7
Göttertaucher
Ein leichter Regen erfüllte die Nacht mit sanftem Rauschen.
Drei weitere Kanus, dachte Mau, während sich sein Blick in der Dunkelheit verlor. Drei gleichzeitig, die in der sanften Brise segelten.
Mittlerweile gab es zwei Babys und noch eins, das demnächst kommen würde, dazu ein kleines Mädchen und ein Junge, elf Frauen, das Geistermädchen eingeschlossen, und acht Männer, Mau nicht eingeschlossen, der ja keine Seele hatte – und drei Hunde.
Die Hunde hatten ihm gefehlt. Sie ergänzten das Leben um etwas, das nicht einmal Menschen hatten, und nun saß ihm einer zu Füßen, hier in der Dunkelheit, im Nieselregen. Den Hund kümmerte das Wetter wenig und auch nicht das, was das unsichtbare Meer bereithalten mochte. Mau war für ihn ein warmer, wacher Körper in einer ansonsten schlafenden Welt, der jeden Moment etwas tun könnte, was ihm Anlass bot, herumzurennen und zu bellen. Gelegentlich blickte das Tier bewundernd zu ihm auf und machte schlabbernde Geräusche, die wahrscheinlich »Alles, was du sagst, großer Meister« bedeuten sollten.
Über zwanzig Menschen, dachte Mau, während der Regen wie Tränen von seinem Kinn tropfte. Das waren noch zu wenige, wenn die Räuber kamen. Nicht genug zum Kämpfen, aber schon zu viele zum Verstecken. Und zweifellos genug für ein paar leckere Mahlzeiten, wenn die Leutefresser kamen…
Auf ihrer Fahrt hierher hatte keiner von ihnen die Räuber gesehen. Sie zogen von einer Insel zur nächsten, hieß es, aber das waren immer nur Gerüchte. Andererseits, wer die Räuber sah, der wurde bestimmt auch von ihnen gesehen…
Die Luft hatte jetzt etwas Graues, kein richtiges Licht, sondern eher den Geist davon. Doch es würde bald heller werden, und die Sonne würde aufgehen, und vielleicht wäre der Horizont dann schwarz vor Kanus, aber vielleicht auch nicht.
Nun hatte Mau auch endlich wieder eine schöne Erinnerung im Kopf. Dort stand das Geistermädchen, das in dem Grasrock ziemlich albern aussah, und hier stand er, der in diesen Hosen noch idiotischer aussah, und alle lachten, selbst die Unbekannte Frau, und alles war irgendwie… richtig.
Und dann waren all die neuen Leute gekommen, die umherirrten, sich Sorgen machten, krank waren und etwas zu essen brauchten. Manche wussten nicht einmal genau, wo sie gelandet waren, und alle hatten große Angst.
Ein lärmender Haufen, wie die Großväter sagten. Diese Menschen hatte die Welle nicht verschluckt. Warum? Nicht einmal sie selbst wussten es. Vielleicht hatten sie sich an einem Baum festgehalten, während die anderen fortgerissen wurden, oder sie hatten sich auf höher gelegenem Grund aufgehalten oder wie Mau auf dem Meer.
Sie waren zu ihren Dörfern zurückgekehrt, die nicht mehr existierten, hatten geplündert, was sich noch finden ließ, und brachen schließlich auf, um nach anderen Menschen zu suchen.
Die Strömung hatte sie zusammengeführt, so dass sie eine Art schwimmendes Dorf bildeten – jedoch bestehend aus Kindern ohne Eltern, Eltern ohne Kinder, Ehefrauen ohne Ehemänner, aus Menschen ohne all jene Dinge um sie herum, die ihnen sagten, wer sie waren. Die Welle hatte ihre Welt erschüttert und nichts als Trümmer hinterlassen. Da draußen mochten noch Hunderte von ihnen sein.
Doch dann… Woher waren sie gekommen, die Gerüchte über die Räuber? Ein Ausruf von Leuten, die panisch geflüchtet waren, ohne sich noch einmal umzudrehen? Der Traum einer alten Frau? Eine vorbeitreibende Leiche? Spielte das überhaupt eine Rolle, wenn völlig verängstigte Menschen sich wieder hinaus wagten, auf allem, was noch halbwegs schwimmen konnte, mit viel zu wenig Nahrung und schlechtem Wasser?
So rollte eine zweite Welle über die Menschen hinweg und ließ sie in ihrer Furcht ertrinken.
Und dann endlich sahen sie den Rauch. Fast alle hatten schon von der Nation gehört. Eine Felseninsel! Sie konnte nicht fortgespült worden sein! Sie hatte die besten Gottesanker der Welt!
Und was sie dort vorfanden, war ein bunt zusammengewürfelter Haufen, dem es auch nicht viel besser ging als ihnen, mit einem alten Priester, einem seltsamen Geistermädchen und einem Häuptling, der weder Junge noch Mann war, der keine Seele hatte und vielleicht sogar ein Dämon war.
Danke, Ataba, dachte Mau. Wenn sich die Leute nicht sicher sind, wer oder was man ist, können sie nicht mehr einschätzen, was man möglicherweise als Nächstes tut. Die Neuankömmlinge schienen misstrauisch gegenüber einem Häuptling zu sein, der kein Mann war, aber sie begegneten ihm fast mit dem Respekt, der gegenüber einem vermeintlichen Dämon angebracht war.
Zwar hatte er davon geträumt, dass die Insel wieder voller Menschen wäre, aber in seinem Traum waren es die Menschen gewesen, die vorher hier gelebt hatten. Diese Menschen gehörten nicht hierher. Sie kannten weder die Lieder der Nation nicht, noch hatten sie die Insel im Blut. Sie fühlten sich hilflos und verloren, und sie sehnten sich nach ihren Göttern.
