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Tropenkoller
In der Dunkelheit des Wracks der Sweet Judy entflammte ein Streichholz. Dann folgte leises Klappern und Schaben, und endlich wurde es hell. Die Lampe war zwar nicht kaputt, aber sie musste sparsam damit umgehen, weil sie noch kein Öl zum Nachfüllen gefunden hatte. Wahrscheinlich lag es unter all den anderen Sachen. Alles lag unter all den anderen Sachen. Zum Glück hatte sie sich noch in die Matratze eingewickelt, bevor die Sweet Judy versuchte, durch den Wald zu segeln. Sie würde sich an das Krachen und die Schreie erinnern, solange sie lebte.
Sie hatte gehört, wie der Rumpf aufgerissen wurde und die Masten brachen, aber das Schlimmste, was sie schließlich hörte, war die Stille.
Dann war sie hinausgestiegen in einen dampfenden Morgen voller Vogelgezwitscher. Der größte Teil der Judy hatte sich über die Schneise durch den Wald verteilt, und in ihrem Kopf kreiste nur ein einziges Wort. ›Tropenkoller‹.
Das war eine besondere Form von Wahnsinn, der durch Hitze hervorgerufen wurde. Der Erste Offizier Cox hatte ihr davon erzählt und wahrscheinlich gehofft, ihr damit Angst einzujagen, weil er genau diese Art von Mensch war. Seemänner bekamen einen Tropenkoller, wenn sie zu lange in einer Flaute lagen.
Dann schauten sie aufs Meer, sahen aber nicht das Wasser, sondern kühle, grüne Felder. Sie sprangen über die Reling und ertranken. Erster Offizier Cox sagte, er habe erwachsene Männer gesehen, die genau das getan hatten. Sie wollten auf eine Wiese voller Gänseblümchen springen und waren dabei abgesoffen, wie er sich ausdrückte. Vielleicht hatte er ihnen sogar einen Schubs gegeben.
Und nun stieg sie aus einem Schiff und stand wahrhaftig mitten in einem grünen Dschungel. Es war wie… das Gegenteil von Wahnsinn. In gewisser Weise. Sie fühlte sich geistig gesund, dessen war sie sich ziemlich sicher, aber die Welt um sie herum war wahnsinnig geworden. Überall lagen tote Männer herum, auf der ganzen Schneise durch den Wald. Sie hatte früher schon Tote gesehen – als sich ihr Onkel bei der Jagd das Genick gebrochen hatte, und dann war da noch dieses schreckliche Unglück mit der Erntemaschine gewesen. Keiner der toten Seemänner war Cookie, worüber sie zu ihrer Schande sehr erleichtert war.
Sie hatte ein kurzes Gebet für die Männer gesprochen und war dann schnell zum Schiff zurückgelaufen, um sich zu übergeben.
Jetzt kramte sie in dem Durcheinander, das einmal eine ordentliche Kabine gewesen war, nach ihrem Schreibkasten und fand ihn sogar. Sie stellte ihn auf die Knie, öffnete ihn und nahm ein paar der Einladungskarten mit Goldrand heraus, die sie zum Geburtstag bekommen hatte, und betrachtete sie eine Weile reglos. Nach ihrem Benimmbuch (auch ein Geburtstagsgeschenk) sollte eine Anstandsdame zugegen sein, wenn sie den jungen Mann zu einem Besuch einlud, und als einzige Person, die für diese Aufgabe geeignet wäre, fiel ihr nur der arme Captain Roberts ein. Immerhin war er ein richtiger Kapitän, aber bedauerlicherweise war er jetzt tot. Andererseits wurde in dem Buch auch nicht ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Anstandsdame am Leben sein musste. Nur zugegen musste sie sein.
Und sie besaß ja noch die scharfe Machete, die sie hinter ihrer Koje versteckt hatte. Es war leider keine angenehme Reise mehr gewesen, seit der Erste Offizier Cox an Bord gekommen war.
Sie warf einen Blick auf das von Decken verhüllte Ding in der Ecke, von dem ein gelegentliches Gemurmel zu hören war. Es musste unbedingt zugedeckt bleiben, sonst würde es wieder anfangen zu fluchen. Manche der Worte, die es aussprach, waren Worte, deren Bedeutung eine anständige junge Dame im Grunde nicht kennen sollte. Doch die Worte, deren Bedeutung sie wirklich nicht kannte, machten ihr noch viel mehr Sorgen.
Sie wusste, dass sie zu dem jungen Mann nicht besonders nett gewesen war. Eigentlich schoss man nicht auf andere Leute, und schon gar nicht, wenn man ihnen noch nicht einmal vorgestellt worden war. Glücklicherweise war das Pulver nass geworden. Sie war einfach nur in Panik geraten, und das, obwohl er sich doch so große Mühe gegeben hatte, all die toten Menschen im Meer zu bestatten. Wenigstens war ihr Vater noch am Leben und würde schon bald nach ihr suchen – auch wenn es mehr als achthundert Muttertagsinseln gab, wo er nach ihr suchen konnte.
Sie tunkte ihre Feder in die Tinte und strich »Gouverneurspalast, Port Mercia« ganz oben auf der Karte durch und schrieb sorgfältig »Das Wrack der Sweet Judy« darunter.
Es wären noch viel mehr Änderungen nötig gewesen.
Bei der Gestaltung dieser Karten war schlichtweg die Möglichkeit außer Acht gelassen worden, dass man vielleicht jemanden einladen wollte, dessen Namen man gar nicht kannte, der an einem Strand lebte, der kaum Kleidung trug und mit großer Wahrscheinlichkeit auch nicht lesen konnte. Aber sie bemühte sich nach Kräften, beide Seiten der Karte auszufüllen (Hinter den Punkt »Kleidung« schrieb sie: »Ja, bitte.«), und unterschrieb sie dann mit »Ermintrude Fanshaw (Ehrenhaftes Fräulein). Hinterher wünschte sie sich, sie hätte darauf verzichtet, zumindest auf die »Ermintrude«.
Anschließend zog sie den schweren Ölzeugmantel an, der dem bedauernswerten Captain Roberts gehört hatte, steckte die letzten Mangos in ihre Tasche, nahm ein Entermesser in die eine und die Öllampe in die andere Hand und trat hinaus in die Nacht.
Als Mau erwachte, schrien die Großväter lautstark in seinem Kopf, und das Feuer war ein großer, glühender Haufen.
