass Daphne es verstehen würde. »Zwischenwelt«, sagte sie schließlich. »Ort der Schatten. Zwischen Leben und Tod.«
»Wo ist dieser Ort?«, fragte Daphne.
Wieder ein schwieriges Übersetzungsproblem. »Ein Ort ohne Orte – man kann dort nicht herumlaufen. Man kann dort nicht schwimmen. Kein Meer. Kein Land. Nur Schatten. Ja, die Schattenwelt!«
»Wie komme ich dorthin?« Diese Frage wurde an Mrs. Glucker weitergegeben, und die Antwort kam prompt.
»Du? Gar nicht!«
»Versteh doch, er hat mich vor dem Ertrinken gerettet! Ich verdanke ihm mein Leben, hörst du? Außerdem ist das doch bei euch so Sitte. Wenn jemand einem das Leben rettet, steht man in dessen Schuld, und man muss diese Schuld begleichen. Und genau das will ich tun!«
Mrs. Glucker schien davon recht angetan zu sein, als es ihr übersetzt wurde. Sie antwortete darauf.
Cahle nickte. »Sie sagt, wenn du in die Schattenwelt gehen willst, musst du sterben. Sie fragt, ob du weißt, wie das geht.«
»Du meinst, es ist etwas, dass man üben muss?«
»Ja. Viele Male«, sagte Cahle seelenruhig.
»Ich dachte immer, man hätte nur einen einzigen Versuch!«, sagte Daphne.
Plötzlich hockte Mrs. Glucker direkt vor ihr. Die alte Frau musterte sie mit ernstem Blick und drehte Daphnes Kopf hin und her, als würde sie in ihrem Gesicht nach etwas suchen. Und dann, bevor Daphne etwas dagegen tun konnte, hatte die alte Frau nach ihrer Hand gegriffen, drückte sie sich an die Brust und hielt sie dort fest.
»Bumm-bumm?«, fragte sie.
»Dein Herzschlag? Äh… ja«, sagte Daphne, die sich nach Kräften, aber erfolglos bemühte, ihre Scham zu unterdrücken.
»Er ist recht schwach – ich meine, du hast sehr… sehr viel…«
Das Herz hörte auf zu schlagen.
Daphne versuchte, ihre Hand zurückzuziehen, doch die Frau ließ sie nicht los. Mrs. Gluckers Gesichtsausdruck wurde leer und wirkte konzentriert, so als würde sie eine mittelschwere Kopfrechenaufgabe anstellen. In der Hütte schien es dunkler zu werden.
Daphne konnte nicht anders – sie fing leise an zu zählen.
»… fünfzehn… sechzehn…«
Und dann bumm.. , so schwach, dass sie es kaum spürte…
bumm diesmal etwas lauter… bumm-bumm… jetzt schlug das Herz wieder normal. Die alte Frau lächelte.
»Äh…ich könnte es probieren…«, setzte Daphne an. »Zeig mir einfach, was ich tun muss!«
»Die Zeit ist zu knapp, um es dir beizubringen, sagt sie«, übersetzte Cahle. »Sie sagt, es dauert ein ganzes Leben, das Sterben zu lernen.«
»Ich lerne sehr schnell!«
Cahle schüttelte den Kopf. »Dein Vater sucht nach dir. Er ist ein Häuptling der Hosenmenschen, richtig? Wenn du tot bist, was sollen wir ihm sagen? Wenn deine Mutter um dich weint, was sollen wir ihr sagen?«
Daphne spürte, wie ihr die Tränen kamen, und versuchte sie zurückzuhalten.
»Meine Mutter… kann nicht mehr weinen«, stieß sie hervor.
Wieder blickten Mrs. Gluckers kleine, dunkle Augen in ihr Gesicht, als wäre es klares Wasser – und auf einmal hockte Daphne in ihrem Nachthemd mit den kleinen, blauen Blumen auf der Treppe, die Arme um die Knie geschlungen, während sie voller Entsetzen den kleinen Sarg anstarrte, der auf dem großen stand. Und sie schluchzte, weil der kleine Junge anstatt zusammen mit seiner Mutter nun ganz allein in einer Kiste begraben werden sollte und so schreckliche Angst haben würde. Sie konnte die gesenkten Stimmen der Männer hören, die mit ihrem Vater sprachen, und das Klirren der Brandy-Karaffe, und sie roch sogar den uralten Teppich.
Dann das Grummeln einer aktiven Verdauung, und plötzlich saß Mrs. Glucker auf dem Teppich, kaute gepökeltes Rindfleisch und beobachtete Daphne mit interessiertem Blick. Die alte Frau stand auf, nahm den kleinen Sarg und stellte ihn behutsam auf den Teppich. Dann öffnete sie den Deckel des großen Sarges und sah Daphne erwartungsvoll an.