Erst gestern hatten sie darüber gesprochen. Jemand fragte Mau, ob er sicher sei, dass der Wasseranker an der richtigen Stelle gestanden hatte, bevor die Welle kam. Darüber musste er angestrengt nachdenken und bemühte sich darum, keine Miene zu verziehen. Fast an jedem Tag seines früheren Lebens hatte er die Gottesanker gesehen. Aber waren auch alle drei da gewesen, als er zur Insel der Jungen gefahren war? Bestimmt wäre es ihm aufgefallen, wenn einer gefehlt hätte! So was konnte man doch nicht übersehen!
Ja, hatte er gesagt, alle waren an ihrem Platz gewesen.
Und dann hatte eine graugesichtige Frau gesagt: »Aber ein Mann allein könnte doch einen davon hochheben, oder?« Mau konnte sich schon vorstellen, worauf die Frage abzielte. Wenn jemand den Stein bewegt und ins Wasser gerollt hätte, könnte dadurch die Welle ausgelöst worden sein? Das wäre doch eine Erklärung, nicht wahr? Das hätte doch der Grund sein können, oder?
Er hatte in die ausgezehrten Gesichter geblickt, die alle darauf warteten, dass er ja sagte. Sag ja, Mau, und verrate deinen Vater und deine Onkel und deine Nation, nur damit diese Menschen eine Erklärung haben.
Die Großväter hatten wütend in seinem Kopf getobt, bis er glaubte, seine Ohren würden bluten. Wer waren diese Bettler von den winzigen Sandinseln denn überhaupt, dass sie hierherkamen und sie beleidigten? Ihre Stimmen brachten sein Blut zum Kochen, stachelten ihn auf, bis er ihre Kriegsgesänge in seinen Adern zu spüren glaubte. Mau musste sich regelrecht auf seinen Speer lehnen, damit er ihn nicht benutzte.
Doch sein Blick hatte unverwandt auf der grauen Frau geruht.
An ihren Namen konnte er sich nicht erinnern, aber er wusste, dass sie ihre Kinder und ihren Mann verloren hatte. Sie wandelte in den Fußstapfen von Locaha. Er sah es in ihren Augen und hielt seinen Zorn zurück.
»Die Götter haben euch im Stich gelassen. Als ihr sie brauchtet, waren sie nicht für euch da. So war es, und das ist alles. Sie noch immer zu verehren, würde bedeuten, vor Tyrannen und Mördern in die Knie zu gehen.«
Das waren die Worte, die er hätte sagen wollen, aber so wie die Frau ihn mit ihren Augen fixierte, hätte er sich lieber die Zunge abgebissen, als seine Gedanken auszusprechen. Er wusste, dass diese Worte die Wahrheit waren, aber das hatte hier und jetzt keinerlei Bedeutung. Mau sah in ihre ängstlichen Gesichter, die immer noch auf eine Antwort warteten, und erinnerte sich daran, wie schockiert und verletzt Pilu gewesen war. Ein Gedanke konnte wie ein Speer sein. Und man wirft keinen Speer auf die Witwe, das Waisenkind, den Trauernden…
»Morgen«, hatte er zu ihnen gesagt, »werde ich den Wasser-Anker heraufholen.«
Die Menschen entspannten sich und lächelten einander zufrieden an. Das hatte aber überhaupt nichts mit Selbstgefälligkeit zu tun und bedeutete auch keinen Ausdruck des Triumphes, es war nur so, dass die Welt ein bisschen gewackelt hatte und nun wieder dort war, wo sie sein sollte.
Und schon wurde es Morgen, irgendwo hinter dem leise zischelnden Regen.
Ich werde die drei Steine wieder zusammenbringen, dachte Mau. Und was wird dann geschehen? Nichts! Die Welt hat sich verändert! Dennoch werden sie wieder Fische fangen, auf die Steine legen und davor niederknien!
Langsam sickerte Licht durch den Regen, und irgendetwas veranlasste ihn, sich umzudrehen.
Ein paar Schritte entfernt stand eine Gestalt. Sie hatte einen riesigen Kopf, der, wenn er genauer hinsah, eher ein gewaltiger Schnabel zu sein schien. Und der Regen hörte sich anders an – wo er auf die Gestalt traf, klang es eher wie ein Klicken als ein Platschen.
Es gab viele Geschichten über Dämonen, die in allen möglichen Gestalten auftraten. Sie konnten sich als Menschen tarnen, als Tiere oder als Zwischenwesen, aber…
… es gab keine Dämonen. Es konnte keine geben. Wenn es keine Götter gab, gab es auch keine Dämonen, also war das, was da im Regen stand, auch kein Geschöpf mit einem übergroßen Schnabel, der Mau der Länge nach aufschlitzen würde. So etwas konnte nicht existieren, und das musste er klarstellen. Doch mit lautem Gebrüll sofort darauf loszustürmen, schien ihm auch nicht die vernünftigste Vorgehensweise zu sein…
Ich habe schließlich ein Gehirn, dachte er. Ich werde beweisen, dass es kein Ungeheuer ist.
Dann kam eine leichte Windböe, und das Wesen flatterte mit einem Flügel.
Äh… denk einfach an die Werkzeugkiste. Die Hosenmenschen waren nichts Besonderes. Sie hatten nur Glück gehabt. Pilu sagte, dass sie in einem Land lebten, wo es manchmal so kalt wurde, dass der Himmel gefrorene Federn ausschüttete, ähnlich dem Hagel, der in manchen Gewitterstürmen fiel, aber viel weicher, also mussten sie Hosen erfinden, damit ihnen nicht der Wingo abfror, und große Kanus, um an Orte zu gelangen, wo das Wasser niemals hart wurde. Sie hatten lernen müssen, auf anderen Wegen zu denken, mit neuem Werkzeug im Kopf.
