9
Der Stein kommt ins Rollen
Wasser spritzte Daphne ins Gesicht. Sie öffnete die Augen, und aus ihrer Kehle drang:
»… ker!«
Cahle und die alte Frau blickten lächelnd auf sie herab.
Während sich ihre Augen noch an das Licht gewöhnten und sie blinzeln musste, spürte sie, wie Mrs. Glucker ihr behutsam etwas aus dem Haar zog. Aber es geschah noch etwas anderes. Ihre letzten Erinnerungen strömten wie bei Ebbe aus ihrem Geist.
Das Gesicht des Todes… die großen Säulen der Welt… die weißen Steinblöcke… sie flohen in die Vergangenheit wie silbrige Fische und verblassten dabei immer mehr.
Sie drehte sich auf die Seite. Mau lag friedlich neben ihr und schnarchte.
Kein Grund zur Sorge, dachte sie und fühlte sich noch leicht benommen. Er war so ungeheuer kalt gewesen, und sie hatte ihn hier heraufgebracht, um ihn zu wärmen. Da war etwas… passiert. Eine Gestalt geisterte noch durch ihren Kopf, nur dass sie ihr keine Form geben konnte. Außer… »War da ein silberner Fisch?«, fragte sie sich und sprach es laut aus.
Mrs. Glucker wirkte sehr überrascht und sagte etwas zu Cahle, die lächelte und zustimmend nickte.
»Sie sagt, dass du in der Tat eine Frau mit großer Macht bist«, erklärte Cahle. »Du hast ihn aus einem dunklen Traum zurückgeholt.«
»Habe ich das? Ich kann mich nicht erinnern. Aber in dem Traum kamen Fische vor.«
Das Loch in ihrer Erinnerung war immer noch da, nachdem Cahle gegangen war, und darin schwamm immer noch ein Fisch. Jetzt war wirklich etwas Großes und Bedeutendes geschehen, und sie war sogar dabei gewesen, und nun wusste sie nur noch, dass sie von einem Fisch geträumt hatte?
Mrs. Glucker hatte sich in ihrer Ecke zusammengerollt und schien zu schlafen. Daphne war sich jedoch sicher, dass sie es nicht tat. Vermutlich schielte sie durch ihre Augenlider und lauschte so angestrengt, dass ihre Ohren sich am liebsten aufgestellt hätten. Das Interesse der Frauen an Mau und ihr war viel zu stark. Sie verhielten sich genau wie die ewig tratschenden Dienstmädchen. Es war albern und völlig überflüssig. Wirklich!
Mau wirkte auf der Matte so klein und verloren. Das Zucken hatte aufgehört, und er hatte sich eng zusammengerollt. Ihn jetzt so ruhig zu sehen, erschreckte sie fast noch mehr.
»Ermintrude«, sagte ihre Stimme aus dem Nichts.
»Ja«, antwortete sie und fügte hinzu: »Du bist ich, nicht wahr?«
»Wenn er schläft, träumt er weiter vom dunklen Wasser. Du musst ihn berühren. Ihn festhalten. Ihn wärmen. Lass ihn spüren, dass er nicht allein ist.«
Es klang wie ihre eigene Stimme, doch die Worte ließen sie erröten. Sie spürte deutlich, wie die Hitze an ihrem Hals bis zu den Wangen aufstieg. »Das wäre unziemlich«, zischte sie, ehe sie sich auf die Zunge beißen konnte. Am liebsten hätte sie laut hinterhergeschrien: »Das war ich nicht! Das war die dumme Enkeltochter irgendeiner alten Frau!«
»Wer also bist du?«, sagte die Stimme aus dem Nichts. »Ein Geschöpf, das spüren, aber nicht berühren kann? Hier? An diesem Ort? Mau ist allein. Er glaubt, dass er keine Seele hat, also baut er sich selbst eine zusammen. Hilf ihm. Rette ihn. Sag ihm, dass sich die dummen, alten Männer Irren.«
»Die dummen, alt…«, sagte Daphne und musste nicht lange nachdenken. »Die Großväter?«
»Ja! Hilf ihm, den Stein wegzurollen! Er ist das Kind einer Frau, und er weint!«
»Wer bist du?«, fragte sie.
Die Antwort kam wie ein Echo zurück: »Wer bist du?« Dann verschwand die Stimme und hinterließ nicht einmal einen Schatten in der Stille.
Darüber muss ich nachdenken, dachte Daphne. Oder vielleicht auch nicht. Nicht jetzt, nicht an diesem Ort, vielleicht denkt man mitunter wirklich zu viel nach. Denn ganz gleich, wie sehr du danach strebst, eine Daphne zu sein, ist da immer auch deine Ermintrude, die dir über die Schulter schaut. Außerdem, fügten ihre Gedanken hinzu, ist Mrs. Glucker hier, und die konnte durchaus als Anstandsdame gelten, sogar eher als der bedauernswerte Captain Roberts, der ja obendrein tot war.
Sie kniete sich neben Mau auf seine Matte. Die Stimme hatte recht gehabt. Ihm liefen tatsächlich Tränen übers Gesicht, obwohl er tief und fest zu schlafen schien. Sie küsste seine Tränen weg, weil es sich einfach richtig anfühlte, und dann versuchte sie, einen Arm unter ihn zu schieben, was sich allerdings als recht schwierig erwies. Ihr Arm schlief ein und fing so fürchterlich an zu kribbeln, dass sie ihn wieder hervorziehen musste. So viel zum Thema Romantik. Also zog Daphne ihre eigene Matte näher heran, damit sie ohne allzu große Schwierigkeiten einen Arm über ihn legen konnte, während sie ihren Kopf auf den anderen betten musste. Das war zwar etwas unbequem, doch nach einer Weile suchte seine Hand nach ihrer und hielt sie behutsam fest. In diesem Moment sank sie trotz allen Unbehagens in einen tiefen Schlaf.
Mrs. Glucker wartete, bis sie ganz sicher sein konnte, dass Daphne schlief. Dann öffnete sie ihre Hand und betrachtete den kleinen silbrigen Fisch, den sie dem Mädchen aus dem Haar gezupft hatte. Er wand sich auf ihrer Handfläche hin und her.
Und dann verschluckte sie ihn. Es war nur ein Traumfisch, aber solche Dinge waren gut für die Seele.
Daphne erwachte, als das erste Licht der Dämmerung den Himmel rosa färbte. An ihrem Körper schmerzten Muskeln, von denen sie gar nicht gewusst hatte, dass es sie gab. Wie hielten Ehepaare das nur aus? Es war ihr ein Rätsel.
Mau schnarchte leise und rührte sich kein bisschen.
