12
Kanonen und Politik

Mau setzte sich auf einen Götterstein. »Was glaubst du, wo Cox jetzt ist?«

»Ich hoffe, die Welle hat ihn ertränkt!«, sagte Daphne. »Ich weiß, dass ich das nicht tun sollte, aber so ist es nun mal.«

»Und du befürchtest, dass er sie überlebt hat«, sagte Mau. Es war keine Frage.

»Richtig. Ich glaube, dazu wäre mehr nötig als eine Welle. Foxlip hat behauptet, er hätte Cox getötet. Ha! Ich bin mir sicher, dass er das nur gesagt hat, um sich wichtigzumachen. Aber Polegrave erwähnte irgendwelche Kannibalenfreunde von Cox. Könnte das sein?«

»Ich weiß es nicht. Die Räuber töten, um Ruhm und Schädel zu sammeln. Du sagst, er tötet ohne Grund. Er tötet etwas, nur weil es lebt. Er kommt mir vor wie ein böser Traum, wie ein Ungeheuer. Sie wüssten vermutlich nicht, was sie mit ihm anfangen sollen.«

»Ihn am Spieß braten?«

»Das bezweifle ich«, sagte Mau. »Ein Kannibale muss sich genau überlegen, wen er isst. Ein Mann wie Milo würde sie stark machen. Pilu würde ihnen eine Stimme mit magischen Kräften geben, und von mir würden sie… Bauchschmerzen bekommen. Und wer sollte schon einen Verrückten essen wollen?«

Daphne erschauderte. »Solange sie nur mich nicht essen!«

»Nein. Sie würden niemals eine Frau essen«, sagte Mau.

»Das ist aber sehr anständig von ihnen!«

»Nein. Sie würden dich an ihre Frauen verfüttern, damit die hübscher werden.«

Es folgte eine jener Pausen, die sich gleichzeitig eiskalt und glühendheiß anfühlten. Sie war vollgestopft mit lautlosen Worten – Worten, die nicht gesagt werden sollten oder ein anderes Mal oder auf andere Weise, die gesagt werden konnten oder mussten, aber nicht gesagt werden durften, und die auf ewig in dieser Pause weiterwirbelten oder so lange, bis eines herausfiel…

»Ähem«, sagte Daphne, und all die anderen Worte verschwanden für immer. Viel später und nicht nur einmal fragte sie sich, was wohl geschehen wäre, wenn sie sich nicht für ein Wort entschieden hätte, das eindeutig von ihrer Großmutter stammte.

Und damit war es vorbei. Für manche Menschen gab es eben nur den einen richtigen Moment für das richtige Wort. Das war traurig, aber anscheinend konnte man nichts dagegen machen.

»Auf jeden Fall kann ich mir nicht vorstellen, dass er von irgendwem gegessen oder auch nur auf dem Tellerrand liegen gelassen wird«, fuhr sie hastig fort, um die letzten Echos des »Ähem« aus ihrem Kopf zu vertreiben.

»Ich bin mir sicher, der Captain hatte recht damit, dass Cox jedes Schiff in seine Gewalt bringen würde, das ihn aufliest. Der Mann ist wie eine Seuche. Es ist schon erstaunlich, was man alles tun kann, wenn es einem egal ist, wen man tötet. Und er wird töten. Die beiden wurden ganz bestimmt als Kundschafter vorausgeschickt. Und das bedeutet, dass er ein noch größeres Schiff gefunden hat.«

»Das Boot, mit dem sie gekommen sind, ist immer noch hier, aber letzte Nacht wurde ein Kanu gestohlen«, sagte Mau. »Ich glaube, wir sind nicht besonders gut darin, solche Sachen zu verstehen.«

»Ich denke nicht, dass es irgendeine Rolle spielt.«

»Stimmt. Die Räuber folgen… sie jagen die Überlebenden. Früher oder später werden sie hier eintreffen. Aber ich will…«

»Äääh«

Es war ein kleiner Junge, an dessen Namen sich Daphne nicht erinnerte. Er hüpfte auf und ab wie jemand, der nicht stören wollte, es aber irgendwann doch tun musste.

»Ja, Hoti?«, sagte Mau.

»Äh… bitte, die Leute sagen, dass ihnen bald die Dornen ausgehen, mit denen sie das große Feld umzäunen sollen«, sagte das Kind nervös.

