11
Verbrechen und Strafe

Ein ohrenbetäubender Knall wurde vom Berg wieder zurück ins Tal geworfen, und in Daphnes Kopf schwoll das Echo sogar noch an. Ataba stürzte rückwärts zu Boden wie ein gefällter Baum.

Allein Milo und Pilu verstanden, was gerade passiert war, dachte sie. Niemand sonst dürfte eine Schusswaffe bisher auch nur gesehen haben. Sie hörten einfach einen lauten Knall, und der alte Mann fiel um. Ich muss verhindern, dass alle umkommen! Mau kniete neben Atabas Leiche, und als er gerade wieder aufstehen wollte, gab sie ihm wild fuchtelnd zu verstehen, dass er unten bleiben sollte.

Dann beging Foxlip Selbstmord. Zu diesem Zeitpunkt wusste er es noch nicht, aber so fing es an.

Er zog auch die zweite Pistole aus dem Gürtel und knurrte:

»Sagen Sie ihnen, dass sie sich nicht bewegen sollen. Der erste Bimbo, der es wagt, ist ein toter Bimbo. Sagen Sie ihnen das, sofort!«

Sie trat mit erhobenen Händen vor. »Ich kenne diese Männer! Es sind Foxlip und Polegrave! Sie gehörten zur Besatzung der Sweet Judy. Sie töten andere Menschen! Sie haben Mr. Wainsly und Mr. Plummer erschossen! Und sie haben darüber gelacht! Sie… Pilu, erklär ihnen, was eine Pistole ist!«

»Es sind böse Menschen!«, sagte Milo.

»Ja! Das sind sie! Und sie haben noch mehr Pistolen. Seht ihr? Sie stecken in ihren Gürteln!«

»Du meinst Funkenmacher?«, sagte Mau, der immer noch am Boden kauerte. Sie konnte sehen, dass seine Muskeln aufs Äußerste gespannt waren.

Ach herrje, dachte Daphne, ein ziemlich ungünstiger Moment für ein gutes Gedächtnis…

»Für Erklärungen ist jetzt keine Zeit. Wenn sie mit diesen Pistolen auf euch zielen, können sie euch schneller töten als mit einem Speer. Und sie werden euch töten, versteht ihr? Mich wahrscheinlich nicht. Für sie bin ich lebend mehr wert. Also haltet euch zurück. Das ist eine Sache zwischen… Hosenmenschen!«

»Aber du hast auf mich gezielt…«

»Jetzt ist keine Zeit für Erklärungen!«, zischte Daphne.

»Ich denke, Sie reden zu viel, junges Fräulein«, sagte Foxlip. Hinter ihr stand Polegrave und kicherte bösartig. Dann spürte sie den Lauf einer Pistole im Rücken.

»Hab mal gesehen, wie sie einem Kerl direkt ins Kreuz geschossen haben, kleines Fräulein«, flüsterte der Mann. »Die Kugel blieb stecken, wirklich wahr. Sah lustig aus. Er fing an zu tanzen, auf der Stelle, seine Beine drehten völlig durch, und er schrie wie am Spieß. Ist erst nach zehn Minuten umgefallen. Faszinierend – ein Wunder der Natur.«

»Halt die Klappe!«, sagte Foxlip, der nervös die Leute auf der Lichtung beobachtete. Die meisten Inselbewohner hatten sich ins Gebüsch zurückgezogen, aber diejenigen, die zurückgeblieben waren, machten keinen besonders glücklichen Eindruck.

»Warum musste sich der alte Narr auch unbedingt erschießen lassen? Das hat alle anderen nur unnötig aufgebracht!«

»Aber das ist doch sowieso ein lahmer Haufen«, sagte Polegrave. »Wir könnten warten, bis die anderen kommen…«

»Halt’s Maul, hab ich gesagt!«

Sie wissen nicht, was sie jetzt tun sollen, dachte Daphne.

Sie sind dumm und verunsichert. Das Problem ist, dass sie dumm, verunsichert und bewaffnet sind. Und von ihrer Sorte kommen noch mehr. Imo hat uns klug gemacht, sagt Mau. Bin ich klüger als ein dummer Mann mit einer Pistole? Ja, ich denke schon.

»Meine Herren«, sagte sie, »warum klären wir diese Angelegenheit nicht wie zivilisierte Menschen?«

»Euer Majestät belieben zu scherzen«, erwiderte Foxlip.

»Bringen Sie mich nach Port Mercia, dann wird mein Vater Ihnen Gold geben und Sie begnadigen. Wer könnte Ihnen heute ein besseres Angebot machen? Gehen wir doch einmal ganz mathematisch an die Sache heran. Ja, Sie sind bewaffnet, doch wie lange können Sie wach bleiben? Hier sind viel mehr« – Daphne musste sich zwingen, dieses Wort auszusprechen – »Bimbos als Sie. Selbst wenn ein Mann Wache hält, hat er nur zwei Schüsse, bevor ihm die Kehle durchgeschnitten wird. Denkbar wäre natürlich auch, dass sie nicht mit der Kehle anfangen, weil es ja, wie Sie bereits festgestellt haben, Wilde sind und nicht so zivilisiert wie Sie. Sie sind doch bestimmt mit einem Boot gekommen. Es wäre sehr riskant, auf der Insel zu bleiben.«

»Aber wir haben Sie als Geisel«, sagte Polegrave.

»Vielleicht sind Sie ja auch meine Geiseln. Ich brauche nur zu schreien. Sie hätten den Priester nicht erschießen dürfen.«

»Der Alte war ein Priester?«, sagte Polegrave und blickte erschrocken drein. »Es bringt Unglück, einen Priester zu töten!«

»Nicht wenn es ein heidnischer Priester ist«, sagte Foxlip.

»Außerdem hat ihn das Unglück ja wohl selbst ereilt, oder?«

»Aber Priester haben Zaubersprüche. Sie können Köpfe schrumpfen lassen…«

»Und wann haben sie deinen geschrumpft?«, sagte Foxlip.

»Reiß dich endlich zusammen! Und was Sie betrifft, Prinzessin: Sie kommen auf jeden Fall mit uns!«

Prinzessin, dachte sie. Das sah diesen Meuterern ähnlich. Ständig gaben sie ihr niedliche Spitznamen. Das konnte sie auf den Tod nicht leiden. Davon bekam sie eine Gänsehaut. Aber wahrscheinlich war das der Sinn der Sache.

»Nein, Mr. Foxlip, ich bin keine Prinzessin«, sagte sie mit Bedacht, »aber trotzdem werden Sie mir jetzt folgen. Bleiben Sie in meiner Nähe.«

»Und Sie führen uns auch nicht in einen Hinterhalt?«

»Bald ist Sonnenuntergang. Wollen Sie die ganze Nacht hier oben bleiben?« Sie streckte eine Hand aus und fügte hinzu: »Noch dazu im Regen?« Eine kräftige Böe wehte die ersten Tropfen heran. »Die Menschen hier können im Dunkeln sehen«, fuhr sie fort. »Und sie bewegen sich lautlos wie der Wind. Ihre Messer sind so scharf, dass sie damit einem Mann den…«

»Was ist hier eigentlich los?«, wollte Polegrave von Foxlip wissen. »Ich dachte, du kennst dich aus! Du hast behauptet, wir würden fette Beute machen. Du hast mir erklärt…«

»Und jetzt sage ich dir, dass du die Klappe halten sollst.« Foxlip wandte sich an Daphne. »Also gut, Mylady. Ich hör mir dieses Geschwafel nicht länger an. Wir werden Sie beim ersten Tageslicht von hier wegbringen. Vielleicht kommen wir sogar bis zu Ihrem lieben Herrn Papa. Dann sollte dort aber ein ordentlicher Batzen Gold auf uns warten, sonst könnte die Sache auch ganz anders ausgehen. Keine Tricks, verstanden?«

»Wir haben vier geladene Pistolen, Fräulein«, sagte Polegrave und hielt ihr eine davon unter die Nase, »und nichts kommt dagegen an, kapiert?«

»Aber den fünften Mann werden Sie damit nicht mehr aufhalten können, Mr. Polegrave.«

Sie genoss seine offensichtliche Verunsicherung und wandte sich wieder an Foxlip. »Tricks? Von mir? Nein. Ich will nur nach Hause. Ich kenne keine Tricks.«

»Schwören Sie beim Leben Ihrer Mutter!«, sagte Foxlip.