Wie konnte man einem solchen Jungen helfen? Er wollte überall sein und immer alles machen. Also wird er wahrscheinlich weiterhin versuchen, mehr zu tun, als er sollte, und erneut Schwierigkeiten bekommen, woraufhin sie dann wieder alles in Ordnung bringen musste. Sie stieß einen Seufzer aus, der viel älter war als sie selbst. Natürlich war ihr Vater genauso gewesen. Oft hatte er ganze Nächte damit zugebracht, an Depeschen für das Außenministerium zu arbeiten, während ständig ein Diener bereitstand, der ihm Kaffee und Geflügelsandwiches brachte. Die Dienstmädchen hatten sich bereits daran gewöhnt, ihn morgens noch an seinem Tisch sitzend vorzufinden, im Tiefschlaf, mit dem Kopf auf einer Landkarte von Niedersidonien.
Ihre Großmutter pflegte solche Vorfälle naserümpfend mit Sätzen wie »Seine Majestät hat wohl keine anderen Minister, wie?« zu kommentieren. Aber nun konnte Daphne ihn verstehen. Genau wie Mau hatte er versucht, das Loch in seinem Innern mit Arbeit auszufüllen, damit es nicht von Erinnerungen überschwemmt wurde.
Für den Moment war sie froh, allein zu sein. Abgesehen vom Schnarchen, das Mau und Mrs. Glucker von sich gaben, waren nur der Wind und das Donnern der Brandung am Riff zu hören.
Für Inselverhältnisse galt das schon als Zustand absoluter Stille.
»Zeig uns deinen Schlüpfer!«, wehte es zur Tür herein. Ach ja, und dieser schreckliche Papagei. Der war wirklich ein Ärgernis.
Manchmal sah man ihn tagelang nicht, weil er begeistert seinen tiefen Hass auf die Pantalonvögel auslebte und mit großer Freude jede Gelegenheit nutzte, sie zu ärgern. Und immer dann, wenn man einen stillen und vielleicht sogar andächtigen Augenblick genoss, war er plötzlich wieder da und kreischte:
»Zeig uns deinen… Unterrock!«
Sie seufzte. Manchmal sollte die Welt einfach besser organisiert sein. Dann lauschte sie eine Weile und hörte, wie der Papagei endlich zum Berg davonflog.
Richtig, dachte sie, eins nach dem anderen. Also setzte sie als Erstes einen Topf mit gepökeltem Rindfleisch auf die Feuerstelle, damit es vor sich hin köcheln konnte. Sie fügte ein paar Wurzeln hinzu, von denen Cahle gesagt hatte, dass sie gut waren, und die Hälfte einer sehr kleinen, roten Chilischote. Es durfte nur eine halbe sein, weil die so scharf waren, dass Daphne sich mit einer ganzen den Mund verbrannt hätte, auch wenn Mrs.
Glucker sie sogar roh aß.
Jedenfalls schuldete sie der alten Frau jetzt eine ganze Menge vorgekautes Fleisch.
Und nun kam der große Test. Man durfte nicht zulassen, dass die Dinge nur einfach so geschahen. Wenn sie tatsächlich eine Frau mit Macht war, sollte sie das Heft in die Hand nehmen. Sie konnte nicht ewig das Geistermädchen bleiben, das von den Ereignissen herumgeschubst wurde.
Richtig. Sollte sie sich hinknien? Hier schienen die Leute so etwas nicht zu tun, aber sie wollte schließlich nicht unhöflich sein, selbst wenn sie ein Gespräch mit sich selbst führte.
Hände zusammen? Augen geschlossen? Es war so leicht, etwas falsch zu machen…
Die Botschaft kam ohne Umschweife.
»Du hast Funkel keinen Speer in die Hand gegeben«, sagte ihre eigene Stimme, noch bevor sie die Zeit gefunden hatte, sich zu überlegen, wie sie anfangen sollte. Sie dachte:
Ach, du meine Güte, wer auch immer das ist, weiß, dass ich ihn im Stillen weiterhin Funkel nenne.
»Bist du irgendein heidnischer Gott?«, sagte sie. »Ich habe darüber nachgedacht, und, nun ja, die Götter reden manchmal zu Menschen, und hier scheint es recht viele Götter zu geben. Ich will nur wissen, ob ich mit Blitz und Donner rechnen muss, das kann ich nämlich überhaupt nicht leiden. Aber vielleicht bin ich ja auch verrückt geworden und höre Stimmen. Allerdings habe ich diese Hypothese bereits verworfen, weil ich nicht glaube, dass Menschen, die wirklich verrückt geworden sind, von sich denken, dass sie verrückt sind. Daraus folgt: Wer sich fragt, ob er verrückt ist, ist nicht verrückt. Ich möchte nur wissen, mit wem ich es zu tun habe, wenn es dir nichts ausmacht.«
Sie wartete. »Äh, entschuldige, dass ich dich heidnisch genannt habe«, fügte sie hinzu.
Immer noch keine Antwort. Da sie nicht wusste, ob sie erleichtert sein sollte, beschloss sie, stattdessen ein bisschen verschnupft zu sein.
Sie hüstelte. »Na gut. Wie du meinst«, sagte sie und stand auf.
»Wenigstens habe ich es probiert. Entschuldige, dass ich deine Zeit in Anspruch genommen habe.« Sie machte sich daran, die Hütte zu verlassen.
»Wir hätten dem neugeborenen Jungen einen Speer in die Hand gegeben, damit er ein großer und starker Krieger wird und die Kinder anderer Frauen tötet«, sagte die Stimme. »So haben wir es gehalten. Der Stamm wollte es so, die Priester wollten es so, die Götter wollten es so. Und jetzt kommst du und weißt überhaupt nichts von diesen Bräuchen!«, fuhr die Stimme fort. »Also ist das Erste, was das Baby berührt, die Wärme seiner Mutter, und dann singst du ihm ein Lied über Sterne!«
Steckte sie jetzt in Schwierigkeiten? »Hör mal, das mit dem Funkel-Lied tut mir wirklich leid…«
»Das war ein gutes Lied für ein Kind«, sagte die Stimme. »Es begann mit einer Frage.«
Das alles wurde immer seltsamer. »Habe ich nun etwas falsch gemacht oder nicht?«
»Wieso kannst du uns hören? Wir werden vom Wind herum geweht, und unsere Stimmen sind schwach, aber du, ein Hosenmensch, hast unseren lautlosen Kampf gehört! Wie kann das sein?«
Hatte sie denn besonders darauf geachtet? Vielleicht hatte sie nach dem Tod ihrer Mutter und den unzähligen Stunden in der Kirche bloß nie aufgehört, nach einer Antwort zu lauschen. Voller Hoffnung hatte sie jedes Gebet gesprochen, das sie kannte, und sie hätte selbst eine geflüsterte Antwort gehört. Sie suchte gar nicht nach einer Entschuldigung. Sie hatte nicht einmal darum gebeten, die Zeit zurückzudrehen. Sie wollte nur eine Erklärung, die besser war als »Es ist der Wille Gottes«, was in der Sprache der Erwachsenen auch nichts anderes hieß als »Darum!«.