ERSETZE DIE GOTTESANKER! WER BEWACHT DIE NATION? WO IST UNSER BIER?
Ich weiß es nicht, dachte Mau und blickte in den Himmel. Die Frauen haben das Bier gemacht. Ich weiß nicht, wie. Er konnte doch deswegen nicht zum Frauenhain gehen, oder?
Er hatte sich dort bereits umgesehen, obwohl Männern der Zutritt verwehrt war. Dafür durften Frauen wiederum nicht das Tal der Großväter betreten. Wenn es erst einmal so weit kam, wäre es das Ende von allem. So wichtig waren diese Dinge.
Mau blinzelte. Konnte alles noch mehr enden, als es schon geendet hatte? Es gab keine Menschen mehr, wie konnte es also noch Regeln geben? Regeln wurden schließlich nicht einfach angespült!
Er stand auf und bemerkte sofort den goldenen Glanz.
Ein weißes Rechteck war in ein Holzstück geklemmt worden, und im Sand sah er zehenlose Fußabdrücke. Neben dem Holz lag wieder eine Mango.
Sie war hierher geschlichen, während er geschlafen hatte! Auf dem weißen Rechteck waren bedeutungslose Zeichen abgebildet, aber auf der Rückseite fand er ein paar Zeichnungen. Mau kannte sich mit Botschaften aus, und diese war nicht schwer zu verstehen:
»Wenn die Sonne genau über dem letzten noch lebenden Baum der Kleinen Nation steht, musst du einen Speer auf das große gestrandete Kanu werfen«, sagte er laut. Das ergab zwar keinen Sinn, aber das Geistermädchen selbst ja auch nicht. Andererseits hatte sie ihm den Funkenmacher gegeben – und dabei offensichtlich große Angst gehabt. Auch er hatte Angst gehabt.
Wie ging man mit Mädchen um? Als Junge sollte man sich von ihnen fernhalten, aber er hatte davon gehört, dass man als Mann andere Anweisungen bekam.
Und was die Großväter anging und die Gottesanker, die hatte er noch nicht einmal gesehen. Dabei waren es ziemlich große Steine, aber das hatte die Welle gar nicht geschert. Wussten die Götter davon? Waren auch sie fortgespült worden? Darüber nachzudenken war ihm jetzt zu kompliziert. Bier war einfacher, wenn auch nur ein bisschen.
Die Frauen brauten das Bier, und er wusste, dass eine große Opferschale vor der Höhle der Großväter stand, in die jeden Tag neues Bier gegossen wurde. Das wusste er und hatte es einfach als Tatsache im Kopf, aber nun drängten sich Fragen auf wie zum Beispiel: Wozu brauchten die Toten Bier? Würde es nicht einfach… durch sie hindurchsickern? Wenn sie es gar nicht tranken, wer dann? Und würde er in Schwierigkeiten geraten, wenn er diese Fragen auch nur dachte?
Schwierigkeiten durch wen?
Er erinnerte sich daran, wie er als ganz kleiner Junge im Frauenhain herumgelungert hatte. Ab dem Alter von sieben oder acht Jahren war er dort allerdings nicht mehr willkommen gewesen. Die Frauen verscheuchten ihn oder ließen ihre Arbeiten ruhen, wenn er näher kam, und starrten ihn so lange an, bis er sich von selbst zurückzog. Vor allem die sehr alten Frauen hatten so eine Art, jemanden anzustarren, dass man sich wünschte, ganz weit weg zu sein. Einer der älteren Jungen hatte ihm erzählt, dass einem der Wingo abfallen konnte, wenn sie bestimmte Worte murmelten. Danach hielt Mau sich vom Frauenhain fern, für den dasselbe galt wie für den Mond: Er wusste, dass er da war, aber er dachte gar nicht erst darüber nach, wie er hinkommen könnte.
Jetzt gab es keine alten Frauen mehr. Er wünschte, sie wären noch da. Niemand konnte ihn mehr davon abhalten, irgendetwas zu tun. Er wünschte, jemand könnte es.
Der Pfad zum Frauenhain bog vom Weg in den Wald ab und führte dann hangabwärts nach Südwesten und in eine enge Schlucht. Ganz am Ende standen zwei Steine. Sie waren größer als ein ausgewachsener Mann und mit roter Farbe bespritzt.
Das war der einzige Zugang gewesen, als es noch Regeln gegeben hatte. Jetzt riss Mau den dornigen Strauch heraus, der den Eingang versperrte, und schob sich hindurch.
Und dann lag der Hain vor ihm, ein Tal wie eine runde Schüssel voller Sonnenlicht. Baumreihen hielten den Wind ab, und die Zwischenräume waren so dicht mit Dornenbüschen zugewuchert, dass höchstens eine Schlange hindurchkam. Heute sah das Tal aus, als würde es schlafen. Mau konnte das Meer hören, aber es wirkte sehr weit entfernt. Er hörte das Sprudeln eines kleinen Bachs, der einem Felsen am Ende des Tals entsprang, dort eine Felsmulde ausfüllte, die als natürliche Badestelle diente, und dann in den Gärten versickerte.
Die großen Pflanzen baute die Nation auf den Feldern an. Dort gab es Aharo, Zuckerrohr, Tabor, Bumerangerbsen und Schwarzmais. Dort ernteten die Männer das, wovon die Menschen lebten.
In den Gärten des Hains züchteten die Frauen all jene Pflanzen, die es einem ermöglichten, genussvoll, länger und überhaupt zu leben: Gewürze, Früchte und Kauwurzeln. Sie verstanden sich auch darauf, Pflanzen größer oder schmackhafter werden zu lassen. Sie gruben Schösslinge aus oder tauschten sie ein und brachten sie hierher. Und die Frauen kannten die Geheimnisse von Samen, Schoten und anderen Dingen. Hier ernteten sie rosafarbene Bananen und die seltenen Obstbananen und Yams, einschließlich der Springenden Yamswurzel. Außerdem zogen sie hier Heilpflanzen heran – und kleine Kinder.
Rund um die Gärten standen vereinzelte Hütten. Mau näherte sich vorsichtig und wurde immer unruhiger. Jemand sollte ihn anschreien, irgendeine alte Frau sollte auf ihn zeigen und etwas murmeln, woraufhin er sehr schnell davonlaufen würde – die Hand zwischen die Beine gepresst, nur für alle Fälle. Alles wäre besser als diese sonnige, leere Stille.