»Wie bitte?«

»Auf der Judy waren Sie immer eine verdammt hochnäsige Göre. Schwören Sie es. Dann glaube ich Ihnen vielleicht.«

Weiß er von meiner Mutter?, fragte sich Daphne. Dieser Gedanke glitt völlig ruhig durch ein tosendes Meer der Wut. Ich glaube, der arme Captain Roberts wusste es, und ich habe es Cookie erzählt, aber nicht einmal Cookie würde im Beisein von Leuten wie Foxlip über so etwas plaudern. Trotzdem hat niemand das Recht, einen solchen Schwur von mir zu verlangen!

Foxlip knurrte. Für seinen Geschmack hatte Daphne schon zu lange geschwiegen.

»Haben Sie Ihre Zunge verschluckt?«, fragte er.

»Nein. Aber das ist ein großer Schwur. Darüber musste ich erst einmal nachdenken. Ich verspreche Ihnen, dass ich nicht versuchen werde, wegzulaufen oder Ihnen Lügen aufzutischen. Und ich werde auch nicht versuchen, Sie zu hintergehen. Wollten Sie das von mir hören?«

»Schwören Sie es auch beim Leben Ihrer Mutter?«, hakte Foxlip nach.

»Ja, das tue ich.«

»Das ist ausgesprochen großzügig von Ihnen«, sagte Foxlip.

»Meinen Sie nicht auch, Mr. Polegrave?«

Aber Polegrave beäugte nur misstrauisch den tropfenden Wald links und rechts des Pfades. »Hier bewegt sich was«, brummte er. »Überall kriecht irgendwelches Zeugs rum.«

»Löwen, Tiger und Elefanten, ohne Zweifel«, sagte Foxlip munter. Dann fügte er etwas lauter hinzu: »Aber ich habe den Finger am Abzug meiner Pistole, und wenn ich auch nur glaube, ich hätte ein verdächtiges Geräusch gehört, könnte das unangenehme Folgen für das edle Fräulein haben. Ein Schritt, und sie ist reif für den Knochenacker!«

Sobald Daphne und die zwei Hosenmänner hinter der nächsten Biegung verschwunden waren, trat Mau vor. »Wir könnten sie überwältigen. Der Regen wäre unser Verbündeter«, flüsterte Pilu.

»Du hast gehört, was der Große gesagt hat. Ich werde kein Risiko eingehen. Sie hat mir das Leben gerettet. Schon zweimal.«

»Ich dachte, du hättest ihr das Leben gerettet.«

»Ja, aber dadurch, dass ich ihr das Leben gerettet habe, hat sie gleichzeitig auch meins gerettet. Verstehst du? Wenn sie nicht gewesen wäre, hätte ich mich einfach an den größten Stein geklammert, den ich finden konnte, und wäre der dunklen Strömung gefolgt. Ein Mensch allein ist nichts. Zwei Menschen sind eine Nation.«

Pilu runzelte verwirrt die Stirn. »Und was sind dann drei Menschen?«

»Eine größere Nation. Wir sollten ihnen folgen… aber vorsichtig.«

Und dann hat sie mich noch ein zweites Mal vor Locaha gerettet, dachte er, als sie sich wieder auf den Weg machten, lautlos wie Geister im Regen. Er war aufgewacht, den Kopf voller Bilder von silbrigen Fischen, und die alte Frau hatte ihm alles erzählt. Er war zur weißen Stadt unter dem Meer gerannt, und dann war Daphne da gewesen und hatte ihn schneller nach oben gezogen, als Locaha schwimmen konnte. Selbst die alte Frau war beeindruckt gewesen. Das Geistermädchen hatte offenbar einen Plan, aber sie konnte ihm nicht sagen, was sie vorhatte. Mit ihren Stöcken und Speeren konnten sie ihr also einfach nur folgen. Nein, sie mussten ihr gar nicht folgen. Er wusste, wohin sie wollte. Er blickte ihrer blassen Gestalt nach, als sie die Männer über den Pfad hinunter zum Hain führte.

Wer mag wohl noch hier sein?, fragte sich Daphne. Sie hatte Mrs. Glucker oben an der Höhle gesehen, weil alle, die laufen konnten, dorthin gegangen waren. Doch in den hinteren Hütten lagen ein paar Kranke. Sie würde vorsichtig sein müssen…

Daphne hielt etwas trockenes Gras an das Feuer vor der Hütte und entzündete damit eine Lampe von der Judy. Sie tat es sehr behutsam und überlegte sich jede Bewegung genau, weil sie nicht über das nachdenken wollte, was sie als Nächstes tun würde. Diesen Teil musste sie ausblenden. Trotzdem zitterte ihre Hand – aber schließlich hatte ein Mädchen wohl auch das gute Recht, ein wenig zu zittern, wenn zwei Männer Waffen auf sie richteten.

»Setzen Sie sich doch«, sagte sie. »Wenigstens sind die Matten nicht so unangenehm wie der Boden.«

»Verbindlichsten Dank«, sagte Polegrave und blickte sich in der Hütte um.

Es brach ihr fast das Herz. Vor langer Zeit hatte eine Frau diesem Mann Manieren beigebracht, und zum Dank dafür war aus ihm ein Fiesling, Dieb und Mörder geworden. Doch nun, wo er Angst hatte und sich Sorgen machte, trieb ein Stückchen echter Höflichkeit aus fast vergessenen Tiefen an die Oberfläche wie eine kleine, klare Luftblase aus einem Sumpf. Das würde die Sache nicht gerade erleichtern.

Foxlip brummte nur und setzte sich mit dem Rücken zur Wand, die aus massivem Fels bestand.

»Das ist eine Falle, nicht wahr?«, sagte er.

»Nein. Sie haben mich aufgefordert, beim Leben meiner Mutter zu schwören«, sagte Daphne kalt und dachte: Und das war eine Sünde. Selbst für jemanden, der an keinen Gott glaubte, war das eine Sünde. Manche Taten waren einfach grundsätzlich Sünden. Und ich werde dich ermorden, was auch eine Todsünde ist. Aber es wird nicht wie ein Mord aussehen…

»Möchten Sie etwas Bier?«, fragte sie.

»Bier?«, sagte Foxlip. »Sie meinen richtiges Bier?«

»Jedenfalls wirkt es wie Bier. Teufelstrank. Ich habe gerade welchen frisch zubereitet.«

»Sie haben es selbst gemacht? Aber Sie sind ein edles Fräulein!«

»Dann mache ich vielleicht ›edles‹ Bier«, sagte Daphne.

»Manchmal muss man einfach tun, was getan werden muss. Möchten Sie nun was davon oder nicht?«

»Sie wird uns vergiften!«, sagte Polegrave. »Das ist alles ein Trick!«

»Wir nehmen gern etwas Bier, Prinzessin«, sagte Foxlip, »aber Sie werden es zuerst trinken. Wir sind schließlich nicht von gestern.« Er bedachte sie mit einem unangenehmen Augenzwinkern, voller List und Tücke und ohne jede Spur von Humor.

»Ja, Sie passen auf uns auf, kleines Fräulein, und wir werden auf Sie aufpassen, wenn Cox’ Kannibalenkumpel zum Picknick vorbeikommen«, sagte Polegrave.

Daphne hörte, wie Foxlip ihn verärgert anzischte, als sie nach draußen trat, aber sie hatte ohnehin keinen Moment lang geglaubt, dass die beiden sie tatsächlich »retten« wollten. Und Cox hatte offenbar die Räuber gefunden. Wen sollte sie mehr bedauern?

Sie ging nach nebenan in die Bierhütte und nahm drei blubbernde Schalen mit Bier aus dem Regal. Dann wischte sie sorgfältig die toten Fliegen weg.

Was ich vorhabe, ist kein Mord, sagte sie sich erneut. Mord wäre eine Sünde. Aber das hier ist kein Mord.

Foxlip würde darauf bestehen, dass sie zuerst etwas von dem Bier trank, um zu beweisen, dass es nicht vergiftet war, aber bisher hatte sie noch nie viel davon getrunken, höchstens einen winzigen Schluck, wenn sie ein neu es Rezept ausprobierte.

Ein einziger Tropfen Bier konnte jemanden in einen Wahnsinnigen verwandeln, hatte ihre Großmutter immer gesagt. Das Teufelszeug führte dazu, dass man sich selbst beschmutzte, seine Kinder vernachlässigte und seine Familie zerstörte, um nur einige der üblen Folgen zu nennen. Aber dies war schließlich ihr Bier. Es war nicht irgendwo in einer Fabrik hergestellt worden, ohne dass man wusste, was sich alles darin befand. Es bestand einfach aus gutem, einfachem… Gift.