Nachdem sie lange in ihrem kalten Schlafzimmer darüber nachgedacht hatte, schienen ihr die Ereignisse durchaus einem Wunder gleichzukommen. Schließlich wütete in jener Nacht ein schrecklicher Sturm, und wenn der Arzt es früher geschafft hätte, sich ohne sein Pferd vom Blitz treffen zu lassen, dann wäre das doch wohl ein Wunder gewesen, oder nicht? Wahrscheinlich hätten die Leute das behauptet. Doch in dieser dunklen, verregneten, tosenden Nacht war es dem Blitz immerhin gelungen, ein eher kleines Pferd zwischen all den großen, windgepeitschten Bäumen zu treffen. Grenzte das nicht auch an ein Wunder? Zumindest hatte es aber fast die gleiche Form, oder?
Jedenfalls nannte man so etwas doch wohl einen »Akt Gottes«.
Sie war wirklich ausgesprochen höflich gewesen, als sie den Erzbischof danach fragte, und ihrer Meinung nach hatte ihre Großmutter komplett überreagiert, als sie wie ein wilder Pavian herumschrie und sie an den Ohren aus der Kathedrale zerrte.
Dennoch hatte sie nie aufgehört, nach einer Stimme zu lauschen, einem Flüstern oder einfach einem Wort, das dem Ganzen einen Sinn gab. Sie wollte doch nur, dass alles… geregelt war.
Sie blickte zum düsteren Dach der Hütte auf.
»Ich konnte euch hören, weil ich gut aufgepasst habe«, sagte sie.
»Dann pass gut auf, Mädchen, das jene hören kann, die keine Stimme haben.«
»Und wer seid ihr?«
»Wir sind die Großmütter.«
»Ich habe noch nie von den Großmüttern gehört!«
»Was glaubst du wohl, woher die kleinen Großväter kommen? Jeder Mann hat eine Mutter, und jede Mutter natürlich auch. Wir haben die kleinen Großväter zur Welt gebracht, ihnen Milch gegeben, ihnen den Hintern abgewischt und ihnen die Tränen weggeküsst. Wir erklärten ihnen, wie man isst und welche Nahrung ungefährlich ist, so dass sie groß und stark wurden. Wir haben ihnen die lehrreichen Lieder für Kinder vorgesungen, und dann haben wir sie den Großvätern überlassen, die ihnen zeigten, wie man die Söhne anderer Frauen tötet. Diejenigen, die darin am besten waren, wurden im Sand getrocknet und zur Höhle gebracht. Wir hingegen kehrten ins dunkle Wasser zurück, doch ein Teil von uns blieb hier an diesem Ort, wo wir geboren wurden und selbst gebären und meistens auch starben.«
»Die Großväter schreien Mau die meiste Zeit an!«
»Sie sind Echos in einer Höhle. Sie erinnern sich an die Schlachtrufe ihrer Jugend, immer wieder, wie der sprechende Vogel. Es sind keine schlechten Männer. Wir liebten sie als Söhne, Ehemänner und Väter, aber alte Männer werden wunderlich, und tote Männer bemerken nicht, dass sich die Welt weiterdreht. Die Welt muss sich weiterdrehen. Sag Mau, dass er den Stein wegrollen soll.«
Dann waren sie fort. Daphne spürte, wie sie sich aus ihrem Geist zurückzogen.
Das war einfach unmöglich, dachte Daphne. Und dann: Zumindest bis eben. Sie existieren wirklich, und sie sind immer noch hier. Ich habe sie auch gespürt, als Funkel geboren wurde, als wäre der Hain ein lebendes Wesen, das mir zur Seite steht.
Vielleicht sind manche Stimmen so alt, dass jeder sie versteht.
Langsam kehrte das Licht zurück, zunächst grau wie die Morgendämmerung. Dann hörte Daphne ein leises Geräusch ganz in der Nähe, blickte sich um und sah ein junges Mädchen, das im Eingang zur Hütte stand und sie erschrocken anstarrte. Sie konnte sich nicht an ihren Namen erinnern, weil das Mädchen erst seit ein paar Tagen auf der Insel war, und wollte sie gerade zurechtweisen, als ihr wieder einfiel, dass die Kleine zwar zusammen mit anderen Überlebenden, aber ohne irgendeinen Verwandten gekommen war. Und sie hatte das arme Kind auch noch ausschimpfen wollen!
Ganz langsam ging sie in die Hocke und streckte ihre Arme aus.
Das Kind machte den Eindruck, als wollte es jeden Augenblick die Flucht ergreifen.
»Wie ist dein Name?«
Das Mädchen blickte auf ihre Füße und flüsterte etwas, das wie »Blibi« klang.
»Das ist aber ein hübscher Name!«, sagte Daphne und zog das Mädchen behutsam näher. Als der kleine Körper von Schluchzern geschüttelt wurde, nahm sie sich vor, mit Cahle zu reden.
Jeden Tag trafen jetzt neue Leute ein, und diejenigen, um die sich eigentlich jemand kümmern müsste, kümmerten sich um andere Leute. Das war eigentlich gar nicht so schlecht, aber wenn alle genug zu essen und einen Platz zum Schlafen hatten, konnte es passieren, dass in all der Arbeit andere Bedürfnisse übersehen wurden, die genauso wichtig waren.
»Kannst du kochen, Blibi?«, fragte Daphne. Die Antwort war ein verhaltenes Nicken.
»Gut! Siehst du den Mann, der da auf der Matte liegt?« Wieder ein Nicken.
»Gut, gut. Ich möchte, dass du auf ihn aufpasst. Er war krank. Das Fleisch in diesem Topf wird gar sein, wenn die Sonne eine Handbreit über den Bäumen steht. Ich muss mir einen Stein ansehen. Sag dem Mann, dass er essen muss. Oh, und du musst auch etwas essen.«
Was soll nur aus mir werden?, fragte sich Daphne, als sie eilig den Hain verließ. Ich habe mit einem jungen Mann im selben Zimmer geschlafen, ohne dass eine offizielle Anstandsdame anwesend war (konnte sie Mrs. Glucker wirklich gelten lassen?), habe Bier gebraut, bin praktisch nackt durch die Gegend spaziert, habe Götter durch meinen Mund sprechen lassen, wie das Testikel von Delphi im antiken Griechenland, obwohl die Stimmen der Großmütter eigentlich nicht zu den richtigen Göttern zählen – und außerdem war es das Orakel von Delphi. Aber genau genommen habe ich ihn einfach gesund gepflegt, was ja wohl noch erlaubt sein wird…
Sie hielt inne und blickte sich um. Wen interessierte das schon?
Wer auf dieser Insel schert sich auch nur ein Sandkörnchen darum? Vor wem versuchte sie sich eigentlich zu rechtfertigen?
»Den Stein wegrollen?« Warum wollten bloß immer alle was von ihm? Sie hatte schon von diesem Stein gehört. Er stand in einem kleinen Tal am Hang des Berges, wo Frauen angeblich nichts zu suchen hatten.