Also gibt es doch noch Regeln, dachte er. Ich habe sie mitgebracht. Sie sind in meinem Ko…
In einigen Hütten standen Körbe, und Wurzelbündel hingen von den Decken, außer Reichweite kleiner Finger. Es waren Gaukelknollen. Man lernte schon sehr früh, dass man daraus entweder das beste Bier überhaupt machen konnte oder dass sie einen tot umfallen ließen. Die geheime Zutat, die entschied, welcher Fall eintrat, war ein Lied, das jeder kannte.
In der Hütte neben der Quelle fand er, wonach er suchte.
Unter einem Haufen Palmblätter stand eine Schale voller zerkleinerter Wurzelknollen und zischte und blubberte leise vor sich hin. Sofort drang Mau der stechende, prickelnde Geruch in die Nase.
Wie viel tranken Tote? Er füllte eine ganze Kalebasse mit dem Zeug. Das sollte eigentlich reichen. Dabei war er äußerst vorsichtig, weil das Bier in diesem Stadium sehr gefährlich war.
Dann lief er schnell davon, bevor ein Geist ihm etwas antun konnte.
Er hatte kaum etwas verschüttet, als er das Tal der Großväter erreichte. Dort kippte er den Inhalt der Kalebasse in die steinerne Schale vor der versiegelten Höhle. Aus den knorrigen, alten Bäumen wurde er aufmerksam von zwei Großvatervögeln beobachtet.
Er spuckte in die Schale, und das Bier schäumte eine Weile vor sich hin. Große gelbe Blasen zerplatzten an der Oberfläche.
Dann sang er. Es war ein einfaches, kleines Lied, das man sich gut merken konnte. Es handelte von den vier Brüdern, den Söhnen des Luftgottes, die eines Tages beschlossen, ein Rennen rund um den riesigen Bauch ihres Vaters zu veranstalten, um zu entscheiden, wer von ihnen um die Frau werben durfte, die im Mond lebte, und davon, wie sie sich gegenseitig austricksten, um Erster zu werden. Schon Babys lernten dieses Lied. Jeder kannte es. Und aus irgendeinem Grund verwandelte sich Gift in Bier, wenn man dieses Lied sang. Und so war es wirklich.
Das Bier schäumte in der Schale, und Mau behielt den großen, runden Stein genau im Auge, nur für alle Fälle. Aber die Großväter konnten das Bier wahrscheinlich von der Geisterwelt aus trinken. Er sang sich durch das Lied und achtete genau darauf, keinen Vers auszulassen, vor allem den, der so witzig war, wenn man dazu die richtigen Gesten machte. Am Ende des Liedes war das Bier klar geworden, und goldene Bläschen stiegen darin auf.
Mau nahm einen kleinen Schluck, um sich zu vergewissern.
Sein Herz setzte nicht aus, also war das Bier offenbar in Ordnung.
Er trat ein paar Schritte zurück und sagte zum offenen Himmel: »Hier ist euer Bier, Großväter!«
Alles blieb ruhig. So sollte man im Grunde nicht denken, aber ein »Danke schön!« wäre ganz nett gewesen.
Dann atmete die Welt ein, und der Atem wurde zu einem Chor von Stimmen: DU HAST DAS LIED NICHT GESUNGEN!
»Doch, habe ich! Das Bier ist gut!«
WIR MEINEN DAS LIED, DAS UNS ZUM BIER RUFT!
Noch zwei Großvatervögel landeten krachend in den Bäumen.
»Ich wusste nicht, dass es so ein Lied gibt!« DU BIST EIN NACHLÄSSIGER JUNGE!
Mau nahm das Stichwort auf.
»Richtig, ich bin nur ein Junge. Hier ist niemand, von dem ich lernen kann. Könnt ihr…?«
HAST DU DIE GOTTESANKER GERICHTET? NEIN! Damit verstummten die Stimmen, und nur noch das Seufzen des Windes war zu hören.
Aber das Bier schien doch gut zu sein! Wozu war das andere Lied dann noch nötig? Maus Mutter hatte gutes Bier gemacht, und die Leute waren immer von selbst zu ihr gekommen.
Unter lautem Geflatter landete ein Großvatervogel auf dem Rand des Biersteins und bedachte Mau mit dem üblichen Blick, der zu sagen schien: Wenn du bald stirbst, beeil dich damit. Wenn nicht, verschwinde.
Mau zuckte mit den Schultern und stapfte los. Doch dann versteckte er sich hinter einem Baum, und er war gut im Sich-Verstecken. Vielleicht rollte der große Stein ja doch noch zur Seite.
Es dauerte nicht lange, bis sich mehrere Großvatervögel an der Schale versammelt hatten. Sie zankten eine Weile, doch dann machten sie sich – immer wieder unterbrochen von der einen oder anderen Streiterei – daran, sich gehörig zu betrinken. Sie schaukelten vor und zurück, wie es Vögel nun einmal taten, wenn sie tranken, und dann schaukelten sie vor und zurück und fielen immer wieder um, wie es Vögel nun einmal taten, die frisches Bier getrunken hatten. Einer flog auf und krachte rückwärts in ein Gebüsch.
Mau machte sich nachdenklich auf den Rückweg zum Strand und hielt unterwegs an, um sich im Wald einen Speer zu schneiden. Am Strand schärfte er die Spitze und härtete sie im Feuer, wobei er gelegentlich zur Sonne hochschaute.
All das tat er sehr langsam, weil sich in seinem Kopf immer mehr Fragen auftürmten. Sie kamen so schnell aus diesem schwarzen Loch in seinem Innern, dass es ihm schwerfiel, seine Gedanken zu ordnen. Bald würde er zum Geistermädchen gehen müssen. Und dann wurde es… richtig schwierig.
Er sah sich noch einmal das weiße Rechteck an. Das glänzende Metall am Rand war weich und nutzlos und ließ sich leicht abkratzen. Das Bild stellte möglicherweise einen Zauber dar, ähnlich wie seine blaue Perle. Welchen Sinn sollte es haben, einen Speer auf das große Kanu zu werfen? Schließlich konnte man es damit nicht töten. Aber das Geistermädchen war neben Mau der einzige Mensch auf der Insel, und immerhin hatte es ihm den Funkenmacher gegeben. Im Moment brauchte Mau ihn nicht, aber er war immer noch ein wunderbares Werkzeug.