Sie kam mit drei breiten, flachen Lehmschalen zurück, die sie zwischen die Matten auf den Boden stellte.

»Also, das sind ja ein paar ganz reizende Kokosnüsse«, sagte Foxlip auf seine widerwärtig unfreundliche freundliche Art, »aber ich sage Ihnen was, Fräulein. Sie werden das Bier mischen, damit wir alle dasselbe bekommen, klar?«

Daphne zuckte mit den Schultern und tat wie befohlen, während beide Männer sie genau beobachteten.

»Sieht aus wie Pferdepisse«, sagte Polegrave.

»Pferdepisse ist gar nicht so übel«, sagte Foxlip. Er hob seine Schale auf, blickte dann auf Daphnes, zögerte kurz und zeigte schließlich sein widerliches Grinsen.

»Ich nehme an, Sie sind viel zu klug, um Gift in Ihre eigene Schale zu geben und dann darauf zu hoffen, ich würde sie austauschen«, sagte er. »Trinken Sie, Prinzessin!«

»Ja, schön brav den Mund ganz weit aufmachen!«, sagte Polegrave.

Und wieder traf sie ein winziger Pfeil mitten ins Herz. Das hatte ihre Mutter immer zu ihr gesagt, wenn sie ihr Gemüse nicht essen wollte. Diese Erinnerung versetzte ihr einen Stich.

»In jeder Schale ist das gleiche Bier. Ich habe einen Schwur geleistet«, erwiderte sie.

»Ich sagte, trinken Sie!«

Daphne spuckte in ihre Schüssel und sang das Bierlied aber nicht ihre eigene Version, sondern die der Insel. Bi-Ba-Butzemann wäre jetzt eher nicht die richtige Wahl gewesen.

Also sang sie das Lied von den Vier Brüdern, und weil der größere Teil ihres Verstandes damit erst einmal beschäftigt war, nutzte der kleinere die Gelegenheit, sie an etwas zu erinnern: Der besungene Luft-Gott verkörperte den Planeten Jupiter, von dem wir glauben, dass er hauptsächlich aus Gasen besteht. Ist das nicht ein erstaunlicher Zufall? Dann verließ sie für einen kurzen Moment der Mut, weil ein noch kleinerer Teil ihres Geistes sich wegen ihres Plans Sorgen machte, doch es gelang ihr, nicht die Nerven zu verlieren.

Es herrschte verdutztes Schweigen, als sie fertig war, und dann sagte Foxlip:

»Was zum Teufel sollte das denn? Sie haben in Ihr Bier gerotzt!«

Daphne setzte die Schale an ihre Lippen und nahm einen kräftigen Schluck. Das Bier schmeckte ein wenig nussiger als sonst.Sie spürte, wie es sprudelnd ihre Speiseröhre hinabrann, während die Männer sie immer noch anstarrten.

»Sie müssen in die Schale spucken und das Bierlied singen.«

Ihr entfuhr ein Bäuerchen, und sie hielt sich schnell eine Hand vor den Mund. »Oh, Verzeihung. Ich kann es Ihnen beibringen. Oder Sie summen einfach mit. Ja? Es ist ein uraltes Ritual.«

»Ich werde kein heidnisches Kauderwelsch singen!«, sagte Foxlip, griff nach seiner Schale und nahm einen tüchtigen Schluck, derweil Daphne sich zusammenreißen musste, um nicht zu schreien.

Polegrave hatte sein Bier nicht angerührt. Er war immer noch misstrauisch! Seine kleinen Knopfaugen zuckten zwischen Daphne und seinem Meutereikumpanen hin und her.

Foxlip stellte seine Schale ab und rülpste. »Ah, es ist schon verdammt lange her, seit…«

Schlagartig wurde es still. Polegrave griff nach seinen Pistolen, aber Daphne war bereits aufgesprungen, und ihre Schale traf seine Nase, dass es knirschte. Schreiend kippte der Mann hintenüber, und im nächsten Augenblick hatte Daphne die Pistolen vom Boden aufgehoben.

Sie bemühte sich, zu denken und gleichzeitig nicht zu denken.

Denk bloß nicht über den Mann nach, den du gerade umgebracht hast.

Es war eine Hinrichtung!

Denk lieber über den Mann nach, den du vielleicht noch töten musst.

Aber ich kann nicht beweisen, dass er ein Mörder ist! Er hat Ataba nicht getötet!

Sie fingerte an einer der Pistolen herum, während Polegrave fluchend versuchte aufzustehen und dabei Blut spuckte. Die Waffe war schwerer, als sie aussah, und Daphne, deren ungeschickte Finger nicht so recht gehorchen wollten, schluckte einen Fluch hinunter, den sie dem unerschöpflichen Fass an Verwünschungen auf der Sweet Judy zu verdanken hatte.

Endlich gelang es ihr, den Hahn zu spannen, genau wie Captain Roberts es ihr gezeigt hatte. Es klickte zweimal, was Cookie als das »Zwei-Pfund-Klicken« bezeichnete. Auf ihre Frage hin hatte er erklärt: »Ein Mann, der dieses Geräusch in der Dunkelheit hört, verliert zwei Pfund… an Gewicht, und zwar ganz schnell!«

Auf jeden Fall sorgte es nun dafür, dass Polegrave ganz still wurde.

»Ich werde schießen!«, log sie. »Keine Bewegung. Gut. Jetzt hören Sie mir zu. Ich will, dass Sie verschwinden. Sie haben hier niemanden getötet. Gehen Sie. Auf der Stelle. Wenn ich Sie hier noch einmal sehe, werde ich… jedenfalls werden Sie es schwer bereuen. Ich lasse Sie gehen, weil Sie eine Mutter hatten. Irgendwann einmal hat jemand Sie tatsächlich geliebt und versucht, Ihnen gutes Benehmen beizubringen. Aber das begreifen Sie ohnehin nicht. Und jetzt stehen Sie endlich auf und verschwinden Sie. Raus hier! Laufen Sie ganz schnell weg! Sofort!«

Polegrave hielt sich die zertrümmerte Nase, aus der Blut und Rotz lief, und stolperte gebückt und ohne einen Blick zurück aus der Hütte in den Sonnenuntergang hinein, wie eine Krabbe, die sich in die rettende Brandung flüchtet.

Daphne setzte sich, noch immer die Pistole in Händen, und wartete, bis die Hütte aufgehört hatte, sich um sie zu drehen.

Dann betrachtete sie den schweigenden Foxlip, der sich überhaupt nicht mehr rührte.

»Warum mussten Sie auch so… so dumm sein?«, sagte sie und stieß ihn mit der Pistole an. »Wieso haben Sie einen alten Mann erschossen, der mit einem Stock vor Ihnen herumgefuchtelt hat? Sie schießen einfach blindlings auf diese Menschen, und ausgerechnet Sie bezeichnen sie als Wilde! Warum waren Sie nur so dumm, mich für dumm zu halten? Wieso haben Sie nicht auf mich gehört? Ich habe Ihnen doch gesagt, dass Sie das Bierlied singen sollen. Wäre es denn so schlimm gewesen, ein bisschen mitzusummen? Aber nein, Sie wussten es ja besser, weil diese Leute doch nur Wilde sind! Und jetzt sind Sie tot, mit einem blöden Grinsen auf Ihrem dummen Gesicht! Sie hätten nicht sterben müssen, aber Sie wollten ja nicht hören. Dafür haben Sie jetzt genug Zeit, mir zuzuhören, Mr. Dummkopf! Es ist nämlich so, dass dieses Bier aus einer sehr giftigen Pflanze hergestellt wird. Sie paralysiert einen schlagartig. Aber im menschlichen Speichel gibt es irgend eine chemische Substanz, müssen Sie wissen, und wenn man ins Bier spuckt und dann das Bierlied singt, verwandelt sich das Gift in etwas Harmloses mit einem schönen, nussigen Aroma, das ich, nebenbei bemerkt, erheblich verbessern konnte, wie mir von allen Seiten bestätigt wird. Es dauert keine fünf Minuten, um das Bier trinkbar zu machen, was in etwa der Zeitspanne entspricht, die man benötigt, um das offizielle Bierlied zu singen, aber wenn man sechzehnmal Bi-Ba-Butzemann singt, funktioniert das auch, verstehen Sie? Denn es geht dabei nicht um das Lied, sondern um das Warten. Das habe ich unter Anwendung von wischen…« – wieder ein Bäuerchen – »Verzeihung, wissenschaftlichen Methoden herausgefunden.«

Dann musste sie schleunigst das Bier loswerden und erbrach obendrein alles, was sie während des vergangenen Jahres gegessen hatte. Zumindest fühlte es sich so an. »Und es hätte doch so ein netter Abend werden können«, fügte sie hinzu. »Ist Ihnen eigentlich klar, was diese Insel ist? Haben Sie auch nur die leiseste Ahnung davon? Natürlich nicht, denn Sie sind ja so unglaublich dumm! Und tot obendrein! Und ich bin eine Mörderin!«

Sie brach in Tränen aus, groß und salzig rollten sie über ihre Wangen, und dann führte sie ein Streitgespräch mit sich selbst.