Das ist kein Dämon. Ich werde herausfinden, was es wirklich ist.
Mau starrte es an. Die Füße sahen irgendwie menschlich aus. Und das, was geflattert hatte, konnte doch kein Flügel sein. Wenn man genauer hinschaute, war es vielmehr ein Stück Stoff, das sich im Wind aufblähte. Der einzige Dämon weit und breit war seine Furcht. Dann gab dieses Wesen gurrende Laute von sich, und das klang dermaßen undämonisch, dass Mau sofort darauf zuging. Jetzt konnte er einen Menschen erkennen, der sich in eine Plane von der Sweet Judy gehüllt hatte. Die war so steif, dass sie eine Art Kapuze formte.
Es war die Unbekannte Frau, die ihr Baby an sich drückte, während um sie herum der Regen tröpfelte. Sie schenkte Mau ihr entrücktes, knappes Lächeln. Wie lange hatte sie dort gestanden? Bestimmt schon bevor das Licht heller wurde, davon war er überzeugt. Was machte sie hier? Das wiederum könnte man ihn natürlich genauso gut fragen. Es fühlte sich einfach richtig an. Jemand musste über die Nation wachen. Vielleicht dachte sie genau dasselbe.
Allmählich ließ der Regen nach, und nun konnte er auch wieder die Brandung sehen. Jeden Augenblick müsste eigentlich der…
»Zeig uns deinen Schlüpfer! Robert säuft schon wieder den Gin aus!«
… Papagei aufwachen.
Pilu hatte gesagt, dieser Ruf bedeutete: »Zeig mir deine kleine Hose.« Vielleicht erkannten sich die Hosenmenschen auf diese Weise wieder.
Mau trug jetzt auch kleine Hosen. Er hatte die Beine an den Knien abgeschnitten und das übrige Material benutzt, um mehr von dem herzustellen, was Hosen wirklich nützlich machte: Taschen. Darin konnte man so viele Sachen aufbewahren!
Die Unbekannte Frau war am Strand entlang zurück gelaufen, und nun waren die Geräusche der erwachenden Menschen zu hören.
Tu es jetzt. Gib ihnen ihre Götter…
Er entledigte sich seiner Halbhosen mit den wunderbar nützlichen Taschen, rannte los und sprang in die Lagune. Die Gezeiten würden bald wechseln, aber noch blieb das Wasser um die Lücke im Riff ganz ruhig. Hier war die Welle mit Gewalt durchgebrochen. Gleich hinter der Lücke konnte er schon das tiefe, blaue Wasser sehen.
Direkt unter ihm schimmerte der Anker des Wassergottes. Er lag tiefer als die anderen und weiter vom Ufer entfernt. Es würde eine halbe Ewigkeit dauern, ihn zurückzubringen. Also sollte er lieber sofort damit anfangen.
Mau tauchte, legte die Arme um den Steinblock und zog daran. Doch er rührte sich nicht von der Stelle. Mau entfernte etwas Tang. Der weiße Block hatte sich unter einem Korallenbrocken verklemmt, und er versuchte, auch diesen zu bewegen. Etwa fünf Sekunden später kam sein Kopf wieder an die Wasseroberfläche, und er schwamm langsam und nachdenklich zum Ufer zurück. Dort stieß er auf Ataba, der mit einem Metallhammer aus der Werkzeugkiste ein Stück gepökeltes Rindfleisch bearbeitete. Fast alle kamen gut mit dem Zeug zurecht, bis auf den Priester, der nicht genug Zähne hatte und nur selten jemanden fand, der für ihn das Kauen übernahm. Mau setzte sich und beobachtete den alten Mann schweigend.
Ataba blickte auf. »Bist du gekommen, um über meine Schwächen zu lachen, Dämonenjunge?«
»Nein.«
»Dann könntest du wenigstens so anständig sein und mir das Hämmern abnehmen.«
Mau tat ihm den Gefallen. Es war gar nicht so leicht, denn die Schläge prallten einfach daran ab. Aus dem Zeug hätte man einen guten Schild bauen können.
»Hast du was auf dem Herzen, Dämonenjunge?«, fragte der Priester nach einer Weile. »Seit du bei mir sitzt, hast du noch kein einziges Mal die Götter beleidigt.«
»Ich brauche einen Rat, alter Mann«, sagte Mau. »Und dabei geht es tatsächlich um die Götter.«
»Aha? Glaubst du heute an sie? Ich habe dich gestern Abend beobachtet. Hast du womöglich gelernt, dass der Glaube eine komplizierte Angelegenheit ist?«
»Es gibt drei Götter, richtig?«
»Richtig.«
»Und es hat niemals vier gegeben?«
»Manche sagen, Imo wäre der vierte Gott, aber Er ist Alles. Die drei anderen Götter und wir Menschen und sogar du sind Teil von Ihm.«
»Für Imo gibt es keine Gottesanker?«
»Imo Ist, und weil Er Ist, Ist Er überall. Weil Er überall Ist, Ist Er nirgendwo. Das ganze Universum ist Sein Anker.«
»Was ist mit dem Stern Atindi, der immer in der Nähe der Sonne steht?«
»Er ist der Sohn des Mondes. Aber das weißt du doch!«
»Für ihn gibt es keine Gottesanker?«
»Nein«, sagte Ataba. »Er ist nicht mehr als der Lehm, der übrig war, nachdem Imo die Welt erschaffen hatte.«
»Und der rote Stern ist Imos Lagerfeuer?«
Ataba bedachte Mau mit einem misstrauischen Blick. »Junge, du weißt doch, dass Imo dort den Lehm für die Welt gebacken hat!«
»Und die Götter leben im Himmel, sind aber gleichzeitig ihren Gottesankern nahe?«
»Werd bloß nicht frech! Das weißt du doch alles. Die Götter sind überall, aber an bestimmten Stellen kann ihre Präsenz größer sein. Was bezweckst du damit? Willst du mir etwa eine Falle stellen?«
»Nein. Ich will nur verstehen. Keine andere Insel hat Gottesanker aus weißem Stein, richtig?«
»Ja!«, fauchte Ataba. »Und du wartest nur darauf, dass ich etwas Falsches sage!« Er blickte sich misstrauisch um, für den Fall, dass irgendwo noch mehr Ketzerei lauerte. »Ist es mir gelungen?«
»Nein, Dämonenjunge! Was ich dir gesagt habe, ist richtig und wahr!«
Mau hörte auf zu hämmern, behielt den Hammer aber in der Hand. »Ich habe noch einen Gottesanker gefunden. Und es ist nicht der für den Wassergott. Also habe ich einen neuen Gott für dich gefunden, alter Mann… und ich glaube, er ist ein Hosenmensch.«
Schließlich arbeiteten sie von einem Kanu aus.