Von unten waren Schritte zu hören, als ein Hausmädchen über den gefliesten Boden der Diele lief und schluchzend durch die grüne Tür in der Küche verschwand. Sie wusste, was zu tun war. In ihrer Phantasie hatte sie es schon tausendmal getan. Sie nahm den einsamen, kalten Körper aus seinem winzigen Sarg, küsste sein kleines Gesicht und legte ihn neben ihre Mutter. Das Weinen hörte auf…
… und sie blinzelte in Mrs. Gluckers leuchtende Augen, die nun wieder direkt vor ihr waren, und das Rauschen der Brandung drang an ihre Ohren. Die alte Frau wandte sich an Cahle und stieß einen rasselnden Schwall von Worten hervor, der wie eine lange Rede klang – oder vielleicht wie ein Befehl. Cahle wollte darauf etwas erwidern, aber die alte Frau hob streng einen Finger. Irgendetwas hatte sich verändert.
»Sie sagt, dass du ihn zurückholen musst«, erklärte Cahle missmutig. »Sie sagt, ein Schmerz sei endlich fortgenommen worden, dort am anderen Ende der Welt.«
Daphne fragte sich, wie weit diese dunklen Augen wohl blicken konnten. Am anderen Ende der Welt. Schon möglich. Wie hat sie das gemacht? Es hatte sich gar nicht wie ein Traum angefühlt, sondern eher wie eine Erinnerung! Und tatsächlich, ein Schmerz ließ nach…
»Sie sagt, dass du eine Frau mit großer Macht bist, genau wie sie«, fuhr Cahle widerstrebend fort. »Sie ist schon oft in der Schattenwelt gewandelt. Ich weiß, dass es stimmt. Dafür ist sie allseits bekannt.«
Mrs. Glucker schenkte Daphne ein leises Lächeln.
»Sie sagt, sie will dich in die Schatten schicken«, sprach Cahle weiter. »Sie sagt auch, dass du sehr gute Zähne hast und sehr freundlich zu einer alten Dame warst.«
»Äh… das war… kein Problem«, sagte Daphne und dachte verstört: Woher wusste sie davon? Wie hat sie das gemacht?
»Sie sagt, die Zeit reicht nicht, es dir beizubringen, aber sie kennt einen anderen Weg, und wenn du aus der Schattenwelt zurückkehrst, wirst du mit deinen wunderbar weißen Zähnen viel Fleisch für sie kauen können.«
Dabei grinste die kleine, alte Frau so breit, dass ihre Mundwinkel fast die Ohren berührten. »Das werde ich ganz bestimmt!«
»Also wird sie dich nun mit Gift töten«, fuhr Cahle fort. Daphne sah Mrs. Glucker an, die ihr aufmunternd zunickte.
»Das wird sie tun? Äh… wirklich? Ja dann, danke«, sagte Daphne. »Danke vielmals.«
Mau rannte. Aber er wusste nicht, warum. Seine Beine bewegten sich von ganz allein. Und die Luft war… keine Luft. Sie war zäher, ähnlich wie Wasser, und tiefschwarz, aber dennoch konnte er ziemlich weit sehen und sich darin auch sehr schnell bewegen. Riesige Säulen wuchsen um ihn herum aus dem Boden und schienen ewig weit hinaufzureichen, bis zu einem Dach aus Gischt.
Ein silbriges Etwas schoss blitzschnell an ihm vorbei und verschwand hinter einer Säule, und dann noch eins und noch eins.
Offenbar Fische – oder so was Ähnliches. Also war er unter Wasser. Und von unter Wasser blickte er zu den Wellen hinauf.
Er war in der Dunklen Strömung. »Locaha!«, rief er.
»Hallo, Mau«, sagte die Stimme von Locaha.
»Ich bin nicht tot! Das ist ungerecht!«
»Ungerecht? Ich glaube, dieses Wort ist mir gar nicht bekannt, Mau. Außerdem bist du wirklich fast tot. Jedenfalls mehr tot als lebendig, und jede Sekunde stirbst du etwas mehr.«
Mau versuchte, noch schneller zu laufen, doch er rannte bereits schneller als je zuvor in seinem Leben.