»Hör zu, es waren Meuterer! Wenn man sie vor ein ordentliches Gericht gestellt hätte, wären sie gehangen worden!«

Gehängt, nicht gehangen! Aber das ist der Sinn und Zweck von Gerichten. Sie sollen die Leute davon abhalten, andere Leute zu ermorden, nur weil sie meinen, sie hätten es verdient. Es gibt einen Richter und Geschworene, und wer für schuldig befunden wird, landet beim Henker und wird gehängt, wie es sich gehört. Der Henker würde vorher in aller Ruhe frühstücken, und vielleicht noch ein Gebet sprechen. Und dann würde er sie ganz ruhig und ohne Zorn einfach aufhängen, weil er in diesem Moment eben das Gesetz verkörperte. So funktioniert es.

»Aber es haben doch alle gesehen, wie er Ataba erschossen hat!«

Richtig. Also hätten alle entscheiden sollen, was zu tun ist.

»Wie hätten sie das tun sollen? Sie wussten nicht, was ich wusste! Und du weißt ja, wie sie sind! Die beiden Männer hatten insgesamt vier Pistolen! Wenn ich sie nicht aus dem Weg geräumt hätte, wären noch mehr Leute erschossen worden! Sie haben davon gesprochen, die Insel zu übernehmen!«

Ja. Trotzdem bleibt es Mord, was du getan hast.

»Und was ist mit dem Henker? Müsste der dann nicht auch ein Mörder sein?«

Nein, weil genügend Leute sagen, dass er es nicht ist. Dafür ist der Gerichtssaal da. Dort wird das Gesetz tätig.

»Und damit wird es unweigerlich richtig? Hat Gott nicht gesagt: ›Du sollst nicht töten‹?«

Ja. Aber danach wurde die Sache erst kompliziert.

Im Türrahmen bewegte sich etwas, und ihre Hand hob die Pistole. Doch dann ließ ihr Gehirn sie wieder sinken. »Gut«, sagte Mau. »Ich möchte nicht ein zweites Mal erschossen werden. Du erinnerst dich?«

Wieder kamen ihr die Tränen. »Das tut mir so furchtbar leid. Ich dachte, du wärst… Ich dachte doch, du wärst ein Wilder«, brachte Daphne mühsam hervor.

»Was ist ein Wilder?«

Sie zeigte mit der Pistole auf Foxlip. »Jemand wie er.«

»Er ist tot.«

»Tut mir leid. Er hat darauf bestanden, sein Bier ohne Ritual zu trinken.«

»Wir haben gesehen, wie der andere zum unteren Wald gerannt ist. Er blutete wie ein krankes Schwein aus der Nase.«

»Er wollte das Bier nicht trinken!«, schluchzte Daphne.

»Es tut mir so leid, dass ich Locaha hierher gebracht habe.«

Maus Augen blitzten. »Nein, diese Männer haben ihn hierher gebracht, und du hast ihn wieder vertrieben.«

»Es werden noch mehr kommen! Sie haben darüber gesprochen«, stieß Daphne hervor.

Mau sagte nichts, sondern legte nur seinen Arm um sie. »Morgen will ich einen Prozess«, sagte sie.

»Was ist ein Prozess?«, fragte Mau. Er wartete eine Weile, aber die einzige Antwort, die er zu hören bekam, war ein leises Schnarchen. Also blieb er bei ihr sitzen und beobachtete, wie der Himmel im Osten langsam dunkler wurde. Dann bettete er sie vorsichtig auf ihre Matte, warf sich die erstarrte Leiche von Foxlip über die Schulter und ging zum Strand hinunter. Die Unbekannte Frau beobachtete, wie er die Leiche in ein Kanu lud und aufs Meer hinauspaddelte, wo Foxlip mit einem Korallenbrocken am Fuß über Bord ging, damit er von etwas gefressen werden konnte, das hungrig genug war, selbst diesen Kadaver nicht zu verschmähen.

Sie sah auch, wie er zurückkam und wieder den Berg hinaufstieg, wo Milo und Cahle an der Leiche von Ataba Wache gehalten hatten, damit er nicht zu einem Geist wurde.

Am nächsten Morgen folgten sie ihm zum Strand, wo sich die Unbekannte Frau und ein paar andere zu ihnen gesellten. Nun ging die Sonne auf, und Mau war nicht überrascht, als er den grauen Schatten sah, der neben ihm schwebte. Irgendwann lief Milo genau hindurch, ohne etwas zu bemerken.

»Zwei weitere Tode, Einsiedlerkrebs«, sagte Locaha.

»Macht dich das glücklich?«, knurrte Mau. »Dann schick den Priester in die vollkommene Welt.«

»Wie kannst du um so etwas bitten, kleiner Einsiedlerkrebs, du, der nicht daran glaubt?«

»Weil er es getan hat. Und er hatte Mitgefühl, was man von seinen Göttern nicht gerade behaupten kann.«

»Keine Geschäfte, Mau, auch diesmal nicht.«

»Wenigstens versuche ich es!«, brüllte Mau. Alle starrten ihn an.

Der Schatten verblasste.

Am Rand des Riffs, über der dunklen Strömung, befestigte Mau Korallenbrocken an dem alten Mann und beobachtete dann, wie er versank, tiefer, als Haie tauchen konnten.

»Er war ein guter Mann!«, rief er in den Himmel. »Er hat bessere Götter verdient!«

Im Dunst des unteren Waldes zitterte jemand.

Es war keine gute Nacht für Arthur Septimus Polegrave gewesen, der unter seinen Freunden – wenn er welche gehabt hätte – »Skepticus« genannt worden wäre. Er wusste, dass er sterben würde, er wusste es einfach. Es konnte nicht anders sein. In diesem Dschungel schien es nichts zu geben, das während der vergangenen tief trüben Stunde nicht versucht hatte, ihn zu beißen, zu stechen oder nach ihm zu hacken. Hier gab es Spinnen – riesige, furchteinflößende Biester, die auf Nasenhöhe über jedem Pfad lauerten – und Insekten, die sich anfühlten, als wären sie allesamt mit glühend heißen Nadeln bewaffnet. Irgendwelche Viecher hatten ihm in die Ohren gebissen, und andere waren ihm die Hosenbeine hinaufgekrabbelt oder einfach über ihn hinweggetrampelt. Mitten in der Nacht hatte sich eine hinterhältige Bestie von den Bäumen auf ihn gestürzt und wollte ihm den Kopf abschrauben. Sobald er wieder etwas sehen konnte, würde er es darauf ankommen lassen und zum Schiff laufen und schnell von hier verschwinden. Alles in allem, dachte er, während er ein Getier mit unverhältnismäßig vielen Beinen aus seinem Ohr zog, konnte es wohl kaum noch schlechter kommen.

Dann hörte er im Baum über sich ein Rascheln und blickte genau in dem Moment nach oben, als sich ein wohlgenährter Großvatervogel in Vorbereitung aufs Frühstück erbrach, und Arthur Septimus Polegrave musste sich eingestehen, dass er mit der Einschätzung seiner Lage wohl ein wenig zu voreilig gewesen war.

Etwas später an diesem Morgen marschierte Daphne mit dem Logbuch der Sweet Judy in der Hand zu Pilu und sagte: »Ich will einen fairen Prozess.«

»Das ist gut«, sagte Pilu. »Wir wollen uns die neue Höhle ansehen. Kommst du mit?« Die meisten Inselbewohner hatten sich hinter ihm versammelt, denn die Nachricht von den Göttern hatte sich schnell herumgesprochen.

»Du weißt gar nicht, was ein Prozess ist, nicht wahr?«

»Äh, nein«, sagte Pilu.