Milo, Mau und Pilu tauchten abwechselnd mit Hammer und Meißel von der Sweet Judy und schlugen auf den Korallenblock ein, der den weißen Stein partout nicht loslassen wollte.
Mau hing am Kanu, um nach Luft zu schnappen, als Pilu auf der anderen Seite auftauchte.
»Ich weiß nicht, ob das gut oder schlecht ist«, sagte er und blickte nervös zu Ataba, der zusammengekauert im Heck saß, »aber da unten ist noch einer, gleich hinter dem ersten.«
»Bist du dir sicher?«
»Komm mit und sieh es dir an. Du bist sowieso an der Reihe.
Aber sei vorsichtig, die Ebbe zerrt schon ziemlich kräftig.«
So war es. Mau musste ordentlich gegen die Strömung ankämpfen, als er nach unten schwamm. Währenddessen ließ Milo Hammer und Meißel fallen und schwamm an ihm vorbei nach oben. Mau kam es so vor, als wären sie schon seit Stunden dabei. Es war sehr mühsam, unter Wasser zu hämmern – irgendwie funktionierte der Hammer hier nicht so gut.
Dann erreichte Mau den Gottesanker, den er schon beim ersten Tauchgang gesehen hatte. Er war jetzt frei von Riffgestein, doch dort, wo sie die Korallen abgeschlagen hatten, waren nun die Kanten weiterer Blöcke zu sehen, die ebenfalls aus dem unverkennbaren, weißen Stein bestanden. Was hatte das alles zu bedeuten? Nicht noch mehr Götter, dachte er, wir haben schon genug Schwierigkeiten mit den alten.
Mau glitt mit den Fingern über eine in den Stein gemeißelte Form, die wie ein Werkzeug aus der Kiste der Hosenmenschen aussah. Er hatte das Ding hin und her gedreht und sich gefragt, wofür es wohl sein mochte, bis Pilu es ihm erklärte. Aber in der Nähe der Insel waren noch nie Hosenmenschen gewesen, nicht einmal zu der Zeit, als sein Großvater noch ein kleiner Junge gewesen war, das wusste er genau. Und Korallengestein war uralt. Dennoch steckten diese Blöcke einfach so im Riff wie Perlen in einer Auster. Sie hätten sie nie gefunden, wenn die Welle nicht das Riff zertrümmert hätte.
Er hörte ein Platschen über sich, dann griff eine Hand an ihm vorbei nach dem Hammer. Er blickte in die zornigen Züge Atabas, während der alte Mann den Hammer auf den Stein niederfahren ließ. Luftblasen stiegen auf, als der Priester etwas schrie.
Mau versuchte, ihm den Hammer abzunehmen, und bekam dafür einen überraschend kräftigen Tritt gegen die Brust. Mit dem kleinen Rest an Atemluft in seinen Lungen blieb ihm jetzt nur noch, so schnell wie möglich zur Wasseroberfläche zu schwimmen.
»Was ist passiert?«, fragte Pilu.
Mau klammerte sich keuchend an die Bordwand des Kanus.
Dieser alte Narr! Warum hatte er das getan?
»Alles in Ordnung mit dir? Was macht er da unten? Will er nun doch helfen?«, fragte Pilu mit ahnungsloser Unbeschwertheit.
Mau schüttelte den Kopf und tauchte erneut.
Der alte Mann hämmerte wie verrückt auf den Stein ein, aber Mau wollte nicht das Risiko eingehen, sich den nächsten Tritt einzufangen. Er musste ja nur abwarten. Ataba brauchte schließlich Luft, genau wie jeder andere, und in seinem mageren Brustkorb konnte nicht allzu viel Platz sein.
Aber mehr, als er erwartet hatte.
Ataba hämmerte entschlossen weiter, als wollte er den ganzen Tag dort unten verbringen… bis plötzlich ein Schwall Blasen aus seinem Mund quoll. Das war nicht gut, und außerdem ziemlich verrückt. Was konnte an einem Stein so gefährlich sein, dass der alte Narr seine letzte Atemluft verschwendete, um ihn zu vernichten?
Mau kämpfte sich durch die Strömung nach unten, packte den alten Mann und zog ihn zur Oberfläche hinauf. Dort warf er ihn den Brüdern praktisch in die Arme. Das Kanu schaukelte heftig.
»Pumpt ihm das Wasser aus den Lungen!«, schrie er. »Ich will nicht, dass er stirbt! Ich kann ihn nicht mehr anbrüllen, wenn er tot ist!«
Milo hielt Ataba bereits kopfüber und schlug ihm auf den Rücken. Ziemlich viel Wasser kam aus ihm heraus, gefolgt von einem heftigen Hustenanfall. Als er kein Wasser mehr hustete, ließ Milo den alten Mann ins Kanu sinken.