Als sich die Sonne der Kleinen Nation näherte, erhob er sich und ging am Strand entlang zum unteren Wald.
Mau konnte riechen, wie Dinge wuchsen. Hier unten war es nie besonders hell gewesen, aber das große Kanu hatte eine breite Schneise hinterlassen, und nun drang das Sonnenlicht bis zu Stellen vor, die es seit Jahren nicht gesehen hatten. Das Wettrennen um die begehrten Plätze an der Sonne hatte begonnen. Neue grüne Schösslinge kämpften um den freien Zugang zum Himmel, Farnwedel entrollten sich, Samen brachen auf. Die grünen Gezeiten ließen den Wald zurückkehren, und schon in sechs Monaten wäre nicht mehr zu erkennen, was hier geschehen war.
Mau ging langsamer, als das Wrack des großen Kanus in Sicht kam, aber er konnte keine Bewegung erkennen. Er musste jetzt sehr vorsichtig sein. Man konnte sehr schnell etwas falsch verstehen.
Sehr schnell konnte man etwas falsch verstehen.
Sie hasste den Namen »Ermintrude«. Eigentlich war es nur die »trude«. »Ermin« hingegen fand sie gar nicht so schlimm.
Auch »Trudy« klang noch recht lustig, aber ihre Großmutter behauptete, dass es zu schnell klang, was auch immer das bedeuten sollte, und sie hatte ihr verboten, diese Form zu benutzen. Selbst »Gertrude« wäre in Ordnung gewesen. Darin steckte zwar immer noch die »trude«, aber eine der königlichen Prinzessinnen war auf den Namen Gertrude getauft worden, und von manchen Zeitungen wurde sie »Prinzessin Gertie«
genannt, und dieser Name klang nach einem Mädchen, das viel Spaß im Leben hatte.
Ermintrude jedoch – fand sie jedenfalls – war ein Name, mit dem man zwar einen jungen Mann zum Tee einladen konnte, dann aber garantiert alles verpatzen würde. Der Kohlenofen rauchte immer noch. Das Mehl für die Brötchen hatte komisch gerochen, bestimmt wegen des toten Hummers im Fass, und sie war sich außerdem ziemlich sicher, dass es auch nicht gut war, wenn sich ein Teil des Mehls bewegte. Sie hatte es geschafft, die letzte Dose mit Dr. Poundburys Patentierter Ewig Haltbarer Milch zu öffnen, von der auf dem Etikett behauptet wurde, dass sie auch nach einem Jahr noch genauso gut schmeckte wie am Tag der Abfüllung. Leider stimmte das wahrscheinlich. Die Milch hatte nach ertrunkener Maus gerochen.
Wäre sie doch nur angemessen vorbereitet gewesen! Sie wünschte sich, jemand hätte daran gedacht, ihr wenigstens einen Nachmittag lang ein paar Dinge beizubringen, die sich als praktisch erweisen würden, wenn sie auf einer einsamen Insel strandete! Schließlich konnte dieses Schicksal jeden treffen!
Selbst ein paar Tipps zum Brötchenbacken wären sehr hilfreich gewesen! Aber nein, ihre Großmutter hatte gesagt, dass eine Dame niemals etwas Schwereres als einen Sonnenschirm tragen sollte. Und schon gar nicht sollte sie den Fuß in eine Küche setzen, es sei denn, um Wohltätigkeitssuppe für die Bedürftigen zu kochen – aber ihre Großmutter glaubte nicht daran, dass es von denen allzu viele gab.
»Vergiss nie«, hatte sie immer wieder und allzu oft betont, »dass nur einhundertachtunddreißig Personen sterben müssen, damit dein Vater König wird! Und das bedeutet, dass du eines Tages vielleicht eine Königin bist!«
Großmutter sagte das immer mit einem Ausdruck in den Augen, der vermuten ließ, dass sie bereits 138 Morde geplant hatte, und man musste die alte Dame gar nicht lange kennen, um ihr zuzutrauen, dass sie durchaus imstande war, sie alle auszuführen. Selbstverständlich wären es keine unkultivierten Morde. Verzweifelte Aktionen mit Dolchen und Pistolen passten einfach nicht zu ihr. Sie würde es elegant und taktvoll erledigen.
Hier würde jemandem ein Ziegelstein aus der Wand seines herrschaftlichen Anwesens fallen, dort würde jemand aufgrund einer gelockerten Geländerstange von seiner Treppe stürzen, und anderswo würde ein verdächtiger Pudding bei einem Palastbankett (Arsen war schließlich sehr leicht mit Zucker zu verwechseln) gleich mehrere Personen gleichzeitig aus dem Weg räumen… Aber wahrscheinlich würde sie nie tatsächlich so weit gehen. Dennoch nährte sie ihre Hoffnungen und bereitete ihre Enkeltochter auf das Leben einer Königin vor, indem sie so weit wie möglich darauf achtete, dass Ermintrude nichts beigebracht wurde, was auf irgendeine Weise von praktischem Nutzen sein konnte.
Und nun saß sie hier mit ihrem unpassenden Namen mitten im Dschungel und bemühte sich, in einem Schiffswrack den Nachmittagstee zuzubereiten! Warum hatte niemand daran gedacht, dass sie irgendwann in eine solche Notlage geraten könnte?
Außerdem hätte ihre Großmutter diesen jungen Mann vorbehaltlos als Wilden klassifiziert. Dabei war er ihr überhaupt nicht wie ein Wilder vorgekommen. Sie hatte ihn beobachtet, wie er all die Toten im Meer bestattete. Er hatte sie ganz sachte aufgehoben, selbst die Hunde. Er war voller Mitgefühl gewesen. Er hatte Tränen vergossen. Aber sie hatte er gar nicht wahrgenommen, nicht einmal, als sie genau vor ihm stand. Nur ein einziges Mal hatten seine geröteten Augen versucht, sich auf sie zu konzentrieren, doch dann hatte er einen Bogen um sie gemacht und seine Arbeit fortgesetzt. Er war so vorsichtig und sanft gewesen, dass Ermintrude sich beim besten Willen nicht vorstellen konnte, dass er ein Wilder sein sollte.
Sie erinnerte sich, wie der Erste Offizier Cox mit seiner Pistole auf Affen geschossen hatte, als sie im Meer von Ceramis an einer Flussmündung vor Anker lagen. Er hatte jedes Mal gelacht, wenn wieder ein kleiner brauner Körper in den Fluss fiel, vor allem, wenn er noch lebte und von den Krokodilen gepackt wurde.