»Lauf und sag ihnen, dass es westlich von der Höhle der Großväter viele Dornensträucher gibt.« Als der Junge losrannte, rief Mau ihm nach: »Und sag ihnen auch, dass ich gesagt habe, sie sollen viel längere Äste abschneiden. Es ist eine Verschwendung, wenn man sie zu kurz schneidet.«

»Und du musst deine Insel verteidigen«, sagte Daphne. Er reagierte, als hätte sie ihn geschlagen. »Glaubst du, dass ich das nicht tun würde, Geistermädchen? Glaubst du das wirklich?«

»Es geht nicht nur um die Menschen. Du musst auch deine Götter verteidigen!«

»Was? Wie kannst du so etwas zu mir sagen?«

»Nicht die metaphysischen… nicht die mit den Göttersteinen und den Opfern und allem, was dazugehört! Ich meine die Statuen und alles andere in dieser Höhle!«

»Die? Das sind doch nur Steine. Wertloses Zeug.«

»Nein! Sie sind nicht wertlos! Sie erzählen euch, wer ihr seid!« Sie sackte ein wenig in sich zusammen. In letzter Zeit war so viel passiert, und es hatte Daphne verletzt, dass er sie in diesem scharfen Ton »Geistermädchen« nannte. Sehr sogar.

Natürlich wurde sie von allen so genannt, manchmal sogar von Mau, und bisher hatte es sie nie gestört. Aber diesmal bedeutete es, dass sie weggehen sollte. Du bist keine von uns, Hosenmenschenmädchen.

Sie riss sich zusammen. »Du hast gar nicht hingesehen. Du hast nicht gesehen, was ich in der Höhle gesehen habe! Erinnerst du dich an Luft, Feuer und Wasser mit ihren Kugeln?

Und an die kopflose Statue?«

»Entschuldige«, sagte Mau und vergrub das Gesicht in den Händen.

»Wie bitte?«

»Ich habe dich verärgert. Ich weiß genau, wenn du verärgert bist. Dein Gesicht leuchtet, und dann versuchst du, so zu tun, als wäre nichts gewesen. Tut mir leid, dass ich laut geworden bin. Es war alles ziemlich… na, du weißt schon.«

»Ja, ich weiß.«

Nun herrschte jenes Schweigen, das immer dann eintrat, wenn Gedanken zu verworren waren, um Worte zu werden.

Bis Daphne sich räusperte. »Aber du hast die zerbrochene Statue gesehen, nicht wahr? Und den Arm, der aus dem Wasser ragte.«

»Ja. Ich habe alles gesehen«, sagte Mau, doch er beobachtete eine Frau, die auf sie zugelaufen kam.

»Nein, hast du nicht! Die Luft wurde viel zu stickig! Die zerbrochene Statue hatte ursprünglich etwas gehalten. Ich habe es gefunden, während du dich mit Ataba gestritten hast. Es war die Welt. Eine kopfstehende Welt. Komm mit und sieh es dir an.«

Sie nahm seinen Arm und zerrte ihn zum Pfad, der den Berg hinaufführte. »Alle müssen es sehen! Es ist sehr…«

»Ja, Cara?«, sagte Mau zu der Frau, die inzwischen nahe genug herangekommen war und unbedingt etwas loswerden wollte.

»Ich soll dir sagen, dass der Fluss trübe geworden ist«, sagte die Frau mit einem nervösen Seitenblick auf Daphne.

»Ein Schwein ist zu den östlichen Wiesen vorgedrungen und suhlt sich nun in der Quelle«, sagte Mau und stand auf. »Ich werde nachsehen und…«

»Du kommst mit mir!«, rief Daphne. Die Frau wich erschrocken zurück, als Daphne herumfuhr und sich an sie wandte.

»Such dir einen Stock und geh das Tal hinauf, bis du ein Schwein im Fluss findest, und dann verjagst du das Schwein mit ein paar Stockhieben. Das ist nicht besonders schwierig. Mau, du bist der Häuptling. Was ich dir zeigen will, hat nichts mit Schweinen zu tun. Es ist viel wichtiger…«

»Schweine sind auch wich…«

»Das hier ist viel wichtiger als ein Schwein! Komm jetzt mit und schau es dir an!«

Am Ende des Tages hatte es jeder gesehen, wenn auch nur für ein paar Minuten. Dadurch, dass ständig Leute in dem Tunnel auf und ab liefen, kam die Luft in Bewegung und war nun längst nicht mehr so stickig. Jede einzelne Lampe von der Judy war im Dauereinsatz.