»Er wollte die neuen Steine zertrümmern«, sagte Mau. »Aber sie sehen wie Gottesanker aus«, sagte Milo.
»Ja«, bestätigte Mau. Das taten sie wirklich. Ganz gleich, was er über die Götter und ihre Steine dachte, sie sahen tatsächlich aus wie Gottesanker.
Milo zeigte auf den röchelnden Ataba. »Und er ist ein Priester«, sagte er. Für ihn war es immer wichtig, zunächst alle Fakten klarzustellen. »Und er wollte die Steine zertrümmern?«
»Ja«, sagte Mau noch einmal. Daran bestand kein Zweifel. Ein Priester, der Göttersteine zerstören wollte.
Milo sah Mau an. »Ich bin verwirrt.«
»Auf einem der Steine ist ein Stechzirkel eingraviert«, sagte Pilu munter. »Die Hosenmenschen benutzen Stechzirkel, um auf ihren Seekarten Entfernungen zu messen.« »Das bedeutet gar nichts«, tönte Milo. »Die Götter sind älter als die Hosenmenschen, und sie können auf die Steine gravieren, was sie wollen… He!«
Ataba war wieder über die Bordwand gesprungen. Mau sah gerade noch, wie seine Füße verschwanden.
»Es war dieser Zirkelstein, auf den er eingeschlagen hat!«, knurrte er und tauchte dem Alten hinterher.
Mittlerweile raste die Strömung regelrecht durch die Lücke auf das offene Meer. Sie packte Mau, als er der mageren Gestalt folgte, spielte mit ihm und wollte ihn gegen das zerklüftete Riff schleudern. Den Priester hatte sie bereits fest im Griff. Ataba kämpfte dagegen an, wollte unbedingt zu den weißen Steinblöcken, doch der Sog riss ihn mit, schlug ihn gegen die Korallen und wirbelte den alten Mann herum. Hilflos trieb er davon und zog eine dünne Blutspur hinter sich her.
Kämpfe niemals gegen die Gezeiten! Sie sind immer stärker als du! Das musste der alte Narr doch wissen!
Mau schwamm ihm hinterher, wand seinen Körper wie ein Fisch. Er brauchte seine ganze Kraft, um sich von den zerklüfteten Rändern des Riffs fernzuhalten. Vor ihm arbeitete sich Ataba zur Wasseroberfläche hinauf, suchte nach einem Halt und wurde im Schaum davongewirbelt.
Mau tauchte auf, um Luft zu holen, und schwamm weiter…
»Blut im Wasser, Mau«, sagte Locaha, der neben ihm schwamm. »Und draußen vor dem Riff sind Haie. Was nun, kleiner Einsiedlerkrebs?«
Geschieht nicht, dachte Mau und versuchte, schneller zu schwimmen.
Dämonenjunge nennt er dich. Er lächelt dir ins Gesicht, doch den Leuten erzählt er, dass du verrückt bist. Was bedeutet er dir?
Mau bemühte sich, an gar nichts zu denken. Aus dem Augenwinkel konnte er den grauen Schatten erkennen, der ohne Schwierigkeiten schneller schwamm als er.
»Hier gibt es kein Schneckenhaus für dich, kleiner Einsiedlerkrebs. Du schwimmst aufs offene Meer hinaus.«
Es gibt nur das, was geschieht und das, was nicht geschieht, dachte Mau, und er spürte, wie sich das tiefe Wasser unter ihm öffnete. Das Sonnenlicht schien blau durch die Wellen über ihm, aber unter Mau war das Meer grün und ging allmählich in Schwarz über. Und dort im letzten Lichtschein trieb Ataba und rührte sich nicht mehr. Blutfäden schlängelten von ihm fort wie Rauch von einem kleinen Feuer. Dann verdunkelte ein Schatten für einen Moment das Licht der Sonne und eine graue Gestalt zog über ihnen vorbei.
Es war das Kanu. Als Mau nach dem Priester griff, hörte er ein Platschen, und Pilu schwamm aus einer Wolke von Luftblasen hervor. Er ruderte wild mit den Armen und deutete in eine Richtung.
Mau drehte sich um und sah einen kreisenden Hai. Es war nur ein kleiner, grauer, doch mit Blut im Wasser war kein Hai klein, und dieser füllte Maus Welt vollständig aus.
Er stieß den alten Mann in Pilus Richtung, behielt dabei aber den Hai im Auge und sah seine irre zuckenden Blicke, als er vorbeischwamm. Mau strampelte, um seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, und hörte erst auf, als er wusste, dass Ataba zum zweiten Mal an Bord gehievt wurde.
Der Hai würde ihn angreifen, wenn er das nächste Mal zurückkehrte, das wusste Mau genau. Und…
… plötzlich spielte es keine Rolle mehr. Dies war die Welt, die ganze Welt. Nur diese lautlose, blaue Kugel aus weichem Licht und der Hai und Mau. Eine kleine Kugel aus Raum, aber ohne Zeit.
Er schwamm ganz ruhig auf den Fisch zu, was diesen offenbar sehr zu irritieren schien. Maus Gedanken kamen langsam und gelassen, ohne Furcht. Pilu und Ataba müssten inzwischen wieder sicher im Boot sein, und nur das zählte. Wenn ein Hai direkt auf dich zukommt, bist du so gut wie tot, hatte der alte Nawi gesagt, und wenn du sowieso schon tot bist, ist es auch egal, was du ausprobierst…
Er tauchte langsam auf und holte noch einmal tief Luft.