»Ich bin nicht müde! Ich kann ewig so weitermachen! Das ist irgend eine Art von Trick, nicht wahr? Selbst für einen Trick muss es Regeln geben!«
»Stimmt«, sagte Locaha. »Und es ist wirklich ein Trick.«
»Das hier ist doch sicher, nicht wahr?«, sagte Daphne. Sie lag auf einer Matte neben Mau, der immer noch reglos wie eine Puppe war, abgesehen von den zuckenden Beinen. »Und es wird auch funktionieren, nicht wahr?« Sie bemühte sich, das Zittern in ihrer Stimme zu verbergen, doch war es eine Sache, tapfer zu sein, und schon zwei Sachen, tapfer und entschlossen zu sein, besonders wenn es doch zunächst einmal nur eine Idee gewesen war. Und dann war es noch eine ganz andere Sache, wenn man aus den Augenwinkeln Mrs. Glucker dabei beobachten konnte, wie sie in der Ecke herumwerkelte.
»Ja«, sagte Cahle.
»Du bist dir auch ganz sicher, nicht wahr?«, sagte Daphne.
Meine Güte, wie armselig sie doch klang! Sie schämte sich dafür.
Cahle schenkte ihr ein Lächeln und ging zu Mrs. Glucker hinüber, die neben dem Feuer hockte. Verschiedene Körbe mit getrockneten… Sachen waren aus ihrer Hütte geholt worden, wo sie vermutlich an der Wand gehangen hatten, und Daphne kannte inzwischen die Regel: Je heikler und gefährlicher das Zeug war, desto höher hing es. Diese Sachen hatten gewissermaßen schon auf dem Dach gelegen.
Als Cahle mit der alten Frau sprach, verhielt sie sich respektvoll wie ein Kind vor dem Lehrer. Mrs. Glucker hörte auf, an einer Handvoll von etwas zu schnuppern, das wie verstaubte Bohnenschoten aussah, und blickte zu Daphne hinüber. Weder ein Wink noch ein Lächeln. Sie war bei der Arbeit. Aus ihrem Mundwinkel drangen ein paar Worte, und dann warf sie alle Schoten vor sich in den kleinen dreibeinigen Kochtopf.
Cahle kam zurück. »Sie sagt, sicher sein heißt nicht Sicherheit haben. Es gibt keine absolute Sicherheit. Du kannst es nur tun oder nicht tun.«
Ich war am Ertrinken, und er hat mich gerettet, dachte Daphne. Wieso habe ich bloß so blöd gefragt?
»Macht es so sicher wie möglich«, sagte sie. »Und noch ein wenig mehr.« Von der anderen Seite der Hütte grinste Mrs. Glucker ihr zu. »Darf ich noch eine Frage stellen? Wenn ich… du weißt schon, da bin, was soll ich dann tun? Gibt es irgend etwas, das ich sagen sollte?«
»Tu, was das Beste ist«, lautete die Antwort. »Und sag das Richtige.« Und das war auch schon alles. Mrs. Glucker war offenbar keine Freundin von langen Erklärungen.
Als die alte Frau mit einer Austernschale angehumpelt kam, sagte Cahle: »Du musst die Schale auslecken und dich hinlegen. Wenn der Wassertropfen auf dein Gesicht fällt… wirst du aufwachen.«
Mrs. Glucker legte die Schale behutsam in Daphnes Hände und hielt eine kurze Ansprache.
»Sie sagt, du wirst zurückkommen, weil du sehr gute Zähne hast«, übersetzte Cahle.
Daphne betrachtete die halbe Muschel. Sie war mattweiß und bis auf zwei kleine grünlich gelbe Kleckse leer. Für so viel Arbeit sah das Ergebnis allerdings recht dürftig aus. Sie hob die Auster zum Mund und schielte zu Cahle. Die Frau hatte eine Hand in eine Kalebasse mit Wasser gesteckt und hielt sie nun hoch über die Matte, auf der Daphne lag. Sie sahen einander an.
Ein Wassertropfen glänzte an ihrer Fingerspitze.
»Jetzt«, sagte sie.
Daphne leckte die Schale aus (es schmeckte nach nichts) und ließ sich zurücksinken.
Dann kam ein Augenblick des Schreckens. Noch bevor ihr Kopf die Matte berührte, löste sich der Tropfen von der Fingerspitze und fiel…
Sie wollten rufen: »Nein, das ist nicht genug Z…«
Dann tauchte sie in Dunkelheit, und über ihr donnerten die Wellen.
Mau rannte weiter, doch die Stimme Locahas klang immer noch sehr nahe.
»Wirst du müde, Mau? Sehnen sich deine Beine nach Ruhe?«
»Nein!«, sagte Mau. »Aber… diese Regeln… wie lauten sie?«
»Ach, Mau… ich habe dir nur zugestimmt, dass es Regeln geben muss. Das bedeutet nicht, dass ich sie dir verraten werde.«
»Aber du musst mich fangen, nicht wahr?«
»Mit dieser Vermutung liegst du richtig«, bestätigte Locaha.