Sie hatte ihn angeschrien, damit aufzuhören, aber er lachte weiter. Dann war Captain Roberts vom Ruderhaus heruntergestiegen, und es kam zu einem schrecklichen Streit. Danach herrschte sehr üble Stimmung an Bord der Sweet Judy. Kurz bevor sie den ersten Teil ihrer Weltreise angetreten hatte, war in den Zeitungen viel von einem Mr. Darwin und seiner neuen Theorie die Rede gewesen, dass irgendeine Affenart der entfernte Vorfahr des Menschen sein sollte. Ermintrude konnte nicht einschätzen, ob das stimmte, aber immer wenn sie in die Augen des Ersten Offiziers Cox geblickt hatte, konnte sie darin eine Wildheit sehen, die viel schlimmer als bei jedem Affen war.
In diesem Moment ließ ein Speer das bereits angeschlagene Bullauge zersplittern, zischte durch die Kabine und sauste durch das glaslose Bullauge auf der anderen Seite wieder hinaus. Ermintrude saß ganz still da, anfangs infolge des Schrecks und dann, weil sie sich an den Ratschlag ihres Vaters erinnerte. In einem seiner Briefe hatte er geschrieben, dass sie seine First Lady sein würde, wenn sie zu ihm in seinen Gouverneurspalast zog, und dann würde sie die unterschiedlichsten Leute kennenlernen, deren Verhalten sie zunächst vielleicht als seltsam empfinden und es möglicherweise sogar missverstehen würde. Sie sollte also Großmut walten lassen und zu Konzessionen bereit sein.
Nun gut. Jedenfalls stimmte der Zeitpunkt für den Besuch des Jungen. Und was hatte sie denn von ihm erwartet, wenn er hier eintraf? Selbst auf einem Schiff, das kein Wrack war, ließ sich nur schwer eine Türklingel finden. Vielleicht bedeutete der Speerwurf so viel wie: Sieh, ich habe meinen Speer fortgeworfen! Ich bin nicht mehr bewaffnet! Ja, das klang plausibel.
Schließlich war es mit dem Händeschütteln ganz ähnlich – man zeigt sich, dass man kein Schwert hielt. Sie war froh, dass sie dieses kleine Rätsel gelöst hatte.
Zum ersten Mal, seit der Speer durch die Kabine geschossen war, atmete sie aus.
Draußen fragte sich Mau, ob irgendetwas falsch gelaufen war, als er hölzernen Lärm hörte und dann der Kopf des Geistermädchens hinter der Bordwand des großen Kanus auftauchte.
»Sehr freundlich von dir, dass du pünktlich bist«, sagte sie und versuchte zu lächeln. »Und danke, dass du das Fenster zerbrochen hast. Drinnen wurde es schon etwas stickig!«
Er verstand kein Wort, aber ihr Gesicht zeigte fast ein Lächeln, und das war zweifellos gut. Und sie wollte, dass er mit ins Wrack kam. Das tat er, aber nur sehr vorsichtig. Die Sweet Judy war leicht zur Seite gekippt, als die Welle sie auf dem Kiel abgesetzt hatte, so dass jetzt alles schief stand.
Da drinnen herrschte das reinste Chaos, ein Wirrwarr von allem, was mit dem Kanu nicht mehr fest verbunden war. Überall stank es nach Schlamm und abgestandenem Wasser. Aber das Mädchen führte ihn in einen anderen Raum, der aussah, als hätte jemand wenigstens versucht, etwas Ordnung zu schaffen – auch wenn es letztlich nicht gelungen war.
»Ich fürchte, alle Stühle wurden zertrümmert«, sagte das Mädchen. »Aber ich bin mir sicher, dass du die Seekiste des bedauernswerten Captain Roberts als adäquaten Ersatz akzeptieren kannst.«
Mau, der zum Essen bisher nur auf dem Erdboden oder dem Boden einer Hütte gesessen hatte, platzierte seinen Hintern auf einer Kiste aus Holz.
»Ich finde, es wäre nett, wenn wir uns angemessen miteinander bekannt machen würden, da niemand sonst anwesend ist, der uns einander vorstellen könnte«, sagte das Geistermädchen.
»Allerdings dürfte die Tatsache, dass wir uns gegenseitig nicht verstehen, die Angelegenheit erschweren…«
Während sie weiterplapperte, starrte Mau auf das Feuer, das in einer eigenen kleinen Höhle brannte. Rauch stieg aus einem runden schwarzen Rohr auf. Daneben stand ein flaches rundes Ding, und was darauf lag, sah wie ungewöhnlich blasses Brot aus. Dies ist ein Frauenhain, dachte er, aber ich kenne die hier geltenden Regeln nicht. Ich muss vorsichtig sein. Sie könnte mir etwas antun.
»… und die Butter ist ranzig geworden, aber ich habe das Mehl, was schon richtig grün geworden war, weggeworfen.
Möchtest du etwas Tee? Ich könnte mir vorstellen, dass du ihn lieber ohne Milch trinkst.«
Mau beobachtete, wie sie eine braune Flüssigkeit in eine blau und weiß gefärbte Schüssel goss. Er beobachtete alles sehr genau, während das Mädchen immer schneller weiterredete. Woran sollte er erkennen, was richtig und was falsch war? Welche Regeln musste man befolgen, wenn man sich ganz allein in Gesellschaft eines Geistermädchens befand?
Auf der Jungeninsel war er nicht allein gewesen. Nun gut, außer ihm hatte sich dort niemand aufgehalten, aber er hatte die ganze Zeit die Nation um sich herum gespürt. Er hatte alles richtig gemacht. Aber jetzt? Was war das Richtige? Die Großväter schrien und beklagten sich, kommandierten ihn herum und hörten ihm nicht zu.
Er konnte auch keinen silbernen Faden finden oder ein Bild von der Zukunft. Er sah überhaupt keine Bilder mehr. Es gab nur ihn und das Mädchen und keine Regeln, mit denen er die vor ihm liegende Dunkelheit zurückdrängen könnte.
Jetzt nahm sie die brotartigen Dinger vom Feuer und legte sie auf ein anderes rundes Metallding, das er auf seinen Knien zu balancieren versuchte.
»Das meiste Geschirr wurde bei dem Schiffbruch zertrümmert«, sagte das Mädchen traurig. »Es grenzt schon an ein Wunder, dass ich noch zwei heile Tassen gefunden habe. Möchtest du ein Brötchen?« Sie zeigte darauf.