Als er wieder nach unten sank, hatte der Hai gewendet und schnitt durch das Wasser genau auf ihn zu.
Warte noch…
Mau trat vorsichtig Wasser, während sich der Hai unaufhaltsam näherte, genauso grau wie Locaha. Er hatte nur eine einzige Chance. Jeden Augenblick konnten mehr Haie kommen, und ein zweiter schwamm bereits an der Arena aus Licht vorbei.
Jetzt kam er…
Noch einen Moment. Jetzt…
Geschieht nicht, dachte Mau mit Nachdruck und stieß dem Hai seine gesamte Atemluft mit einem Schrei entgegen. Der Hai drehte sofort ab, als wäre er gegen einen Felsen gestoßen, aber Mau wartete nicht darauf, ob er zurückkehrte. Er wirbelte im Wasser herum und schwamm so schnell er sich traute zum Kanu – möglichst schnell und möglichst ohne zu plantschen. Als die Brüder ihm ins Boot halfen, zog der Hai unter ihnen vorbei.
»Du hast ihn verjagt!«, sagte Pilu, während er ihn hochhievte.
»Du hast ihn angeschrien, und er ist geflüchtet!«
Weil der alte Nawi recht hatte, dachte Mau. Haie reagieren empfindlich auf Lärm, und unter Wasser wird der noch verstärkt. Es spielte also keine Rolle, was man schrie, solange der Schrei nur laut genug war!
Vielleicht wäre es keine so gute Idee gewesen, wenn der Hai großen Hunger gehabt hätte, doch es hatte geklappt! Und wenn man überlebte, spielte alles andere ohnehin keine Rolle mehr!
Sollte er es ihnen verraten? Selbst Milo sah ihn voller Ehrfurcht an. Ohne es in Worte fassen zu können, hatte er das Gefühl, dass es im Moment gar nicht verkehrt war, geheimnisvoll und vielleicht sogar ein bisschen gefährlich zu erscheinen. Und sie würden nie erfahren, dass er auf dem Rückweg zum Kanu vor Angst ins Meer gepinkelt hatte – was im Wasser übrigens fast genauso schlimm war wie Blut, wenn es um Haie ging. Aber es war höchst unwahrscheinlich, dass der Hai es irgendwem verriet. Mau blickte sich um und rechnete fast damit, einen Delfin zu sehen, der darauf wartete, dass er ihm einen Fisch zuwarf – und das wäre… richtig gewesen. Doch da war kein Delfin.
»Er hatte Angst vor mir«, sagte er.
»Vielleicht hatte er Angst vor dem Dämon.«
»O Mann!«, sagte Pilu.
»Sobald wir zurück sind, erinnere mich bitte daran, dass ich Nawi einen Fisch schuldig bin.«
Dann blickte er sich im Boot zu Ataba um, der wie ein kleines Häufchen Elend im Heck lag.
»Wie geht es ihm?«
»Er ist gegen die Korallen geschleudert worden, aber er wird überleben«, sagte Milo und warf Mau einen fragenden Blick zu, als wollte er sagen: Wenn du damit kein Problem hast. Dann fuhr er fort: »Äh… wer ist Nawi? Ein neuer Gott?«
»Nein. Viel besser als ein Gott. Ein guter Mann.«
Jetzt war Mau kalt. In der blauen Blase war es ihm so warm vorgekommen. Er hätte gerne gezittert, wollte aber nicht, dass die anderen es sahen. Er hätte sich gerne hingelegt, aber dafür war jetzt keine Zeit. Er musste zurückkehren, er musste herausfinden…
»Großväter?«, flüsterte er. »Sagt mir, was ich tun soll! Ich kenne die Gesänge und Lieder nicht, aber helft mir nur dieses eine Mal! Ich brauche ein Bild von der Welt, eine Karte!«
Keine Antwort. Vielleicht waren sie einfach nur müde, aber sie konnten wohl kaum müder sein als er. Wie ermüdend mochte es schon sein, nicht mehr zu leben? Wenigstens konnte man liegen.
»Mau?«, brummte Milo hinter ihm. »Was geht hier vor? Warum hat der Priester versucht, die heiligen Steine zu zerstören?«
Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt »Ich weiß es nicht« zu sagen. Die Brüder sahen ihn mit flehenden, hungrigen Augen an, wie Hunde, die gefüttert werden wollten. Sie brauchten eine Antwort von ihm. Es wäre nett, wenn es die richtige Antwort wäre, aber wenn das nicht ging, tat es auch irgendeine Antwort, damit sie sich dann keine Sorgen mehr machen mussten… und dann hatte er eine zündende Idee.
Nun wusste er, was die Götter waren! Eine Antwort, mit der man leben konnte! Denn wenn man ständig Nahrung besorgen, Kinder auf die Welt bringen und das Leben bewältigen musste, hatte man keine Zeit für große, komplizierte und beunruhigende Antworten! Bitte gib uns eine einfache Antwort, damit wir nicht nachdenken müssen, denn wenn wir nachdenken müssen, kommen wir vielleicht auf Antworten, die nicht zu der Welt passen, wie wir sie gern hätten.
Und was sagte er ihnen jetzt?
»Ich glaube, er denkt, dass sie gar nicht heilig sind«, sagte Mau schließlich.
»Wegen des Stechzirkels, der darauf eingraviert ist, richtig?«, sagte Pilu. »Den wollte er zertrümmern! Er glaubt, dass du recht hast. Sie wurden von den Hosenmenschen gemacht!«
»Sie stecken mitten in den Korallen«, sagte Milo. »Riffe sind sehr alt. Hosenmenschen sind neu.«
Ataba rührte sich. Mau ging neben ihm in die Hocke, während die Brüder das Kanu drehten und sich durch die Lücke im Riff zurückkämpften. Am Strand standen die Anderen und wollten sehen, was los war.