Es gab keinen Grund, jetzt dorthin zu gehen, aber sie war wütend auf alle und wollte an der frischen Luft sein und etwas tun, womit die Leute nicht einverstanden waren. Wahrscheinlich lagen hinter dem Stein ein paar Skelette, aber was war schon dabei? In der Krypta der Kirche wurden viele ihrer Vorfahren bestattet, und die hatten nie versucht, herauszukommen und mit den Lebenden zu sprechen. Da hätte ihre Großmutter auch zweifellos ein Wörtchen mitzureden gehabt, wenn sie es denn getan hätten! Außerdem war heller Tag, und offensichtlich kamen sie nur bei Nacht heraus – abgesehen davon wäre es natürlich reiner Aberglaube, sich vorzustellen, dass sie überhaupt rauskommen könnten.
Daphne marschierte los und folgte einem ausgetretenen Pfad den Berg hinauf. Der Wald war angeblich nicht besonders groß, und der Weg führte mitten hindurch. Hier gab es keine menschenfressenden Tiger, keine riesigen Gorillas, keine wilden Echsen aus Urzeiten… alles in allem also eher langweilig. Aber in einem Wald, der nur ein paar Quadratmeilen groß war und sich in enge Täler zwängen musste, kämpfte alles, was lebte und wuchs, gegen jedes andere Lebewesen um einen Platz an der Sonne, so dass man in jede Richtung nur ein paar Fuß weit sehen konnte. Und auch am Meeresrauschen konnte man sich nicht mehr orientieren, weil es stark gedämpft wurde und sowieso aus allen Richtungen kam. Dann kam einem der Wald nicht nur sehr groß vor, sondern er schien auch noch die ganze Zeit zu wachsen. Und schließlich glaubte man, dass er einen genauso sehr hasste, wie man ihn verfluchte.
Dem Weg zu folgen war sinnlos, weil er schon bald zu hundert kleinen Pfaden wurde, die sich ständig teilten und wieder zusammenführten. Es raschelte unheimlich im Unterholz, und manchmal hörte sie Geschöpfe davongaloppieren, die nach den Geräuschen zu urteilen größer waren als Schweine, auf Pfaden, die sie nicht sehen konnte. Insekten summten und surrten um sie herum, doch sie waren längst nicht so schlimm wie diese riesigen Spinnen, die ihre Netze genau über den Pfad gespannt hatten und mittendrin lauerten. Sie waren größer als eine Männerhand, und Daphne spürte förmlich ihre mordlustigen Blicke. In einem ihrer Bücher über die Inseln des Großen Südlichen Pelagischen Ozeans hatte sie gelesen, dass »die Giftigkeit einer Spinne mit ein paar wenigen, bedauerlichen Ausnahmen – im umgekehrten Verhältnis zu ihrer Körpergröße steht«.
Daphne glaubte allerdings nicht daran. Überall entdeckte sie »bedauerliche Ausnahmen«, und sie war überzeugt, dass ihnen der Geifer bereits von den Mundwerkzeugen tropfte.
… und plötzlich wurde es vor ihr taghell. Am liebsten wäre sie sofort darauf zu gerannt, doch eine jener »bedauerlichen Ausnahmen«, die ihr Netz wie ein Trampolin benutzte, versperrte ihr den Weg. Während sie sich vorsichtig an dem Vieh vorbeizwängte, ahnte sie noch nicht, dass die Spinne ihr einen großen Gefallen erwiesen hatte. Denn am Ende des Weges schlug ihr jede Menge frische Luft entgegen, jedoch knapp dahinter gab es nichts mehr, worauf man hätte stehen können, um sie zu genießen. Hier war nur noch eine kleine Lichtung, gerade groß genug für ein paar Leute, die sich hinsetzen und die Welt bewundern wollten, doch gleich danach fiel der Felsen steil zum Meer ab.
Die Klippe war zwar durchaus steil, aber nicht ganz senkrecht.
Man würde vermutlich ein paarmal aufschlagen, bevor man irgendwann im Wasser landete.
Sie nutzte die Gelegenheit zu ein paar tiefen Atemzügen, in denen zur Abwechslung mal keine Fliegen enthalten waren. Es wäre so schön gewesen, am Horizont ein Segel zu sehen. Das hätte auch ziemlich gut an diesen Punkt ihrer Geschichte gepasst, dachte sie. Aber wenigstens war noch immer helllichter Tag. Sie hatte keine Angst vor den Geistern anderer Leute, jedenfalls keine große, aber einen abendlichen Spaziergang durch diesen Wald wollte sie tunlichst vermeiden.
Eigentlich konnte es nicht so schwer sein, den Rückweg zu finden. Sie musste einfach immer den hangabwärts führenden Pfad nehmen, sobald sie auf einen stieß. Zugegeben, bei jeder Gelegenheit den nach oben führenden Pfad zu nehmen beziehungsweise jeden, der nicht von bösartigen Exemplaren »bedauerlicher Ausnahmen« versperrt wurde, hatte nicht so gut funktioniert, aber am Ende konnte nur die Logik triumphieren.
Und so war es auch, zumindest in gewisser Weise. Denn nachdem sie ein Stück zurückgegangen und eine andere Abbiegung genommen hatte, kam sie in ein kleines Tal, das von Ausläufern des Berges umarmt wurde, und direkt vor ihr stand der Stein. Es konnte gar nichts anderes sein als »der Stein«.
Hier und dort wuchsen ein paar Bäume im Tal, aber es waren eher bemitleidenswerte, schon halbtote Geschöpfe. Der Boden darunter war mit den Hinterlassenschaften der Vögel bedeckt.
Ein Stück vor dem Stein, auf einem Dreifuß aus großen Felsblöcken, stand eine gewaltige Steinschale. Daphne lugte mit verschämter Neugier hinein, denn irgendwie war dies genau der Ort, an dem man damit rechnete, in solch einer steinernen Schale ein paar Totenschädel zu finden. Irgendwo im Gehirn gab es eine Formel, die lautete: düsteres Tal + halbtote Bäume + mysteriöser Stein = Schädel in einer Opferschale oder vielleicht auf Stöcke gespießt.
Aber noch während sie daran dachte, spürte Daphne, dass sie ungerecht gegenüber Mau und Cahle und den anderen war. In ihren alltäglichen Gesprächen kamen nie Totenschädel auf den Tisch. Und schon gar nicht während der Mahlzeiten.
Der widerliche Gestank nach saurem, klebrigem Teufelstrank stieg von der Schale auf. Das Bier roch abgestanden, aber es konnte von Anfang an nicht besonders gut gewesen sein. Sie gab es nur ungern zu, aber inzwischen war sie richtig gut im Bier machen geworden. Das sagten alle. Es ging irgendwie um den richtigen Dreh, hatte Cahle erklärt, halb mit Worten und halb mit Gesten, und da sie so gutes Bier machen konnte, durfte sie auf einen tadellosen Ehemann hoffen. Ihre künftige Heirat schien im Frauenhain ein sehr beliebtes Gesprächsthema zu sein. Es war wie in einem Roman von Jane Austen, nur mit viel weniger Kleidung.