Mau nahm sich eins. Es war heiß, was sich gut anfühlte, aber leider schmeckte es wie leicht verfaultes Holz.
Sie beobachtete besorgt, wie er den Bissen im Mund hin und her schob und anscheinend überlegte, was er damit anstellen sollte.
»Ich habe es falsch gemacht, nicht wahr?«, sagte sie. »Ich dachte mir schon, dass das Mehl zu feucht ist. Der arme Captain Roberts hat einen Hummer im Mehlfass gehalten, damit er die Käfer frisst, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass das nicht richtig war. Es tut mir leid. Ich würde es dir auch nicht übel nehmen, wenn du es ausspuckst.«
Dann brach sie in Tränen aus.
Mau hatte kein Wort verstanden, aber für manche Dinge brauchte man auch keine Sprache. Sie weint, weil das Brot übel schmeckt. Sie sollte nicht weinen. Er schluckte und nahm einen weiteren Bissen. Sie starrte ihn an, schniefte und war nicht sicher, ob sie mit dem Weinen womöglich zu früh aufgehört hatte.
»Sehr gutes Essen«, sagte Mau. Er gab sich alle Mühe, das ganze Ding runterzuschlucken, und spürte regelrecht, wie es am Boden seines Magens aufschlug. Dann aß er auch noch das zweite.
Das Mädchen tupfte sich mit einem Tuch die Augen trocken.
»Sehr gut«, betonte Mau noch einmal und versuchte, den Geschmack nach verwesendem Hummer zu ignorieren.
»Es tut mir leid, ich kann dich wirklich nicht verstehen«, sagte sie. »Ach du meine Güte, außerdem habe ich ganz vergessen, die Serviettenringe auf den Tisch zu legen. Was musst du bloß von mir denken…?«
»Ich kenne die Worte nicht, die du sprichst«, sagte Mau. Es folgte eine lange, unbehagliche Pause, und Mau spürte die zwei Klumpen aus verdorbenem Brot in seinem Magen, die bereits einen Weg nach draußen suchten. Er trank aus der Schale mit der säuerlichen, heißen Flüssigkeit, um sie zu ertränken, als er ein leises Gemurmel bemerkte, das aus einer Ecke der Kabine kam. Dort war irgendetwas von einer großen Decke verhüllt – aber was? Es klang, als würde jemand unter dieser Decke verärgert vor sich hin brummen.
»Es ist gut, jemanden zu haben, mit dem man sich unterhalten kann«, sagte das Mädchen laut. »Wenn ich dich herumlaufen sehe, dann ist es nicht mehr so einsam.«
Die Mehlklumpen in Maus Magen mochten das braune Getränk nicht. Er blieb ganz ruhig und kämpfte darum, sie bei sich zu behalten.
Das Mädchen sah ihn nervös an und sagte: »Mein Name ist… ähm… Daphne.« Sie hüstelte geziert und fügte hinzu: »Ja, Daphne.« Sie zeigte auf sich und streckte ihm ihre Hand entgegen.
»Daphne«, wiederholte sie etwas lauter. Dieser Name hatte ihr schon immer gefallen.
Mau blickte gehorsam auf ihre Hand, aber darin war nichts zu sehen. Also war sie… aus Daphne? Das Wichtigste, was es auf den Inseln über jemanden zu wissen gab, war der Name seiner Sippe. Von diesem Ort hatte er noch nie gehört, aber es hieß auch, dass niemand alle Inseln kennen konnte. Einige der ärmeren wurden bei Flut völlig überschwemmt, und die Hütten waren so gebaut, dass sie schwimmen konnten. Von ihnen war jetzt bestimmt nichts mehr übrig… Wie viele mochte es überhaupt noch geben? Waren die Menschen überall auf der Welt ertrunken?
Das Geistermädchen stand auf und ging über das schräge Deck zur Tür. Daraus schöpfte Mau neue Hoffnung. Mit etwas Glück würde er nicht noch mehr von diesem Holzzeug essen müssen.
»Könntest du mir bitte mit dem bedauernswerten Captain Roberts helfen?«, fragte sie.
Offenbar wollte sie, dass Mau hinausging, also erhob er sich hastig. Das schlechte Brot wollte nach draußen, und der Geruch des Feuers bereitete ihm Kopfschmerzen.
Taumelnd trat er in die frische Nachmittagsluft hinaus.
Das Mädchen stand neben diesem grauen, eingerollten Bündel, das Mau schon gestern aufgefallen war. Sie sah ihn mit hilfloser Miene an.
»Der arme Captain Roberts«, sagte sie und stieß leicht mit dem Fuß dagegen.
Mau zog das schwere Tuch zurück, und die Leiche eines alten Hosenmannes mit Bart kam zum Vorschein. Er lag auf dem Rücken, und seine Augen starrten ins Nichts. Als Mau das Tuch weiter herunterzog, sah er, dass der Mann einen großen Ring aus Holz in Händen hielt, an dessen Rand lauter Holzdornen steckten.
»Er hat sich an das Schiffsruder gefesselt, damit er nicht fortgespült wird«, sagte das Mädchen hinter ihm. »Die Stricke habe ich durchgeschnitten, aber seine Hände wollten das Ruder nicht freigeben. Also habe ich mir einen Hammer gesucht und das Steuerrad losgeschlagen. Und dann habe ich mir wirklich die allergrößte Mühe gegeben, ihn zu begraben, aber der Boden ist einfach zu hart, und allein kann ich ihn nicht woanders hintragen. Ich bin mir sicher, dass er nichts gegen eine Seebestattung einzuwenden hätte«, beendete sie ihren Wortschwall, den sie in einem Atemzug ausgestoßen hatte.
Mau seufzte. Ihr muss doch klar sein, dass ich sie nicht verstehen kann, aber sie redet trotzdem immer weiter, dachte er. Sie möchte, dass dieser Tote bestattet wird, so viel steht fest. Wie lange es wohl gedauert hat, dieses armselige kleine Loch in den Boden zu kratzen? Aber sie ist ganz allein und hat ihre Heimat verloren, genau wie ich.
»Ich kann ihn dem dunklen Wasser übergeben«, sagte Mau.
Mit der Hand machte er Wellenbewegungen und ahmte dabei das Rauschen der Brandung nach.