Die Brüder hatten alle Hände voll zu tun, und Mau beugte sich zu Ataba hinunter. »Wer hat die Gottesanker gemacht, Ataba?«, flüsterte er. »Ich weiß, dass du mich hören kannst.«
Der Priester öffnete ein Auge. »Es steht dir nicht zu, mir solche Fragen zu stellen, Dämonenjunge.«
»Ich habe dir das Leben gerettet.«
»Es ist ein zerlumptes, altes Leben, das sich nicht zu retten lohnt«, sagte Ataba und setzte sich auf. »Ich danke dir nicht.«
»Es ist in der Tat zerlumpt und riecht nach Bier, trotzdem musst du deine Schuld begleichen, sonst gehört es mir. Du kannst es zurückkaufen, aber ich setze den Preis fest!«
Ataba blickte ihn zornig an. Er wirkte gequält und kochte innerlich vor Wut, doch er kannte diese Regel genauso gut wie jeder andere.
»Also gut!«, zischte er. »Was willst du von mir, Dämonenjunge?«
»Die Wahrheit.«
Der Priester zeigte mit einem Finger auf Mau. »Nein, willst du nicht! Du willst eine ganz besondere Wahrheit. Eine Wahrheit, die dir gefällt. Du willst eine hübsche, kleine Wahrheit, die zu dem passt, was du bereits glaubst! Aber ich werde dir eine Wahrheit verraten, die dir nicht gefallen wird. Die Menschen brauchen ihre Götter, Dämonenjunge. Und sie wollen ihre heiligen Orte, ganz gleich, wie du das findest.«
Mau fragte sich, ob der Priester seine Gedanken lesen konnte.
Dazu hätte er allerdings richtig gute Augen haben müssen, denn durch Maus Geist wehten rosafarbene Wolken der Erschöpfung, so als würde er träumen. Der Schlaf forderte immer seinen Tribut. Wenn man den Schlaf mehrere Tage lang abwehrte, kehrte er früher oder später mit ausgestreckter Hand zurück.
»Haben die Götter den weißen Stein gemacht?« Seine Zunge war schwer und verschliff die Worte.
»Ja!«
»Das ist eine Lüge«, brachte Mau mühsam hervor. »In die Steine sind Zeichen vom Werkzeug der Hosenmenschen eingemeißelt. Die Götter brauchen doch wohl kein Werkzeug!«
»Menschen sind ihr Werkzeug, Junge. Die Götter haben unseren Vorfahren die Idee eingegeben, Dinge in Stein zu gravieren.«
»Und die anderen Steine?«
»Nicht nur Götter können von einem Menschen Besitz ergreifen, wie du eigentlich am besten wissen solltest, Junge!
»Du glaubst, dass es Dämonen waren?«, sagte Mau. »Dämonensteine?«
»Wo Götter sind, sind auch Dämonen.«
»Das könnte sein«, sagte Mau. Milo schnaubte.
»Ich bin Priester und kenne die Wahrheit der Dinge!«, rief Ataba.
»Hör auf damit, alter Mann«, sagte Mau, so behutsam wie möglich. »Ich werde dich noch einmal fragen, und wenn ich deine Antwort für eine Lüge halte, werde ich zulassen, dass die Götter deine Seele über den Rand der Welt davonwehen.«
»Ha! Aber du glaubst doch gar nicht an die Götter, Dämonenjunge! Oder doch? Hörst du dich eigentlich reden? Ich tue es. Erst stampfst du mit den Füßen und schreist heraus, dass es keine Götter gibt, und im nächsten Moment reckst du die Faust in den Himmel und beschimpfst sie dafür, dass sie nicht existieren! Du brauchst die Götter, damit dich das Feuer der Lästerungen in deiner Selbstgerechtigkeit wärmen kann! Das sind keine vernünftigen Gedanken. Ich sehe nur ein verletztes Kind, das vor Schmerz schreit!«
Maus Gesichtsausdruck änderte sich nicht, aber er spürte, wie die Worte in seinem Kopf hin und her sprangen. Woran glaube ich wirklich?, überlegte er. Die Welt existiert, also existiert vielleicht auch Imo. Aber Er ist weit weg, und es ist Ihm egal, ob Locaha existiert, so viel steht fest. Der Wind weht, das Feuer brennt, und das Wasser fließt, so oder so, sei es zum Guten oder zum Schlechten. Wozu brauchen die Menschen Götter? Wir brauchen Menschen! Daran glaube ich. Ohne andere Menschen wären wir gar nichts. Und ich glaube, dass ich müder bin als je zuvor in meinem Leben…
»Wer hat deiner Meinung nach die Zeichen in die Steine graviert, Ataba?«, sagte er mit ruhiger Stimme. »Wer hat sie hierher gebracht und sie bearbeitet, bevor sie so lange Zeit im Riff gelegen haben? Erkläre es mir, denn ich glaube, dass auch du schreist.«
Die unterschiedlichsten Gedanken spiegelten sich im Gesicht des Priesters, aber es gab kein Entrinnen. »Das wird dir noch leidtun«, stöhnte er. »Du wirst dir wünschen, es nie erfahren zu haben. Es wird dir leidtun, dass du mir das angetan hast.«
Mau hob warnend einen Finger. Zu mehr war er nicht mehr imstande – die rosafarbenen Schweine der Müdigkeit trampelten durch seine Gedanken. Gleich würde er einfach umfallen.
Als Ataba weitersprach, hallte dessen Flüstern in Maus Kopf, als stünde er in einer großen Höhle. Die Dunkelheit bestand aus zu vielen Gedanken, zu viel Hunger, zu viel Schmerz.
»Wer bringt Steine hierher und lässt sie zurück, mein Junge?