»Was bedeutet das?«
»Du hast richtig geraten. Bist du dir auch wirklich ganz sicher, dass du nicht müde wirst?«
»Ja!«
Und tatsächlich floss immer neue Kraft in Maus Beine.
Er hatte sich noch nie so lebendig gefühlt. Die Säulen rauschten nun immer schneller an ihm vorbei. Er überholte die Fische, die vor ihm flüchteten und silbrige Spuren hinterließen. Und am dunklen Horizont war Licht zu sehen. Es könnten Gebäude sein, so weiß und groß wie die Bauwerke, die Pilu in Port Mercia gesehen hatte. Wieso gab es hier unten solche Gebäude?
Etwas Weißes huschte unter seinen Füßen vorbei. Mau warf einen Blick nach unten und wäre vor Schreck fast gestolpert. Er lief über weiße Steinblöcke. Sie waren kaum zu erkennen, weil er so schnell war, und er wollte auch keinesfalls langsamer werden, doch sie schienen genau die richtige Größe für Gottesanker zu haben.
»Das ist wunderbar, einfach wunderbar«, sagte Locaha.
»Mau, hast du dir schon einmal überlegt, ob du möglicherweise in die falsche Richtung rennst?«
Zwei Stimmen hatten diese Worte gesprochen, und plötzlich wurde er von hinten gepackt.
»Hier entlang!«, schrie Daphne ihm ins Ohr und zerrte ihn den Weg zurück, den er gekommen war. »Warum hast du mich nicht gehört?«
»Aber…«, begann Mau, der sich verrenkte, um die weißen Gebäude nicht aus den Augen zu verlieren. Aus ihnen schlängelte sich etwas empor, das wie Rauch aussah… vielleicht war es aber auch nur Seetang, der sich in der Strömung bewegte… oder ein Rochen, der auf sie zuglitt.
»Ich sagte, hier entlang! Willst du für immer sterben? Lauf! Los, lauf!«
Doch wo war die Kraft in seinen Beinen abgeblieben?
Jetzt fühlte es sich an, als würde er durch Wasser laufen, richtiges Wasser. Er sah Daphne an, die ihn halb mitzog.
»Wie bist du hierhergekommen?«
»Anscheinend bin ich tot – aber jetzt versuch wenigstens Schritt zu halten! Und was auch immer du von jetzt an tust, blick auf keinen Fall zurück!«
»Warum nicht?«
»Weil ich es gerade getan habe. Lauf schneller!«
»Bist du wirklich tot?«
»Ja, aber angeblich werde ich schon bald wieder wohlauf sein.
Komm schon, Mrs. Glucker! Der Tropfen ist bereits gefallen!«
Schlagartig umfing sie eine Stille wie Watte – die Löcher darin hatten die Gestalt des Meeresrauschens.
Sie hörten auf zu rennen, aber nicht weil sie es wollten, sondern weil sie mussten. Maus Füße hingen nutzlos über dem Boden. Die Luft wurde grau.
»Wir wandeln in den Fußstapfen von Locaha«, sagte Mau.
»Er hat seine Flügel über uns ausgebreitet.«
Dann ergriffen plötzlich Worte Besitz von Daphnes Zunge.
Erst vor ein paar Wochen hatte sie diese zum ersten Mal gehört, bei der Seebestattung des Schiffsjungen Scatterling, der bei der Meuterei ums Leben gekommen war. Er hatte rotes Haar und Sommersprossen gehabt, und sie mochte ihn nicht besonders, aber sie hatte trotzdem geweint, als seine in Segeltuch gehüllte Leiche im Meer versank. Captain Roberts gehörte den Dienlichen Brüdern an, für die das Evangelium der Heiligen Maria Magdalena das… nun, eben das Evangelium war [5].
Diesen Text hatte sie in ihrer Gemeindekirche noch nie gehört, doch offensichtlich hatte er sich tief in ihr Gedächtnis eingeprägt und kam nun wieder hervor, laut wie ein Kampfschrei:
Und jene, die auf hoher See den Tod fanden, soll das Meer wieder freigeben!
Auch wenn sie gebrochen und in alle Winde zerstreut sind, werden sie wieder ganz sein!
Sie werden auferstehen an jenem Morgen, gekleidet in neue Gewänder!
In herrlichen Himmelsschiffen werden sie zu den Sternen emporsteigen!
»Mrs. Gluc…«