»Das ist etwas, wo man entscheidet, ob jemand ein Verbrechen begangen hat und bestraft werden sollte.«

»Du hast den Hosenmann doch schon bestraft«, sagte Pilu fröhlich. »Er hat Ataba getötet. Er war ein Pirat!«

»Äh, ja… aber die Frage ist, ob ich es hätte tun dürfen. Schließlich hatte ich keine richterliche Befugnis, ihn zu töten.«

Milo, der hinter seinem Bruder stand, beugte sich herab und flüsterte ihm etwas ins Ohr.

»Ach ja«, sagte Pilu, »mein Bruder erinnert mich gerade an die Zeit, als wir in Port Mercia waren und ein Marinemann beim Diebstahl erwischt wurde. Sie haben ihn an einen Mast gefesselt und ihn mit einem Lederding geschlagen. Geht es darum? Ich glaube, Leder haben wir hier irgendwo.«

Daphne erschauderte. »Äh… nein danke. Aber, äh, gibt es auf euren Inseln denn überhaupt keine Verbrechen?«

Es dauerte eine Weile, bis Pilus Kopf diese Vorstellung verarbeitet hatte. »Ah, jetzt weiß ich, was du meinst«, sagte er schließlich. »Du möchtest, dass wir dir sagen, dass du nichts Böses getan hast, richtig?«

»Das Geistermädchen will sagen, dass es Regeln geben muss und gute Gründe«, sagte Mau, der direkt hinter Daphne stand.

Sie hatte ihn nicht einmal bemerkt.

»Ja, aber ihr sollt nicht sagen, dass ich etwas Gutes getan habe, nur weil ihr mich mögt«, fügte sie hinzu.

»Ihn mochten wir jedenfalls nicht«, sagte Pilu. »Er hat Ataba getötet!«

»Ich glaube, ich weiß, was sie meint«, sagte Mau. »Wir sollten es versuchen. Es klingt… interessant.«

Und so hielt die Nation ihre erste Gerichtsverhandlung ab. Es gab keine Aufteilung in Richter und Geschworene. Alle saßen im Kreis, auch die Kinder. Und Mau saß ebenfalls im Kreis.

Keiner war so wichtig wie er… dennoch saß Mau genau wie jeder andere im Kreis.

Alle sollten sich ein Urteil bilden… und Mau saß mit im Kreis.

Er war nicht groß, er war nicht einmal tätowiert, er brüllte keine Befehle – er war jedoch ein klein wenig anwesender als alle anderen. Und er hatte die Mütze. Er war der Captain.

Daphne hatte mitgehört, wie ein paar Neuankömmlinge über ihn geredet hatten. Sie benutzten eine Art Code, nannten ihn den »armen Jungen«, und sie sprachen darüber, wie schwer es für ihn sein musste, doch irgendwo zwischen all den Worten schwang unausgesprochen, aber unüberhörbar die Andeutung mit, dass er noch nicht alt genug war, um Häuptling zu sein.

Und ungefähr an dieser Stelle tauchten dann entweder Milo oder Cahle auf, wie eine Sonnenfinsternis, und das Gespräch drehte sich plötzlich nur noch um Babys oder den Fischfang.

Und jeden Tag wurde Mau älter und war immer noch Häuptling.

Pilu leitete die Gerichtsverhandlung. Für eine solche Aufgabe war er wie geschaffen. Trotzdem brauchte er etwas Unterstützung…

»Wir müssen einen Ankläger ernennen«, erklärte Daphne.

»Das ist jemand, der meint, ich hätte falsch gehandelt, und einen Verteidiger, der findet, dass ich im Recht bin.«

»Dann bin ich dein Verteidiger«, sagte Pilu unbeschwert.

»Und der Ankläger?«, fragte Daphne. »Das bist dann du.«

»Ich? Dann müsste ich ja jemand anders als ich selbst sein!«

»Aber jeder weiß doch, dass dieser Mann Ataba getötet hat«, sagte Pilu. »Wir haben es alle gesehen!«

»Wurde denn auf diesen Inseln noch nie jemand von jemandem getötet?«

»Manchmal schon – nach zu viel Bier, bei einem Streit um eine Frau – solche Sachen. Sehr traurig. Es gibt da eine Geschichte, eine sehr alte Geschichte über zwei Brüder, die sich gestritten haben. Es kam zum Kampf, und einer tötete den anderen, aber es hätte genauso gut andersherum sein können. Der Mörder flüchtete, weil er die Strafe kannte, und hat sich selbst dazu verurteilt.«

»War es eine grausame Strafe?«

»Man hätte ihn von den Inseln verbannt, weit weg von seinem Volk und seiner Familie. Er hätte nie mehr in den Fußstapfen seiner Vorfahren wandeln dürfen, nie den Tod seines Vaters besingen können, nie wieder die Lieder seiner Kindheit hören dürfen, nie wieder das köstliche Wasser seiner Heimat riechen. Er baute sich ein Kanu und segelte zu fernen Meeren, wo die Menschen in verschiedenen Farben gebacken wurden und wo jeder Baum für ein halbes Jahr starb. Er lebte sehr lange und hatte viele Länder bereist, doch eines Tages fand er einen Ort, der der beste von allen war – die Insel seiner Kindheit. Dort trat er ans Ufer und konnte glücklich sterben, weil er wieder heimgekehrt war. Danach verwandelte Imo die beiden Brüder in Sterne und hing sie an den Himmel, damit wir uns für immer an den Bruder erinnern, der so weit fortgesegelt war, dass er wieder zurückkam.«

Du meine Güte, dachte Daphne, während das Bild des sterbenden Bruders vor ihrem geistigen Auge verblasste, ist das traurig. Doch es ist eine Geschichte über etwas ganz anderes, über eine Reise, die so weit ist, dass man wieder zurückkommt… Oh, ich muss unbedingt noch einmal in diese Höhle!

»Aber das Geistermädchen ist doch schon verbannt«, gab Mau zu bedenken. »Die Welle hat sie zu uns in die Verbannung geschickt.« Also musste die Sache weiter diskutiert werden.

Eine halbe Stunde später hatte sich an der Situation nicht viel geändert. Die gesamte Bevölkerung der Insel saß im Kreis um Daphne herum und versuchte, ihr zu helfen. Versuchte zu verstehen, während der Gerichtsprozess weiterging.

»Du hast gesagt, es wären böse Hosenmenschen gewesen«, sagte Mau.

»Ja. Die schlimmsten, die es gibt«, bestätigte Daphne. »Mörder und Raufbolde. Du sagst, dass du im Schatten von Locaha wandelst, aber sie wandelten in seinem Lendenschurz, wenn er viele Monate lang nicht gebadet hat.« Darüber wurde gelacht.

Wahrscheinlich hatte sie irgendetwas falsch ausgedrückt.

»Und wie sollen sie in Locahas Lendenschurz gewandelt sein?«, fragte Pilu. Doch zu seiner offenkundigen Enttäuschung lachten die Leute diesmal nicht so sehr.

»Das ist die falsche Frage«, meldete sich Mau wieder zu Wort, und das Lachen hörte auf. »Du sagst, du hättest ihnen vom Bierlied erzählt, aber sie hätten nicht auf dich gehört. Es ist doch nicht deine Schuld, dass der Mann ein Dummkopf war.«

»Richtig, aber es war ein Trick von mir«, sagte Daphne. »Ich wusste, dass sie es nicht ernst nehmen würden.«

»Warum wollten sie denn nicht auf dich hören?«

»Weil…« Sie zögerte, aber jetzt ließ sich die Sache nicht mehr umgehen. »Ich werde euch lieber alles erzählen. Und ich möchte euch alles erzählen. Ihr solltet wissen, was an Bord der Sweet Judy geschehen ist. Ihr solltet von den Delfinen und dem Schmetterling und dem Mann im Kanu erfahren!«

Und während der Kreis mit offenen Mündern lauschte, schilderte sie, was sie gesehen, was Cookie ihr erzählt und was Captain Roberts ins Schiffslogbuch eingetragen hatte. Sie erzählte ihnen vom Ersten Offizier Cox und der Meuterei und dem Mann im Kanu…

… der braun gewesen war und aussah, als wäre er aus altem Leder gemacht, genau wie Mrs. Glucker. Die Sweet Judy war zwischen den Inseln auf ihn gestoßen, wo er eifrig in seinem kleinen Kanu dem Horizont entgegen paddelte.