Denk darüber nach. Wie vielen Menschen willst du noch mit deiner wunderbaren Wahrheit Schmerzen zufügen?« Doch Mau war bereits eingeschlafen.
Mr. Black hämmerte zum zweiten Mal gegen die Tür vom Ruderhaus der Cutty Wren.
»Lassen Sie mich rein, Captain! Im Namen der Krone!« Eine Klappe in der Tür wurde zurückgeschoben. »Wo ist sie?«, fragte eine misstrauische Stimme.
»Unten«, rief der so genannte Hüter gegen den dröhnenden Wind.
»Wissen Sie das genau? Sie hat die Angewohnheit, plötzlich aus dem Nichts aufzutauchen!«
»Ich versichere Ihnen, dass sie unten ist! Und jetzt öffnen Sie die Tür! Es ist eiskalt!«
»Sind Sie sich wirklich ganz sicher?«
»Zum letzten Mal, machen Sie uns endlich die Tür auf, Mann!«
»Wer genau ist ›uns‹?«, sagte die Stimme, die sich nicht so leicht zum Narren halten ließ.
»Um Himmels willen! Mr. Red ist bei mir!« »Und ist er allein?«
»Lassen Sie uns rein, Captain, im Namen der Krone!« Die Tür wurde geöffnet, und eine Hand zog die beiden Männer hinein. Hinter ihnen wurden sofort wieder alle Riegel zugeknallt, was fast wie Pistolenschüsse klang.
Wenigstens war es hier drinnen wärmer, und der Wind blieb draußen. Mr. Black fühlte sich, als hätte bis eben ein Riese auf ihn eingeprügelt.
»Ist das hier immer so?«, sagte er, während er das Wasser von seinem Ölzeug schüttelte.
»Hier? Ein wunderbarer Tag für diese Breiten, Mr. Black!
Ich wollte gerade ein Sonnenbad nehmen! Ich vermute, Sie sind wegen des Funksignals gekommen.«
»War darin die Rede von einer Flutwelle?«
»Von einer ziemlich großen sogar. Habe es vor einer Stunde von einem Marineschiff aus Port Mercia erfahren. Hat sich über den ganzen Westlichen Pelagischen Ozean ausgebreitet. Viele Todesopfer und beschädigte Schiffe. Port Mercia wurde verschont, heißt es darin. Der Ursprung der Welle liegt schätzungsweise siebzig Meilen südlich der Muttertagsinseln.«
»Das ist immer noch ziemlich weit nördlich von uns.« »Und zudem schon einige Wochen her!«, sagte Mr. Red, der die mit Bleistift gekritzelte Nachricht genauestens studierte.
»Richtig, meine Herren. Aber ich habe bereits ein paar Berechnungen angestellt, und nun frage ich mich, ob die Sweet Judy zum betreffenden Zeitpunkt in der Nähe gewesen sein könnte. Der alte Roberts springt gern von Insel zu Insel, aber die Judy ist nicht gerade das schnellste Schiff. Und die Tochter des Thronerben befindet sich an Bord.«
»Also könnte auch der Erbe davon betroffen sein?« »Gut möglich, Sir«, sagte der Captain ernst. Er hustete. »Ich könnte einen Kurs setzen, der uns dort hindurchführt, aber das würde natürlich Zeit kosten.«
»Darüber muss ich erst nachdenken«, entgegnete Mr. Black.
»Aber ich brauche möglichst bald eine Entscheidung, Sir.
Immerhin geht es hierbei auch um Wind und Wasser, verstehen Sie? Und über die Elemente können weder Sie noch ich befehlen.«
»Zu welchem Land gehören die Muttertagsinseln?«, wollte Mr. Black von Mr. Red wissen, der jedoch nur mit den Schultern zuckte.
»Wir beanspruchen sie für uns, Sir, um die Holländer und Franzosen fernzuhalten. Aber sie sind sehr winzig, und dort gibt es nichts und niemanden. Zumindest niemanden von Bedeutung.«
»Die Wren könnte eine großes Seegebiet absuchen, Sir«, bot der Captain an. »Und wie es scheint, ist der König doch in Sicherheit, und natürlich gibt es an derart abgelegenen Orten so manche Leute, die sich mit Rum die Zeit vertreiben…«
Mr. Black starrte ins Leere. Die Cutty Wren raste derweil wie eine Wolke übers Meer. Ihre Segel donnerten, die Takelage sang – das Schiff lachte höhnisch über jede Meile.
Nach einiger Zeit sagte er: »In Anbetracht der Tatsache, dass wir den genauen Kurs der Sweet Judy nicht kennen, es zudem unzählige dieser kleinen Inseln gibt und inzwischen schon sehr viel Zeit vergangen ist, so dass Seine Majestät zweifellos längst eine Suche angeordnet hat…«
Mr. Red warf ein: »Er weiß nicht, dass er König ist, Sir. Es ist also durchaus denkbar, dass er die Suche selbst angeführt hat.«
»Im Nordwesten gibt es Kannibalen und Piraten«, gab der Captain zu bedenken.
»Und die Krone fordert, dass wir so schnell wie möglich zum König gelangen!«, sagte Mr. Black. »Möchte einer der anwesenden Herren mir diese Entscheidung vielleicht abnehmen?«
Es folgte eine drückende Stille, begleitet vom Getöse ihrer Fahrt.
»Nun gut«, sagte Mr. Black, schon etwas ruhiger. »Dann halten wir uns an den ursprünglichen Befehl, Captain. Ich werde den entsprechenden Eintrag im Logbuch unterzeichnen.«
»Das war zweifellos keine leichte Entscheidung, Sir«, sagte Mr. Red mitfühlend.
»Ja. In der Tat.«