Hier oben war es recht windig und kühler als unten. Kein Ort, an dem man sich nachts aufhalten wollte.
Nun gut, es wurde Zeit, zu sagen, was sie zu sagen hatte.
Sie baute sich vor dem Stein auf, stemmte ihre Fäuste in die Hüften und sagte: »Jetzt hört mir mal gut zu! Ich kenne mich mit Vorfahren aus! Ich habe jede Menge davon! Einer von ihnen war sogar König, also erzählt mir nichts! Ich bin wegen Mau gekommen! Er macht wunderbare Sachen und hat mehrmals sein Leben aufs Spiel gesetzt, und ihr habt für ihn kein einziges Wort des Dankes übrig! Das sind ziemlich schlechte Manieren!«
Na ja, das sind exakt die Manieren deiner Vorfahren, meldete sich ihr Gewissen. Schau dir nur an, wie ihre Porträts dich in der Langen Galerie anstarren! Und was ist mit deinem Vater, der sein ganzes Geld in das Anwesen steckt, bloß weil sein Ururururgroßvater es gebaut hat? Genau was ist eigentlich mit deinem Vater?
»Ich weiß, was mit Leuten passiert, die ständig schikaniert werden«, rief sie, diesmal sogar noch lauter. »Am Ende denken sie selbst, dass sie nichts taugen! Dann spielt es auch keine Rolle, dass sie so schwer arbeiten, bis sie an ihrem Schreibtisch einschlafen, weil es für sie immer noch nicht genug ist! Sie werden ängstlich und nervös und treffen falsche Entscheidungen, und das hat wiederum weitere Schikanen zur Folge, weil die Schikanen nie aufhören werden, ganz gleich, was sie tun. Und mein… die schikanierte Person wird alles tun, damit es aufhört, obwohl es niemals aufhören wird! Das werde ich mir nicht länger mit ansehen, habt ihr gehört? Wenn ihr euch ab sofort nicht zusammenreißt, gibt es Ärger, verstanden?«
Ich schreie gerade einen Stein an, dachte sie, als ihre Stimme vom Berg zurückhallte. Was erwarte ich eigentlich von ihm?
Dass er antwortet?
»Hört mir überhaupt jemand zu?«, brüllte sie und dachte: Und was mache ich, wenn jetzt jemand »ja« sagt? Oder mir gar mit »nein« antwortet!
Nichts geschah, was sie irgendwie ziemlich persönlich nahm.
Immerhin hatte sie große Mühen auf sich genommen, um hier heraufzusteigen.
Ich bin gerade von einer Höhle voll mit alten, toten Männern brüskiert worden.
Jemand stand hinter ihr. Jemand, den sie nicht kommen gehört hatte. Doch im Moment war sie aus allen möglichen Gründen wütend, aber vor allem auf sich selbst, weil sie einen Stein anbrüllte, und wer oder was auch immer hinter ihr stand, würde einen beträchtlichen Teil ihrer Wut zu spüren bekommen.
»Einer meiner Vorfahren hat in den Rosenkriegen gekämpft«, verkündete sie überheblich, ohne sich umzudrehen, »und in diesen Kriegen sollte man entweder eine rote oder eine weiße Rose tragen, um zu zeigen, auf wessen Seite man stand, aber mein Vorfahr hatte eine viel größere Schwäche für eine rosafarbene Rose namens Lady Lavinia, die wir noch heute auf unserem Anwesen kultivieren, so dass er schließlich gegen beide Seiten gleichzeitig kämpfte. Er hat überlebt, weil jeder glaubte, es würde Unglück bringen, einen Verrückten zu töten. Eines sollte man bei meiner Familie nie vergessen: Vielleicht sind wir Stur- und Dummköpfe, aber wir kämpfen!« Sie fuhr herum.
»Wage es nicht, dich von hin… Oh!«
Etwas machte Pnapp. Ein Pantalonvogel blickte mit einem beleidigten Zug um den Schnabel zu ihr auf. Aber das war noch gar nicht das Bemerkenswerteste, sondern vielmehr die Tatsache, dass er keineswegs allein war. Es hatten sich mindestens fünfzig dieser Vögel versammelt, und weitere kamen angeflogen. Inzwischen waren sie auch nicht mehr zu überhören, da die großen Vögel ohnehin die Aerodynamik eines Ziegelsteins hatten. Nun wurden sie von ihrem Ziel, in Daphnes Nähe zu landen, abgelenkt und stürzten in den meisten Fällen auf andere Pantalonvögel, begleitet von aufwirbelnden Federn und verärgert hackenden Schnäbeln: Pnapp-pnapp!
Die Szenerie erinnerte ein wenig an ein Schneegestöber.
Am Anfang ist alles noch Spaß und Spiel, ein Winterwunderland, und alles sieht so schön weich und harmlos aus. Und irgendwann stellt man fest, dass der Weg nicht mehr zu erkennen ist und es dunkel wird und die Schneeflocken den Himmel verdüstern…
Es war reiner Zufall, dass einer der Vögel genau auf ihrem Kopf landete und mit Krallen – wie die Finger alter Männer – in ihrem Haar Halt suchte. Sie schrie ihn an und schaffte es, ihn zu verscheuchen. Doch sie versammelten sich weiter in Scharen um sie, schubsten und pnappten sich gegenseitig an. In diesem Sturm aus Lärm, Gestank und Federn konnte Daphne kaum noch einen klaren Gedanken fassen, aber wie es aussah, ging es ihnen nicht darum, sie tatsächlich anzugreifen. Sie wollten einfach dort sein, wo sie war, wo immer das war.
Ach ja, der Gestank. Nichts stank so abartig wie eine Horde Pantalonvögel in nächster Nähe. Die Viecher verströmten nicht nur diesen gewöhnlichen knochentrockenen Vogelmief, sondern sie hatten obendrein den übelsten Mundgeruch der gesamten Tierwelt. Sie spürte ihn auf der Haut wie eine Scheuerbürste. Und die ganze Zeit pnappten sie, wobei jeder den anderen zu übertreffen versuchte, so dass sie in dem ganzen Gepnappe fast den rettenden Ruf nicht gehört hätte.
»Zeig uns deinen Schlüpfer! Einst war ich ein übler Trinker, heut bin ich ein übler Stinker!«
Die Vögel gerieten in Panik. Der Papagei war ihnen genauso verhasst wie sie ihm. Und wenn ein Pantalonvogel schnell entkommen wollte, sorgte er dafür, alles zurückzulassen, was er auf der Reise nicht gebrauchen konnte.
Daphne kauerte sich auf den Boden und hielt beide Hände über den Kopf, als ein Regen aus Knochen und Fischköpfen auf sie niederging. Vielleicht war der Lärm das Schlimmste von allem, doch aus der Nähe betrachtet, war alles am schlimmsten.