Der Erste Offizier behauptete, der Mann hätte eine obszöne Geste gemacht. Foxlip und Polegrave hatten seine Aussage bestätigt, doch im Logbuch vermerkte der Captain, der mit jedem von ihnen unter vier Augen gesprochen hatte, dass sie keine genaueren Angaben über die Art dieser Geste machen konnten. Cox hatte auf den Mann geschossen und ihn getroffen.

Auch Foxlip feuerte seine Pistole ab. Daphne erinnerte sich noch genau, wie er gelacht hatte. Polegrave schoss als Letzter, was ihm ähnlich sah. Er war der klassische Feigling, der einer Leiche einen Fußtritt verpasste, weil sie sich nicht wehren konnte. Außerdem hatte er immerzu gekichert und Daphne keine Sekunde aus den Augen gelassen, sobald sie an Deck war.

Und trotzdem war er vermutlich klüger als Foxlip, hinter dessen Prahlerei und Grobheit ohnehin nichts weiter zu erwarten war, so dass es vermutlich Hummer gab, die intelligenter waren als Foxlip. Die beiden neigten dazu, sich immer in Cox’ Nähe aufzuhalten, was auf den ersten Blick nur schwer zu verstehen war, bis man herausfand, dass es sogar Fische gab, die neben einem Hai herschwammen und sich selbst in sein Maul wagten, weil sie dann vor anderen Fischen sicher waren und nie gefressen wurden.

Niemand wusste, welchen Nutzen der Hai davon hatte. Vielleicht bemerkte er sie überhaupt nicht, oder er sparte sie sich für einen heimlichen Mitternachtsimbiss auf.

Natürlich war Cox nicht mit einem Hai zu vergleichen. Er war viel schlimmer. Haie waren nichts als Fressmaschinen.

Sie hatten gar keine andere Wahl. Erster Offizier Cox hingegen hatte sehr wohl eine Wahl gehabt und sich jeden Tag dafür entschieden, Erster Offizier Cox zu sein. Und das war eine seltsame Entscheidung, denn wenn Bosheit eine ansteckende Krankheit wäre, hätte man Cox irgendwo auf einer einsamen Insel in eine Quarantänezelle gesteckt. Und selbst dort hätten die Kaninchen, die am Seegras knabberten, irgendwann angefangen, sich gegenseitig zu beißen. Cox war in der Tat ansteckend. Wo immer sein Schatten hinfiel, wurden alte Freundschaften gekündigt, brachen kleine Kriege aus, wurde die Milch sauer, flüchteten Schaben von jedem aufgeweichten Schiffszwieback und standen die Ratten Schlange, um ins Meer zu springen. Zumindest hatte Cookie es so ausgedrückt, der allerdings zu leichten Übertreibungen neigte.

Und Cox hatte gegrinst. Es war nicht dieses widerwärtige, nervöse Grinsen von Polegrave, das in jedem, der es sehen musste, das dringende Bedürfnis weckte, sich die Hände zu waschen. Sondern es war das Grinsen eines Mannes, dem seine Arbeit Spaß machte. Er war in Port Advent an Bord gekommen, nachdem fünf Besatzungsmitglieder von ihrem Landgang nicht zurückgekehrt waren. Das geschah häufiger, wie der Koch Daphne erzählte. Ein Captain, der Kartenspiele, fröhliches Pfeifen, Alkohol und Fluchen unter strenge Strafe stellte, hatte es selbst mit guter Bezahlung nicht leicht, seine Besatzung zu halten. Es war schrecklich, mit anzusehen, sagte Cookie, wie die Religion eine anständige Seele derart gefangen nehmen konnte. Aber gerade weil er ein anständiger Kerl und ein guter Captain war, blieb ein großer Teil der Besatzung ihm treu – auch wenn es grausam war, Seemänner vom Fluchen abhalten zu wollen (sie fanden einen Weg, dieses Problem zu umschiffen, indem sie in ein altes Wasserfass fluchten, das sie ins Speigatt gesteckt hatten; obwohl Daphne sich alle Mühe gab, konnte sie nicht alle Flüche verstehen, doch am Ende eines schweren Tages war das Wasser im Fass heiß genug, um damit Wäsche zu waschen).

Jeder wusste über Cox Bescheid. Der Erste Offizier Cox ließ sich nicht anheuern. Er tauchte einfach auf. Wenn man keinen Ersten Offizier brauchte, weil man schon einen hatte, stellte man fest, dass dieser plötzlich ausgesprochen erpicht darauf war, wieder Zweiter Offizier zu sein, ja, sicher, aber bitte gern…

Und wer ein argloses Naturell hatte, glaubte womöglich all den wunderbaren Referenzen, die andere Captains für Cox geschrieben haben, ohne sich dabei zu fragen, warum die so glücklich gewesen waren, ihn auf einem anderen Schiff zu sehen.

Cookie war allerdings der Ansicht, dass Roberts bestimmt alles über Cox gewusst hatte und ganz von missionarischem Eifer erfüllt gewesen war, als er die Gelegenheit witterte, einen üblen Sünder vor Hölle und Verdammnis zu retten.

Und vielleicht war Cox, als er sich in der Mannschaft eines Captains wiederfand, der seine Männer dreimal täglich zum gemeinsamen Gebet antreten ließ, von einem gänzlich anders gelagerten Eifer erfüllt gewesen, der schwarz und von Flammen umgeben war. Das Böse sucht Gesellschaft, hatte Cookie gesagt.

Erstaunlicherweise nahm er bereitwillig an den Gottesdiensten teil und war aufmerksam bei der Sache! Die Leute, die ihn kannten, blieben jedoch vorsichtig. Cox ernährte sich gewissermaßen von Unfrieden, und wenn man nicht sofort durchschaute, was er im Schilde führte, konnte es nur etwas richtig Böses sein.

Wenn Cox nichts anderes zu tun hatte, schoss er auf alles Mögliche. Vögel, fliegende Fische, Affen, einfach alles. Eines Tages landete ein großer Schmetterling, der von einer Insel heran geweht worden war, auf dem Deck. Cox zerschoss ihn so gezielt, dass nur noch zwei Flügel übrig blieben, und dann zwinkerte er Daphne zu, als hätte er etwas sehr Gewitztes getan. Er erinnerte sie an ihren Vetter Botney, der keinen Frosch unzerquetscht ließ, kein Kätzchen ungetreten, keine Spinne ungeplättet. Zu guter Letzt hatte sie ihm unter dem Schaukelpferd versehentlich zwei Finger gebrochen und ihm gedroht, sie würde Wespen in seine Hosen stecken, wenn er sie nicht in Ruhe ließ, und als die Leute angelaufen kamen, war sie einfach in Tränen ausgebrochen. Wenn man einer uralten Kriegerfamilie entstammte, ließ es sich kaum vermeiden, dass einem zumindest ein Hauch von Rücksichtslosigkeit mit in die Wiege gelegt worden war.

Bedauerlicherweise hatte es nie jemanden gegeben, der Cox’ Schritte auf den rechten Pfad gelenkt und seinen fingern einen Gipsverband verpasst hätte. Doch einige Besatzungsmitglieder raunten einander zu, dass er sich vielleicht geändert haben könnte. Er schoss zwar weiterhin wild drauflos, aber zu den Gebetsstunden stand er immer in der ersten Reihe und beobachtete den alten Roberts, wie ein Biologe einen seltenen Käfer studierte. Cox schien vom Captain geradezu fasziniert zu sein.

Auch wenn Captain Roberts die Absicht verfolgen mochte, Cox’ Seele vor dem Feuer der ewigen Verdammnis zu retten, hasste er diesen Mann dennoch zutiefst, und daraus machte er auch keinen Hehl. Das schmeckte Cox überhaupt nicht, aber einen Captain zu erschießen, erregte für seinen Geschmack wohl doch etwas zu viel Aufsehen, also musste er sich – wie Cookie vermutete – dafür entschieden haben, den Captain mit seinen eigenen Waffen zu schlagen und ihn von innen zu zerstören.

Cox schoss auf andere Wesen, weil sie lebten, aber eigentlich wollte er nur die Zeit totschlagen. Mit dem Captain verfolgte er einen größeren Plan. Er wollte ihn mit einem gezielten Schuss mitten in seinem Glauben treffen.