Einen Moment lang wirkte sie erschrocken, doch dann lachte sie und klatschte in die Hände. »Ja! Ja! Richtig. Ins Meer! Wuusch, wuusch! Das Meer!«
Den Mann zusammen mit dem Holzring konnte er nicht tragen, aber das Tuch war sehr fest, und Mau entschied, dass er die Leiche auch über die zermalmten Pflanzenreste der Schneise schleifen konnte. Das Mädchen half ihm, so gut sie konnte, bei der Überwindung schwieriger Stellen, und als sie das Ufer erreicht hatten, glitt das graue Bündel recht mühelos über den feuchten Sand. Doch es war noch ein langer, anstrengender Weg bis zum westlichen Ende des Strandes. Schließlich jedoch hatte Mau es geschafft, ihn ins hüfthohe Wasser am Rand des Riffs zu befördern.
Er blickte noch einmal in diese toten Augen, die geradeaus starrten, und fragte sich, was sie in der dunklen Strömung wohl sehen würden. Würden sie überhaupt etwas sehen? Konnte denn irgendjemand etwas sehen?
Er fuhr zusammen. Wie konnte er so etwas überhaupt denken?
Einst waren wir Delfine, und Imo machte uns zu Menschen!
Das war die Wahrheit! Wie kam er nur dazu, das in Frage zu stellen? Und wenn es doch nicht die Wahrheit war, dann gab es da draußen nur dunkles Wasser und sonst rein gar nichts.
Er verdrängte diese Gedanken, bevor sie ihn mitreißen konnten. Das Daphne-Mädchen beobachtete ihn, und jetzt sollte er sich keine Unsicherheit und kein Zögern anmerken lassen. Er flocht Papierreben, um Steine und Korallenstücke an dem bedauernswerten Captain Roberts und seinem Steuerrad zu befestigen. Papierreben wurden umso fester, wenn sie nass wurden, und es dauerte Jahre, bis sie verrotteten. Wohin auch immer der Captain ging, er würde dort bleiben. Es sei denn, er verwandelte sich in einen Delfin. Dann machte Mau eilig den Schnitt, um des Captains Seele freizulassen.
Auf den Felsen hinter ihm sang das Mädchen ein Lied.
Diesmal klang es allerdings gar nicht nach Na-na-na. Irgendwie konnte Mau ihre Stimme jetzt besser wahrnehmen, nachdem er sie sprechen gehört hatte. Wahrscheinlich waren es Worte, auch wenn sie für Mau keine Bedeutung hatten. Aber er dachte: Es ist ein Lied der Hosenmenschen für ihre Toten. Sie sind wie wir! Aber wenn Imo sie geschaffen hat, warum sind sie dann so anders?
Der Captain war jetzt fast ganz untergetaucht, ohne den Holzring loszulassen. Mau hielt noch den letzten Stein in einer Hand und stieß den schwimmenden Toten von sich. Dabei tastete er die ganze Zeit mit den Füßen nach Halt an der Felskante. Auch die Kälte der Tiefe konnte er spüren.
Da unten war die Strömung. Niemand wusste, woher sie kam, obwohl es Geschichten über ein Land im Süden gab, wo das Wasser wie Federn vom Himmel fiel. Dafür wusste jeder, wohin sie ging. Jeder konnte es sehen. Sie wurde zum Schimmernden Pfad, einem Fluss aus Sternen, der quer über den nächtlichen Himmel strömte. Einmal in tausend Jahren, so hieß es, wenn Locaha unter den Toten nach denen suchte, die er in die vollkommene Welt schicken wollte, stiegen jene über diesen Pfad empor und schickten die Übrigen zurück, damit sie Delfine blieben, bis für sie die Zeit der Wiedergeburt gekommen war.
Wie kann das sein?, fragte sich Mau. Wie wird Wasser zu Sternen? Wie wird ein toter Mensch zu einem lebenden Delfin?
Aber war das nicht eine Kinderfrage? Eine von den Fragen, die ein Mann nicht stellen sollte? Sie waren entweder dumm oder falsch, und wenn man zu oft »Warum?« fragte, bekam man jede Menge Arbeit aufgedrückt und als einzige Antwort: »So ist die Welt eben!«
Eine kleine Welle schwappte über den Captain. Mau befestigte den letzten Stein am Steuerrad, und während der Leichnam allmählich in die Tiefe glitt, gab Mau ihm einen Stoß hinaus in die Strömung.
Blasen stiegen auf, als der Captain langsam versank, bis er nicht mehr zu sehen war.
Mau wollte sich gerade umdrehen, als er bemerkte, dass ihm unter Wasser etwas entgegenstieg. Es durchbrach die Oberfläche und kippte auf die Seite. Es war die Mütze des Captains, und als sie sich jetzt mit Wasser füllte, tauchte sie gemächlich wieder unter.
Hinter ihm war lautes Platschen zu hören, und im nächsten Moment stolperte das Mädchen von der Daphne-Sippe an ihm vorbei. Ihr weißes Kleid waberte wie eine riesige Qualle um sie herum.
»Lass sie nicht wieder untergehen!«, rief sie. »Er will, dass du sie nimmst!« Sie machte einen Satz, griff nach der Mütze, schwenkte sie triumphierend – und ging unter.
Mau wartete darauf, dass sie wieder hochkam, aber er sah nur Blasen aufsteigen.
Konnte es tatsächlich sein, dass es auf der Welt jemanden gab, der nicht…?
Sein Körper reagierte wie von selbst. Er tauchte ab, packte den größten Korallenbrocken, den er finden konnte, und stieß sich über die Kante ins dunkle Wasser.
Unter ihm schwebte der arme Captain langsam der jenseitigen Welt entgegen. Mau schoss in einer silbrigen Luftblasenfontäne an ihm vorbei.
Von unten stiegen weitere Blasen auf, und ein bleicher Schatten verschwand in der Zone, die das Sonnenlicht nicht mehr erreichte.
Dieses Mädchen nicht, dachte Mau, so laut er konnte.
Nicht jetzt. Niemand verschwindet lebend in der Dunkelheit.
Ich habe dir gute Dienste geleistet, Locaha. Ich bin in deinen Fußstapfen gewandelt. Du solltest mir etwas schuldig sein. Ein Leben musst du wieder aus der Dunkelheit entlassen!