Eine goldbraune Gestalt sprang an ihr vorbei, in jeder Hand eine Kokosnuss. Sie trampelte und stolperte durch die panischen Vögel, bis sie die große Steinschale erreichte, in der wie in einer Blumenvase lauter Pantalonvögel hockten. Sie hob die Kokosnüsse hoch und schlug sie mit einer knappen, kräftigen Bewegung über der Schale zusammen.
Bier floss heraus und erfüllte die Luft mit seinem charakteristischen Aroma. Sofort drehten sich alle Schnäbel zur Schale und suchten das Bier wie eine Kompassnadel den Norden. Daphne war noch im selben Moment vergessen.
»Ich wünschte, ich wäre tot«, sagte sie zur Welt im Allgemeinen und zupfte sich kleine Knochen aus dem Haar. »Nein, ich wünschte, ich säße in einer netten, warmen Badewanne, mit Seife und richtigen Handtüchern. Und dann würde ich mir noch ein Bad wünschen, denn dieser Kopf hat mindestens zwei Bäder nötig. Erst danach möchte ich tot sein. Ich glaube, dies ist das Allerschlimmste« – sie hielt kurz inne, weil es… ja, weil es noch etwas Schlimmeres gegeben hatte, das auch für immer viel schlimmer sein würde »das Zweitallerschlimmste, was mir je zugestoßen ist.«
Mau ging neben ihr in die Hocke. »Ort nur für Männer«, sagte er grinsend.
»Ja, so sieht es hier auch aus«, erwiderte Daphne schnippisch.
Dann starrte sie Mau an. »Wie geht es dir?«
Maus Stirn legte sich in Falten, und sie ahnte schon, dass es so nicht funktionieren würde. Sie konnten sich dank Pilu und Cahle inzwischen in einer einfachen Sprache verständigen, die sich gut für alltägliche Angelegenheiten eignete, aber »Wie geht es dir?« war noch zu kompliziert, weil die Worte der Frage nicht den eigentlichen Sinn ausdrückten. Es war nicht zu übersehen, dass Mau damit seine Schwierigkeiten hatte.
»Äh, wenn ich gehe, bewege ich meine Beine abwechselnd…«, begann er, aber sie hatte schon fast mit einer solchen Antwort gerechnet.
»Das meinte ich nicht!«, sagte sie entschieden. Dann waren mehrere leise Plumpsgeräusche zu hören. Die Pantalonvögel fielen um wie ältere Damen, die am Weihnachtstag etwas zu viel Sherry genossen hatten. Daphne überlegte, ob sie sich am Bier vergiftet haben könnten, weil niemand ein Lied gesungen hatte, aber sie glaubte es eigentlich nicht. Sie hatte schon beobachtet, wie einer dieser Vögel eine ganze tote Krabbe verschlang, die tagelang in der Sonne gelegen hatte. Außerdem zitterten ihre Schnäbel leicht, und sie gaben zufriedene, leise Pnapp-pnapp-Laute von sich, während sie da so herumlagen. Sobald einer umkippte, wurde sein Platz sofort von dem nächsten durstigen Vogel übernommen.
»Das kleine Mädchen sagte, du hast von einem Stein gesprochen«, erklärte Mau. »Und dann musste ich eine Schale Fleisch essen. Sie hat darauf bestanden. Und dann kam ich her, so schnell ich konnte, aber sie kann nicht so schnell laufen.« Er zeigte in Richtung Wald. Blibi kam durch das Tal gelaufen, darauf bedacht, nicht auf schnarchende Vögel zu treten. »Sie sagte, du hast ihr gesagt, sie soll auf mich aufpassen.«
Dann warteten sie und vermieden es, sich in die Augen zu blicken. Schließlich sagte Mau: »Äh, es ist so, dass die Vögel das Bier trinken, aber der Geist des Bieres fliegt zu den Großvätern. Zumindest haben die Priester das gesagt.«
Daphne nickte. »Zu Hause haben wir Brot und Wein«, sagte sie und dachte: Oh, oh, das sollte ich lieber nicht genauer erklären. Hier gibt es Kannibalen! Das könnte… zu Verwirrungen führen.
»Aber ich glaube nicht, dass es wirklich so ist«, sagte Mau.
Daphne nickte wieder und dachte noch einmal nach. »Vielleicht sind manche Dinge nur auf bestimmte Weise wirklich«, gab sie zu bedenken.
»Nein. Das sagen die Menschen, wenn sie an Lügen glauben wollen«, entgegnete Mau ungerührt. »Und das tun sie eigentlich immer.«
Erneut folgte eine Schweigepause, in der nur der Papagei zu hören war. Nachdem seine Erzfeinde vom Teufelstrank betäubt waren, hatte er sich zwischen ihnen niedergelassen und zog ihnen nun fleißig die Hosen aus. Ordentlich rupfte er ihnen jede weiße Beinfeder einzeln aus und gab dabei ein zufriedenes, aber glücklicherweise gedämpftes Papageienschnarren von sich.
»Sie sehen ganz schön… rosa aus«, sagte Daphne, die froh war, über etwas Unverfängliches (mehr oder weniger) reden zu können.
»Erinnerst du dich… ans Laufen?«, fragte Mau nach einer Weile.
»Ja. Mehr oder weniger. Aber ich erinnere mich an Fische.«
»Silbrige Fische? Lang und dünn?«
»Wie Aale, ja!«, sagte Daphne. Federn ballten sich zu Knäuel und kullerten durch das Tal. »Also ist es wirklich passiert?« »Ich schätze schon.«
»Ich meine, war es ein Traum, oder war es wirklich?« »Mrs. Glucker sagt ja.«
»Wer ist… Mrs. Glucker?«
»Die sehr alte Frau«, erklärte Daphne. »Du meinst Mar-isgala-egisaga-gol?« »Wahrscheinlich.«
»Und was hat sie mit Ja beantwortet?«
»Deine Frage. Ich glaube, sie hat gemeint, dass es nicht die richtige Frage war. Sag mal, hat Locaha zu dir gesprochen?«
»Ja!«
»Wirklich?«
»Ja!«
»In deinem Kopf? Wie deine Träume?«
»Ja, aber ich kenne den Unterschied!«, sagte Mau.
»Das ist gut, denn die Großmütter haben zu mir gesprochen.«
»Wer sind die Großmütter?«
Blibi, sofern das ihr richtiger Name war, hatte sie eingeholt, bevor Daphne zu Ende gesprochen und Mau verstanden hatte.
Sie setzte sich zu ihren Füßen auf den Boden und spielte mit den Federn der Pantalonvögel.
Mau hob eine Feder auf und drehte sie zwischen den Fingern.
»Also mögen sie keine Krieger.«
»Sie mögen es nicht, wenn Menschen getötet werden. Genau wie du.«
»Hast du schon von den Räubern gehört?«, fragte Mau und pustete sich eine Feder aus dem Gesicht.