Es begann damit, dass Cox während der Gebete kerzengerade dasaß und jedes Mal »Halleluja« oder »Amen« rief und laut klatschte, wenn der Captain einen Satz beendet hatte. Oder er stellte Fragen wie »Womit haben sie auf der Arche die Tiger und Löwen gefüttert?« oder »Wohin ist das viele Wasser verschwunden?«. Dann kam der Tag, als er Cookie aufforderte, für die gesamte Besatzung eine Mahlzeit aus fünf Brotlaiben und zwei Fischen zuzubereiten. Als der Captain daraufhin sagte, dass man diese Geschichte nicht wörtlich nehmen durfte, salutierte Cox ihm vorbildlich und erwiderte: »Wie denn dann, Capt’n?«

Es kam jedoch noch schlimmer. Der Captain wurde mäkelig.

Die Männer, die schon sehr lange in seiner Mannschaft waren, sagten, er wäre ein anständiger Kerl und sie hätten ihn noch nie zuvor mäkelig erlebt. Jeder litt unter einem griesgrämigen Captain, der ständig etwas auszusetzen hatte und jeden Tag zu einer lästigen Pflicht werden ließ. Daphne verbrachte sehr viel Zeit in ihrer Kabine.

Und dann war da noch der Papagei. Niemand wusste genau, wer dem Vogel das erste Schimpfwort beigebracht hatte, obwohl der unsichere Finger des Verdachts auf Cox zeigte. Doch zu diesem Zeitpunkt war bereits die gesamte Mannschaft grantig und gereizt. Cox hatte ein paar Anhänger, und der Captain hatte seine eigenen treuen Verbündeten. Es kam zu Raufereien, und immer wieder wurden Sachen gestohlen, Kleinigkeiten.

Doch nach Cookies Aussage war das verhängnisvoll, denn nichts zerriss eine Besatzung mehr als die Vorstellung, ständig sein persönliches Hab und Gut bewachen zu müssen. Er sagte voraus, dass schon bald der Tag der Verdammnis und der Abrechnung kommen würde. Wahrscheinlich eher die Verdammnis, wie er hinzufügte.

Und am nächsten Tag erschoss Cox den alten Mann im Kanu.

Daphne hätte gern berichtet, dass alle Mann an Bord über diesen Mord empört waren, und in gewisser Weise stimmte das auch, aber viele der Männer machten sich weniger Sorgen um die Unantastbarkeit einer Seele als über die Möglichkeit, dass der alte Mann Verwandte in der Nähe haben könnte, die vielleicht mit schnellen Kanus und scharfen Speeren kamen und keinerlei Bereitschaft zeigen würden, sich Erklärungen anzuhören. Und ein paar von ihnen fanden sogar, dass der alte Mann eigentlich keine Rolle spielte viel grausamer war es, dass Cox und seine Kumpane auf Delfine geschossen hatten, was über alle großes Unglück bringen konnte.

Schließlich kam es zum Krieg, und dabei kochte so viel böses Blut hoch, dass Daphne den Eindruck hatte, es würde mehr als nur zwei Seiten geben. Sie saß die Sache in ihrer Kabine aus, während sie mit einer geladenen Pistole in der Hand auf einem kleinen Fass mit Schießpulver hockte. Der Captain hatte ihr gesagt, wenn Cox’ Männer siegten, sollte sie mit der Pistole auf das Fass schießen, »um ihre Ehre zu retten«, aber sie war sich nicht sicher, wie viel ihre gerettete Ehre wohl noch wert wäre, wenn sie zusammen mit dem Rest der Kabine in kleinen Stücken vom Himmel fiel. Glücklicherweise kam es nicht so weit, weil Captain Roberts die Meuterei beendete, indem er eine der Kanonen der Sweet Judy abmontierte und auf die Meuterer richtete. Die Kanone war dazu gedacht, viele kleine Bleikugeln gleichzeitig auf Piraten abzufeuern, die das Schiff entern wollten. Sie war zwar nicht als Handwaffe konstruiert, und wenn er das Pulver gezündet hätte, wäre er vermutlich vom Rückstoß von Bord katapultiert worden, aber alle, die vor ihm standen, wären durchsiebt worden. Er war von einem heiligen Zorn erfüllt, der selbst Cox nicht entging, wie Cookie ihr später berichtete. In den Augen des Captains brannte der Blick des Allmächtigen, der auf eine besonders sündige Stadt herabschaute, und vielleicht war Cox gerade vernünftig genug gewesen und erkannte, dass er es mit jemandem zu tun hatte, der noch verrückter war als er selbst, zumindest so lange, bis er Cox und seine Leute in Stücke geschossen hätte. Es konnte aber auch sein, so hatte Cookie gemutmaßt, dass der Captain wild zum Mord entschlossen gewesen war, bis ihm bewusst wurde, dass Cox genau das beabsichtigte, damit der teuflische Mann die Seele des Captains mit in die Hölle nehmen konnte.

Doch der Captain hatte die Kanone nicht abgefeuert, erzählte Cookie. Er legte sie auf das Deck, erhob sich mit verschränkten Armen und zeigte ein grimmiges Lächeln, während Cox mit verdutzter Miene dastand. Dann richteten alle kapitänstreuen Männer ihre Pistolen auf Cox’ Kopf, und damit hatte die Meuterei jeden Schwung verloren. Cox und seine Kumpane wurden in das Beiboot der Sweet Judy gesetzt und bekamen Vorräte, Wasser und einen Kompass. Dann blieb nur noch die Frage nach der Bewaffnung. Die Meuterer hatten noch immer Freunde unter der Besatzung, und diese gaben zu bedenken, dass es einem Todesurteil gleichkäme, sie ohne Waffen in diesen unsicheren Gewässern auszusetzen. Letzten Endes deponierte man ein paar Waffen auf einer Insel, die nur eine Seemeile entfernt war, obwohl Captain Roberts damit rechnete, dass jedes Piraten- oder Sklavenschiff, das auf Cox und seine Männer stieß, zweifellos schon bald von einem neuen Captain befehligt werden würde. Er ordnete an, die Kanonen Tag und Nacht zu besetzen und feuerbereit zu halten, und erklärte, dass unverzüglich das Feuer eröffnet würde, sollte dieses Boot je wieder in Sicht kommen.

Das Beiboot wurde losgemacht, und die Meuterer trieben schweigend davon. Lediglich Polegrave und Foxlip machten sich scheinbar keine Sorgen, sondern spotteten und spuckten unbeeindruckt weiter. Das taten sie aber nur deshalb, sagte Cookie, weil sie zu dumm waren, um zu erkennen, dass sie mit einem mordlustigen Irren als Anführer in gefährlichen Gewässern unterwegs waren.

Von diesem Schock erholte sich die Judy nicht mehr, doch sie blieb auf Kurs. Die Männer redeten kaum und blieben lieber für sich, wenn sie keine Wache hatten. Es war alles andere als ein glückliches Schiff. Zudem waren schon zuvor in Port Henry fünf Männer von Bord gegangen und nicht wieder aufgetaucht, so dass die Besatzung nun ohne die Meuterer viel zu klein war für das Schiff und dann kam die Welle.

Und das war die Geschichte, die Daphne erzählte. Sie blieb immer bei der Wahrheit, und wenn sie sich auf Cookies eher unbeherrschte Ausführungen berief, sagte sie es auch. Sie wünschte, sie hätte Pilus Talent, denn selbst wenn er bloß über einen Stein stolperte, machte er daraus ein dramatisches Abenteuer.

Als sie fertig war, schwiegen alle. Die meisten Leute blickten zu Pilu. Sie hatte sich große Mühe gegeben, in einer fremden Sprache die richtigen Worte zu finden, aber die ratlosen Mienen waren ihr nicht entgangen.

Pilu erzählte die ganze Geschichte einfach noch einmal, jedoch unter Einsatz seiner schauspielerischen Fähigkeiten. Captain Roberts war für sie deutlich zu erkennen, wenn er schwer und eindrucksvoll auftrat, und die Figur, die verstohlen umherschlich, konnte nur Polegrave sein, während Cox stampfte und brüllte. Die ganze Zeit schrien sie einander an, während Pilus Finger die Pistolen mimten, und irgendwo in der Luft zwischen Pilu und seinen Zuhörern nahm die Geschichte Gestalt an. Eine zusätzliche Prise von manischem Realismus steuerte der Papagei bei, der hektisch in der Krone einer Kokospalme herumhüpfte und Sachen wie »Und was ist mit Darwin? Rraa!« krächzte.

Pilus Übersetzung hinkte hinter Daphnes Erzählung hinterher, und als es um den Mord an dem alten Mann ging, musste er sich hilfesuchend an sie wenden.