Und aus der finsteren Tiefe antwortete ihm eine Stimme: Ich erinnere mich an keine Vereinbarung, Mau. Weder an einen Pakt oder ein Bündnis noch an eine Abmachung oder ein Versprechen. Es gibt nur das, was geschieht, und das, was nicht geschieht. Es gibt kein »sollte« und »dar!«.
Auf einmal verhedderte er sich in den Röcken ihres Kleides wie in einer gewaltigen Seeanemone. Er ließ den Stein in die Dunkelheit fallen, suchte nach ihrem Gesicht, blies die Luft aus seinen schmerzenden Lungen in ihre, sah, wie sie die Augen aufriss, hielt sie fest und strampelte zur Wasseroberfläche hinauf.
Es dauerte ewig. Er spürte, wie die langen, kalten Finger von Locaha nach seinen Füßen griffen und seine Lungen zusammenpressten, während alles Licht zu verblassen schien. Das Rauschen des Wassers in seinen Ohren klang immer mehr wie Geflüster: Wäre es denn so schlimm, jetzt aufzuhören? Sich einfach in die Dunkelheit zurückfallen und von der Strömung mitnehmen zu lassen? Es wäre das Ende allen Kummers, die Auslöschung aller bösen Erinnerungen. Du müsstest sie nur loslassen und… Nein! Dieser Gedanke ließ seinen Zorn zurückkehren, und mit dem Zorn kehrte auch seine Kraft zurück.
Ein Schatten fiel quer durch das Licht, und Mau musste ausweichen, als der Captain seine letzte und vermutlich längste Reise unaufhaltsam fortsetzte.
Aber das Licht kam nicht näher. Kein Stück. Seine Beine waren taub und schwer. Seine Lunge brannte. Und plötzlich war er wieder da, der silberne Faden. Er verband Mau mit der Zukunft und zog ihn zu einem Bild dessen, was sein konnte… Und dann spürte er Fels unter seinen Füßen. Er stieß sich davon ab, und sein Kopf brach durch die Brandung. Seine Füße berührten noch einmal den Felsen, und das Licht war strahlend hell.
Alles, was dann geschah, beobachtete er von tief drinnen aus seinem Versteck heraus. Mechanisch zog er das Mädchen aufs Trockene, drehte sie um und klopfte ihr so lange auf den Rücken, bis sie einen ganzen Schwall Wasser aushustete. Es folgte ein langer Marsch den Strand entlang, bis er sie schließlich neben das Feuer legte, wo sie noch mehr Wasser spuckte und stöhnte. Erst dann erklärte Maus Geist, dass sein Körper viel zu schwach war, um all das geschafft zu haben, und ließ ihn rückwärts in den Sand fallen.
Es gelang ihm gerade noch, sich umzudrehen und zu erbrechen, was von dem grauenvollen Brot übrig war. Er starrte in die Lache. Das, was nicht geschieht, dachte er, und die Worte wurden in ihm zu einer Siegeserklärung. »Geschieht nicht«, sagte er, und die Worte wurden immer größer und zogen ihn auf die Beine. »Geschieht nicht!«, schrie er in den Himmel.
»Geschieht nicht!«
Als er ein leises Geräusch hörte, blickte er nach unten.
Das Mädchen lag zitternd im Sand. Er ging neben ihr in die Knie und hielt ihre Hand, die immer noch die Mütze des Captains umklammert hielt. Ihre Haut war weiß und so kalt wie die Berührung Locahas, obwohl direkt neben ihr das Feuer brannte.
»Entwischt! Ich habe sie zurückgeholt!«, rief er. »Geschieht nicht!«
Mau rannte am Strand entlang und bog dann auf den Weg, der in den unteren Wald führte. Rote Krabben flüchteten vor ihm, als er den Pfad aus abgeknickten Bäumen entlangstürmte. Er erreichte das große Kanu und kletterte an der Seite hinauf. Da war doch… Ja, da war die große Decke in der Ecke. Er griff danach und zog, und irgendetwas zog zurück. Er zog kräftiger, und dieses Etwas landete mit einem splitternden Krachen auf dem Deck.
Eine Stimme sagte: »Rraa! Roberts ist ein übler Säufer! Zeig uns deinen Schlüpfer!«
Diesmal hatte sich die Decke gelöst und enthüllte einen zerbrochenen Holzkäfig und einen sehr wütenden grauen Vogel.
Er stierte Mau funkelnd an.
»Rraa! Gesegnet seien die Schwachen, meine geheiligte Tante!«
Mau hatte jetzt keine Zeit für Vögel, aber dieser hatte so ein Funkeln in den Augen, das ihm Sorgen machte. Er schien eine Antwort von ihm zu erwarten.
»Geschieht nicht!«, rief er und rannte aus der Kabine mitsamt der hinter ihm flatternden Decke.
Er hatte die Schneise zur Hälfte durchquert, als er über sich Geflatter hörte und dann ein kreischendes »Geschieht nicht!«.
Mau blickte gar nicht erst nach oben. Die Welt war ihm einfach zu fremd geworden. Er lief zum Feuer und wickelte das Mädchen ordentlich in die Decke. Nach einer Weile hörte das Zittern auf, und sie war eingeschlafen.
»Geschieht nicht!«, kreischte der Vogel von einem abgebrochenen Baum herunter. Mau blinzelte. Er hatte den Vogel verstanden. Und er hatte ihn auch schon vorher verstanden, allerdings ohne dass es ihm bewusst geworden war.
Sicher, es gab Vögel, die ein paar Worte sprechen konnten, zum Beispiel der graue Rabe und der gelbe Sittich, aber man konnte sie kaum verstehen. Dieser Vogel sprach, als wüsste er, was er da sagte.
»Wo ist mein Fressen, du essiggesichtiger, alter Pisspott?«, sagte der Vogel und wippte aufgeregt auf und ab. »Gib mir meinen Anteil, du alter Heuchler!«
Das klang wieder sehr nach Hosenmenschensprache.
Die Sonne stand tief, aber immer noch eine Handbreit über dem Meer. Unglaublich viel war in einem relativ kurzen Zeitraum passiert, der sich innerlich jedoch wie eine Ewigkeit anfühlte.
Mau blickte auf das schlafende Mädchen. »Geschieht nicht«
war nicht genug. Man konnte Locaha nicht trauen. Mit ihm konnte man keinen Handel abschließen. Jetzt musste Mau an »Wird nicht geschehen« denken. Der Tod sollte hier nicht herrschen…
Er holte seinen Speer und hielt Wache bis zum Morgengrauen.