»Natürlich. Alle reden nur von ihnen. Sie haben große Kriegsgaleeren, deren Bordwände sie mit den Totenschädeln ihrer Feinde behängen. Ach ja, und ihre Feinde sind alle anderen.«
»Wir sind hier jetzt vielleicht dreißig Leute. Heute früh sind noch ein paar gekommen, aber die meisten können sich kaum auf den Beinen halten. Sie haben die Welle überlebt, aber sie wollten nicht darauf warten, dass die Räuber kommen.«
»Aber wir haben doch genug Kanus. Könnten wir nicht einfach nach Osten fahren?« Sie sagte es, ohne nachzudenken, und seufzte dann. »Das können wir nicht, oder?«
»Nein. Wenn wir mehr gesunde Männer und die Zeit hätten, genügend Vorräte zusammenzusuchen, könnten wir es versuchen. Aber wir hätten achthundert Meilen offenes Meer vor uns.«
»Die Schwächeren würden sterben. Und eigentlich wollten sie hier in Sicherheit sein.«
»Sie nennen diese Insel ›den Ort, wo die Sonne geboren wird‹, weil sie im Osten liegt. Sie hoffen, dass wir ihnen helfen.«
»Dann könnten wir uns doch verstecken, bis die Räuber weitergezogen sind. Roll den Stein weg, haben die Großmütter gesagt.«
Mau starrte sie an. »Damit wir uns unter den Toten verstecken? Glaubst du wirklich, dass wir das tun sollten?«
»Nein! Wir sollten kämpfen!« Sie war erstaunt, wie schnell ihr diese Worte über die Lippen kamen. Ihre Vorfahren hatten sie ihr eingegeben, all die stillen, steinernen Ritter in der Krypta. Sie würden niemals auch nur daran denken, sich zu verstecken, selbst wenn es das Vernünftigste wäre.
»Dann werde ich mir etwas überlegen«, sagte Mau. »Was meinen die Großväter dazu?«
»Ich höre sie nicht mehr. Ich höre nur… Klicken und summende Insekten.«
»Vielleicht haben die Großmütter mit ihnen geschimpft«, sagte Daphne kichernd. »Meine Großmutter hat meinen Großvater ständig ausgeschimpft. Er wusste alles, was es über das fünfzehnte Jahrhundert zu wissen gibt, aber er kam jeden Morgen ohne seine Zähne zum Frühstück herunter.«
»Sind sie ihm während der Nacht ausgefallen?«, fragte Mau verdutzt.
»Nein. Er hat sie jeden Abend herausgenommen, um sie zu reinigen. Es waren neue Zähne, die aus Tierknochen gemacht wurden.«
»Ihr Hosenmenschen könnt neue Zähne für einen alten Mann machen? Was erzählst du mir als Nächstes? Dass ihr ihm auch neue Augen geben könnt?«
»Äh… ja, tatsächlich… zumindest so etwas Ähnliches.«
»Warum seid ihr so viel klüger als wir?«
»Ich denke nicht, dass wir das sind. Ich glaube eher, dass man einfach lernen muss, neue Dinge zu machen, wenn es ein halbes Jahr lang so kalt ist. Ich schätze, wir haben unser Empire nur wegen des Wetters erobert. Alles war besser, als zu Hause im Regen zu sitzen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass einige Leute aus dem Fenster gesehen haben und dann lieber losgestürmt sind, um Indien und Afrika zu entdecken.«
»Sind das große Länder?«
»Riesige«, sagte Daphne.
Mau seufzte. »Mit den Menschen, die Steine zurücklassen.«
»Wie bitte?«
»Die Gottesanker«, sagte Mau.
»Jetzt verstehe ich Ataba. Ich denke, er glaubt gar nicht an seine Götter, sondern an den Glauben. Und er glaubt, dass die Hosenmenschen vor sehr langer Zeit hier waren.«
Er schüttelte den Kopf. »Vielleicht haben sie die Steine nur als Ballast mitgenommen. So muss es gewesen sein. Sieh dir nur die vielen Steine an, die Judy Sweet mitgebracht hat. Für euch ist es bloß wertloser Stein, für uns jedoch das Material für alle möglichen Werkzeuge. Und vielleicht haben sie uns Metall und Werkzeug gegeben, wie man Kindern Spielzeug schenkt, und wir haben Zeichen in die Steine graviert, weil wir wollten, dass sie zurückkehren. Würde es nicht genau so sein? Wir leben auf einer sehr kleinen Insel. Auf einer winzigen.«
Die Phönizier, dachte Daphne niedergeschlagen. Sie hatten sehr lange Reisen unternommen. Genau wie die Chinesen. Und was war mit den Azteken? Oder gar den Ägyptern? Manche Leute behaupten, die hätten sogar das ferne Hinteraustralien bereist. Und wer wusste schon, welche Völker bereits vor vielen tausend Jahren auf der Welt unterwegs waren? Wahrscheinlich hatte er recht. Aber er sah so traurig aus.
»Eure Nation mag eine kleine Insel sein«, sagte sie, »aber dafür seid ihr ein sehr altes Volk. Die Großmütter müssen einen Grund gehabt haben, dir zu sagen, dass du den Stein wegrollen sollst.«
Sie betrachteten den Stein, der golden im Licht des Nachmittags schimmerte.
»Ich kann mich an keinen längeren Tag als diesen erinnern«, sagte Daphne.
»Aber ich«, sagte Mau.
»Ja. Auch das war ein sehr langer Tag.«
»Wir brauchen zehn kräftige Männer, um den Stein zu bewegen«, sagte Mau nach einer Weile. »Aber so viele haben wir nicht.«
»Darüber habe ich auch schon nachgedacht«, sagte Daphne.
»Wie viele würden wir brauchen, wenn einer von ihnen Milo wäre und er eine Brechstange aus Stahl hätte?«
Es dauerte seine Zeit. Im Fels unter dem Stein war eine Furche, die ausgekratzt werden musste, und drei Baumstämme wurden in Stellung gebracht, um zu verhindern, dass die Tür nach außen kippte, wenn sie bewegt wurde. Die Sonne fiel bereits dem Horizont entgegen, als Milo mit einer sechs Fuß langen Stahlstange vor den Stein trat.
Mau musterte das Werkzeug mit niedergeschlagener Miene.
Es war nützlich, und er war froh, dass sie es hatten, aber die Stange war ein Hosenmenschenwerkzeug, ein weiteres Geschenk von der Sweet Judy. Sie waren immer noch dabei, das Schiff wie Termiten kahlzufressen.
Selbst Kanus hatten eine Seele. Das wusste jeder. Manchmal war es keine gute Seele und das Gefährt nur schwer zu manövrieren, obwohl es gut gebaut zu sein schien. Wenn man Glück hatte, besaß das Kanu eine gute Seele wie das, was er auf der Jungeninsel gebaut hatte, weil es scheinbar immer verstand, was er wollte. Die Sweet Judy hatte auch eine gute Seele, das sah er ganz deutlich. Es war eine Schande, das Schiff auseinanderzunehmen, und genauso schändlich war es, dass sie sich erneut auf Dinge von den Hosenmenschen verlassen mussten, um etwas zu bewerkstelligen. Er schämte sich fast dafür, dass er selbst eine kleine Brechstange hielt, aber diese Dinger waren einfach zu nützlich! Wer außer den Hosenmenschen hatte so viel Metall, dass sie es sich leisten konnten, daraus Stöcke zu machen?