»Hat er den Mann im Kanu getötet, weil er kein Hosenmann war?«

Darauf war sie vorbereitet. »Nein. Der Mann, den ich get… dieser Foxlip hätte so etwas bestimmt getan, aber ich glaube, Cox hat den Mann im Kanu allein deshalb erschossen, weil er gerade nichts anderes fand, worauf er hätte schießen können.«

»Äh… ich glaube, ich hab da was nicht so ganz…«, begann Pilu.

»Es tut mir leid, das sagen zu müssen, aber du hast mich schon richtig verstanden.«

»Er tötet für Locaha und sammelt damit Ruhm und Ehre, so wie die Räuber?«

»Nein. Nur weil er es so will.«

Pilu sah sie an, als bezweifelte er, diese Erklärung den anderen verständlich machen zu können. Und so war es auch. Ganz offensichtlich ergab es für niemanden einen Sinn.

Beharrlich setzte er noch ein paar Sätze hinzu und wandte sich dann wieder an Daphne. »Keine Delfine«, sagte er. »Kein Seefahrer würde einen Delfin töten. Du musst dich Irren.«

»Nein. Das hat er wirklich getan.«

»Aber damit hat er eine Seele getötet«, sagte Pilu. »Wenn wir sterben, werden wir zu Delfinen, bis es für uns an der Zeit ist, als Menschen wiedergeboren zu werden. Wer würde denn einen Delfin töten?« Tränen der Wut und Verwirrung liefen ihm übers Gesicht.

»Es tut mir leid, aber Cox hat es getan. Und auch Foxlip hat auf Delfine geschossen.«

»Warum?«

»Um wie Cox zu sein, glaube ich. Um irgendwie ein großer Mann zu sein.«

»Ein großer Mann?«

»Wie die Schiffshalterfische. Äh, ich glaube, ihr nennt sie Saugfische. Sie schwimmen mit den Haien. Vielleicht stellen sie sich gerne vor, selbst ein Hai zu sein.«

»So etwas würden nicht einmal die Räuber tun, und die verehren Locaha! Das ist unfassbar!«

»Ich habe es gesehen. Und Captain Roberts hat es im Logbuch notiert. Ich kann es euch zeigen.« Zu spät erinnerte sie sich daran, dass Pilu eigentlich gar nicht lesen konnte, sondern nur erkannte, ob es Schriftzeichen waren, wenn man sie ihm vor die Nase hielt. Seine Miene war eine einzige Bitte um Hilfe, also suchte sie für ihn die richtige Seite heraus: Gegen jeden Anstand und die allgemein gültigen Gesetze des Meeres haben Cox und seine Kumpane erneut ihre Pistolen auf Delfine abgefeuert.

Möge Gott ihm vergeben, was vermutlich kein rechtschaffener Seemann tun würde. Ich hege sogar den Verdacht, dass in diesem Fall selbst die Gnade des Allmächtigen auf eine schwere Probe gestellt wird!

Sie las den Eintrag vor. Die Leute im Kreis wurden unruhig. Es wurde laut geflüstert, aber sie konnte nichts verstehen. Dennoch schien es ihr, als stünde eine Übereinkunft kurz bevor.

Durch den Kreis lief ein Flüstern und Nicken in entgegengesetzte Richtungen und endete schließlich bei Mau, der gezwungen lächelte.

»Diese Männer würden einen braunen Mann ohne Grund erschießen«, sagte er. »Und sie haben auch auf Delfine geschossen, die selbst von den Hosenmenschen verehrt werden. Du konntest in ihre Köpfe sehen, Geistermädchen. Nicht wahr? Du hast gesehen, was sie dachten.«

Daphne konnte ihm nicht in die Augen blicken. »Ja«, sagte sie.

»Wilde sind wir für sie. So etwas wie Tiere. Bimbos.«

»Ja.«

Sie wagte es immer noch nicht, den Blick zu heben, aus Angst davor, seinem zu begegnen. Sie erinnerte sich noch allzu gut daran, dass sie selbst den Abzug gedrückt hatte, damals, an jenem ersten Tag. Und er hatte sich auch noch für das Feuer bedankt.

»Als das Geistermädchen mir zum ersten Mal begegnete…«, begann Mau.

O nein, er wird es ihnen doch nicht etwa erzählen, oder?, dachte sie. Das würde er bestimmt nicht tun. Doch dieses leichte Lächeln von ihm… so lächelt er immer, wenn er richtig wütend ist!

»… gab sie mir zu essen«, fuhr Mau fort. »Und später gab sie mir eine Waffe, damit ich Feuer machen konnte, obwohl sie fern von ihrer Heimat und völlig verängstigt war. Doch vorher hatte sie noch daran gedacht, die kleine Kugel herauszunehmen, die fliegt und tötet, damit ich nicht verletzt werde. Und sie lud mich auf die Sweet Judy ein, wo sie mir wunderbaren Kuchen mit Hummergeschmack servierte. Ihr alle kennt das Geistermädchen.«

Sie hob den Kopf. Alle starrten sie an. Jetzt stand Mau auf und trat in die Mitte des Kreises.

»Diese Männer waren anders«, sagte er, »und das Geistermädchen wusste, was in ihren Köpfen vor sich ging. Sie wollten das Bierlied nicht singen, weil sie glaubten, wir wären so etwas wie Tiere, und sie waren zu stolz und fühlten sich zu groß, um ein Lied von Tieren zu singen. Das wusste sie.« Er blickte sich im Kreis um. »Das Geistermädchen glaubt, sie hätte einen Mann ermordet. Hat sie das getan? Ihr müsst darüber entscheiden.«

Daphne versuchte zu verstehen, was nun gesagt wurde, aber alle Leute fingen gleichzeitig an zu reden, und weil alle auf einmal redeten, sprach jeder etwas lauter. Doch irgendetwas geschah.

Kleine Gespräche wurden größer, schon bald von anderen aufgegriffen und wanderten so im Kreis von Zunge zu Zunge. Wie das Ergebnis auch immer aussehen würde, es bestünde vermutlich nicht nur aus einem einfachen Wort, dachte sie. Dann wanderte Pilu im Kreis herum, hockte sich hier hin und dorthin und beteiligte sich eine Weile an den Gesprächen, bevor er zur nächsten Gruppe weiterging.

Niemand hob die Hand, und es gab keine Abstimmung, aber sie fragte sich, ob es im antiken Athen vielleicht genauso gewesen war. Das war Demokratie in ihrer reinsten Form. Die Leute durften nicht einfach nur wählen, jeder hatte auch etwas zu sagen…

Dann beruhigte sich die Runde. Pilu trennte sich von der letzten Gruppe und kehrte in die Mitte des Kreises zurück. Er nickte Mau zu und verkündete das Ergebnis. »Ein Mensch, der einen Priester tötet oder einen anderen Menschen tötet, weil er Spaß daran hat, ihn sterben zu sehen, oder der einen Delfin tötet« – an dieser Stelle stöhnten die Leute laut auf –, »kann gar kein Mensch sein. Es muss ein böser Dämon gewesen sein, der von der Hülle eines Menschen Besitz ergriffen hat, sagen sie. Das Geistermädchen kann ihn also nicht getötet haben, weil er schon längst tot war.«

Mau legte sich eine Hand auf den Mund. »Ist es das, was ihr glaubt?«

Darauf folgte lautstarke Zustimmung.

»Gut.« Er klatschte in die Hände und hob die Stimme. »Wir sind immer noch nicht mit dem Schweinezaun fertig, und wir brauchen außerdem noch mehr Holz von der Judy, und die Fischreuse baut sich auch nicht von allein!«

Die Leute standen auf und drängten eilig kreuz und quer in alle Richtungen auseinander. Niemand hatte mit einem Holzhammer auf einen Tisch geschlagen oder eine Perücke getragen. Sie hatten einfach nur getan, was erledigt werden musste, ohne darum viel Aufhebens zu machen, und nun war es eben an der Zeit, am Schweinezaun weiterzuarbeiten.

»War es das, was du wolltest?«, fragte Mau, der plötzlich neben ihr stand.

»Wie bitte?« Sie hatte gar nicht gesehen, wie er zu ihr gekommen war. »O ja. Äh, ja. Danke. Das war ein sehr gutes, äh, Gerichtsurteil«, sagte sie. »Und was meinst du?«

»Ich denke, sie haben entschieden, und die Sache ist erledigt«, sagte Mau. »Der Mann hat Locaha auf diese Insel gebracht, und die Pistolen waren seine Diener. Aber Locaha selbst ist niemandes Diener.«