»Die Welt«, sagte Mau und starrte sie an. »Sie ist eine Kugel? Und wir fallen nicht herunter?«

Dem Geistermädchen schienen die Worte regelrecht auf der Zunge zu brennen. »Ja, genau, und das weißt du auch! Du kennst doch die Geschichte vom Bruder, der so weit davongesegelt ist, dass er zurückkehrte, oder nicht?«

»Natürlich. Jedes Kind kennt sie.«

»Ich glaube, vor sehr, sehr langer Zeit sind die Menschen von dieser Insel um die ganze Welt gesegelt. Irgendwie habt ihr euch daran erinnert, aber im Laufe der Jahre wurde daraus eine Geschichte für kleine Kinder!«

Selbst hier unten im Dunkeln, dachte Mau. Er strich mit einer Hand über das, was Daphne »den Globus« nannte, den größten, der nun auf dem Boden lag, nachdem die Statue zerbrochen war. Imos Globus. Die Welt. Er ließ nur die Fingerspitzen über den Stein gleiten. Die Kugel reichte ihm bis zum Kinn.

Das ist also die Welt, dachte er und folgte mit den Fingern einer Linie aus schimmerndem Gold. Es gab viele von diesen Linien, und sie alle liefen in einem Punkt zusammen – oder davon fort, so als hätte ein Riese viele Speere rund um die Welt geworfen. Und er war mein Vorfahr, dachte er bei sich, als er vorsichtig das vertraute Symbol berührte, das ihm verriet, dass dies alles eben nicht von den Hosenmenschen erbaut worden war.

Sein Volk hatte diese Steine bearbeitet. Sein Volk hatte die Götter aus dem Stein gehauen.

In seiner Erinnerung hörte er den Geist von Ataba wüten:

»Das bedeutet überhaupt nichts, Dämonenjunge! Die Götter haben ihre Werkzeuge geführt!« Und Mau dachte: Aber mir bedeutet es durchaus etwas. Ja, es bedeutet mir sogar sehr viel.

»Dein Land war einmal sehr groß, bestimmt so groß wie Kreta«, sagte das Geistermädchen hinter ihm. »Ich werde dir Kreta später auf der Karte zeigen. Dein Volk hat die ganze Welt erkundet! Hauptsächlich Afrika, China und Mittelamerika, und weißt du was? Ich glaube, James Crolls Theorie zu den Eiszeiten stimmt tatsächlich! Ich habe seinen Vortrag an der Royal Society gehört. Deshalb ist so viel von Europa und Nordamerika nicht da, äh, ich meine, nicht weil er den Vortrag gehalten hat, sondern weil es von Eis bedeckt war! Weißt du, was Eis ist? Oh. Na gut, das ist, wenn Wasser sehr kalt wird. Dann wird es hart wie Kristall. Auf jeden Fall war das andere Ende der Welt ein einziger Schneeball, aber hier unten war es immer noch warm, und ihr habt erstaunliche Dinge geleistet!«

»Eis«, murmelte Mau. Er kam sich vor, als würde er auf einem unbekannten Meer segeln. Ohne Karte und ohne vertraute Gerüche, während ihre Stimme ihn berieselte. Der Globus war eine Art Karte wie die Seekarten von der Judy. Dort wo seine Insel jetzt lag und wo sich all die anderen Inseln befanden, zeigte sie ein gewaltiges Land, das in Gold dargestellt war. Die Menschen von hier waren überallhin gesegelt. Und dann… war etwas geschehen. Die Götter hatten gezürnt, wie Ataba gesagt hätte, oder die Kristallwelt der Hosenmenschen begann zu schmelzen, wie das Geistermädchen sich ausdrückte. Doch es bedeutete dasselbe. Das Meer stieg an.

Wenn er die Augen schloss, konnte er die weißen Gebäude unter dem Meer sehen. War jene große Welle plötzlich gekommen? Hatte das Land gebebt? Hatten die Berge Feuer gefangen?

Es musste ohne Vorwarnung geschehen sein, weil das Wasser anstieg und das Land zu einer Inselgruppe wurde und sich die Welt veränderte.