Trotzdem waren die Brechstangen wunderbar. Damit bekam man alles Mögliche auf.
»Auf der Tür könnte ein Fluch liegen«, sagte Ataba, der hinter Mau stand.
»Kannst du erkennen, ob es so ist?«
»Nein. Aber was du tun willst, ist falsch!«
»Das sind meine Vorfahren. Ich suche ihren Beistand. Warum sollten sie mich verfluchen? Warum sollte ich mich vor ihren alten Knochen fürchten? Warum fürchtest du dich?«
»Was in der Dunkelheit liegt, sollte man in Ruhe lassen.«
Der Priester seufzte. »Aber jetzt hört mir ohnehin niemand mehr zu. Die Korallen sind voller weißer Steine, sagen die Leute. Welche sind also heilig?«
»Und? Welche?«
»Die drei alten natürlich.«
»Ihr könntet es überprüfen«, sagte Daphne einfach drauflos.
»Die Leute könnten auf jeden neuen Stein einen Fisch legen, und dann werden wir ja sehen, ob es ihnen etwas nützt. Ja, ich müsste mir dazu nur noch eine wissenschaftliche Methode…«
Sie unterbrach sich, als ihr bewusst wurde, dass alle Augen auf sie gerichtet waren. »Jedenfalls wäre es sehr interessant«, setzte sie wenig überzeugend hinzu.
»Ich habe kein Wort verstanden«, sagte Ataba, der sie mit kaltem Blick fixierte.
»Aber ich.«
Mau reckte den Hals, weil er wissen wollte, wer gesprochen hatte, und entdeckte die hohe, dürre Gestalt von Tom-ali, einem Kanubauer, der mit zwei Kindern gekommen war, einem Jungen und einem Mädchen, beide nicht seine eigenen.
»Sprich, Tom-ali«, sagte er.
»Ich würde die Götter gerne fragen, warum meine Frau und mein Sohn gestorben sind und ich nicht.« Aus der Menge kam leises Gemurmel.
Mau kannte ihn schon. Er kannte alle Neuankömmlinge.
Sie alle bewegten sich ziemlich langsam. Manche saßen einfach nur da und blickten aufs Meer hinaus. Und über allen hing ein grauer Schleier. Warum bin ich hier?, fragten ihre Gesichter. Warum ich? Bin ich ein schlechter Mensch?
Tom-ali reparierte hier die Kanus, und der Junge half ihm dabei, während sich das Mädchen im Frauenhain nützlich machte.
Manche Kinder kamen mit der neuen Situation besser zurecht als die Erwachsenen. Nach der Welle hatten sie einfach einen neuen Platz gefunden, wo man leben konnte. Doch Tom-ali hatte etwas gesagt, das viele Leute nicht hören wollten, und im Augenblick war es das Beste, ihnen etwas anderes zu geben, worüber sie nachdenken konnten.
»Jeder von uns sucht heute nach Antworten«, sagte Mau.
»Ich bitte euch alle: Helft mir dabei, den Stein zu bewegen. Niemand muss seinen Fuß in die Höhle setzen. Ich werde allein hineingehen. Vielleicht finde ich dort die Wahrheit.«
»Nein«, sagte Ataba entschieden. »Wir werden gemeinsam hineingehen und die Wahrheit finden.«
»Gut«, sagte Mau. »Dann können wir doppelt so viel finden.«
Ataba stand neben Mau, als die Männer sich bereit machten.
»Du sagst, du hättest keine Angst. Aber ich habe Angst, junger Mann, bis in die Zehenspitzen.«
»Die Wahrheit werden tote Männer sein, die dort drinnen liegen, mehr nicht«, sagte Mau. »Staub und Knochen. Wenn du dich fürchten willst, denk lieber an die Räuber.«
»Du solltest die Vergangenheit nicht so leichtfertig abtun, Dämonenjunge. Du könntest immer noch daraus lernen.«
Milo klemmte die Stange seitlich unter den Stein und zog daran. Der Stein knirschte und bewegte sich zwei Finger breit…
Sie machten langsam und vorsichtig weiter, denn der Steinblock würde jeden zerquetschen, auf den er fiel. Das Auskratzen der Furche war eine gute Idee gewesen. Der Stein rollte ohne Schwierigkeiten, bis die Hälfte des Höhleneingangs offen stand.
Mau blickte hinein. Es war nichts zu sehen. Er hatte sich alles Mögliche vorgestellt, aber nicht nichts. Der Boden war recht glatt und mit einer dünnen Staubschicht bedeckt, ein paar Käfer flüchteten in die Dunkelheit, doch das war auch schon alles, was die Höhle zu bieten hatte. Aber es führte ziemlich tief hinein.
Warum hatte er eigentlich damit gerechnet, dass ihm alte Knochen entgegenfallen würden, sobald die Tür geöffnet wurde?
Wieso sollte die Höhle randvoll damit sein? Mau hob einen kleinen Stein auf und warf ihn mit aller Kraft in die Dunkelheit.
Er prallte ziemlich lange klappernd hin und her.
»Also gut«, sagte er, und die Höhle warf seine Stimme zurück.
»Wir werden wohl doch diese Lampen brauchen, Daphne.«
Sie stand auf und hielt in jeder Hand eine Lampe von der Sweet Judy. »Eine rote und eine grüne«, sagte sie. »Die Backbord- und die Steuerbordlampe. Tut mir leid, aber wir haben kaum noch Kabinenlampen übrig, und allmählich geht uns das Öl aus.«
»Was ist denn mit der weißen Lampe, die neben dir steht?«, fragte Mau.
»Tja, das ist die Lampe, die ich mitnehmen werde«, sagte das Geistermädchen. »Und um keine Zeit mehr zu verschwenden, tun wir am besten so, als hätten wir die Sache längst ausdiskutiert und ich den Streit gewonnen.«
Noch mehr Hosenmenschendinge, dachte Mau, als er seine Lampe entgegennahm. Was meine Leute wohl benutzt haben?
Als er die niedrige Decke berührte, wusste er es. Seine Finger waren von Ruß geschwärzt.
Also Fackeln. Aus Schweinefett konnte man ganz brauchbare Fackeln machen, und wenn sie von dem Zeug genug übrig hatten, benutzten sie Fackeln, um nachts auf Fischfang zu gehen, weil die Fische dem Licht entgegenschwammen. Heute leben wir von Fisch und dem gepökelten Rindfleisch der Sweet Judy, weil es so am einfachsten ist, dachte er. Also werden wir jetzt mit dem Lampenlicht der Hosenmenschen nach unseren Toten suchen.