»Als die Welt noch nicht dieselbe war«, flüsterte er.

Er setzte sich an den Rand dessen, was alle inzwischen als den Götterteich bezeichneten. Sein Geist war über und über voller Gedanken – er brauchte einen größeren Kopf. Die… Vorfahren hatten die Milchsteine hierher gebracht und daraus Treppenstufen, Wandreliefs und Götterstatuen gemacht, vielleicht sogar aus einem einzigen Block. Und dann war da noch die zerbrochene Statue von Imo. Sein Kopf lag wahrscheinlich in den Tiefen des Teiches. Imo war ertrunken, genau wie die Welt.

Doch etwas war zurückgekehrt. Die Nation war alt, viel älter als das Riff, sagte das Mädchen. Die Menschen der Nation hatten die fernsten Meere unter namenlosen Sternen befahren.

Er blickte auf und sah namenlose Sterne. Die Lichter bewegten sich, wenn die Menschen in der Höhle umhergingen. Und das Dach glitzerte genauso wie die Statuen. Es war Glas, hatte sie gesagt. Es sah aus wie Sterne am Nachthimmel, aber es waren nicht die Sterne, die Mau kannte. Es waren Kristallsterne, Sterne eines anderen Himmels.

»Ich möchte, dass die richtigen Leute das hier sehen«, sagte Daphne hinter ihm.

»Die richtigen Leute sehen es gerade«, erwiderte Mau. Nach kurzem Schweigen hörte er das Mädchen sagen: »Entschuldigung. Ich meinte, dass es gelehrte Männer in der Royal Society gibt, die uns erklären könnten, was das alles bedeutet.«

»Sind das Priester?«, fragte Mau misstrauisch.

»Nein. Ganz und gar nicht! Einige von ihnen sind sogar entschiedene Gegner der Priester. Aber sie suchen nach Antworten.«

»Gut. Schick sie her. Aber ich weiß schon, was dieser Ort bedeutet. Meine Vorfahren wollten uns sagen, dass sie hier waren. Das ist die Bedeutung.«

Mau spürte, wie ihm die Tränen kamen, doch was sie hinaustrieb, war ein wilder, brennender Stolz. »Schick deine weisen Hosenmänner«, sagte er und versuchte, das Zittern in seiner Stimme zu unterdrücken. »Wir werden die Brüder willkommen heißen, die zum anderen Ende der Welt reisten und nach langer Zeit an den Ort zurückkehren, den sie verließen. Ich bin kein Dummkopf, Geistermädchen.

Wenn wir vor langer Zeit zu diesen Ländern gesegelt sind, hätten wir uns doch sicher dort niedergelassen, nicht wahr? Und wenn deine gelehrten Männer zu uns kommen, werden wir zu ihnen sagen: Die Welt ist eine Kugel – je weiter man segelt, desto näher kommt man der Heimat.«

Im Zwielicht konnte er Daphne kaum erkennen, aber als sie sprach, zitterte ihre Stimme.

»Ich werde dir noch etwas viel Erstaunlicheres sagen. Auf der ganzen Welt haben Menschen ihre Götter in Stein gehauen. Überall auf der Welt. Und überall haben die Menschen gesagt, dass die Planeten Götter sind.

Aber deine Vorfahren wussten von Dingen, die sonst niemand kannte. Mau, auf den Schultern des Luftgottes sitzen vier kleinere Gestalten. Das sind seine Söhne, nicht wahr? Sie veranstalteten ein Wettrennen um ihren Vater herum, und der Sieger dürfte die Frau, die im Mond lebt, freien. So heißt es im Bierlied.«

»Und was willst du mir denn sagen?«

»Wir nennen den Luftgott Jupiter. Jupiter ist ein Planet mit vier Monden, die ihn umkreisen. Ich habe sie zu Hause mit meinem Teleskop gesehen! Und dann der Saturn, den ihr Feuer nennt. Die Papierrebenfrau hat ihm die Hände an den Gürtel gefesselt, damit er ihre Töchter nicht rauben konnte, oder?«

»Auch das ist nur eine Geschichte, die wir kleinen Kindern erzählen. Ich glaube nicht daran.«

»Sie ist aber wahr. Zumindest in gewisser Weise. Ich weiß nicht, was die Papierrebenfrau zu bedeuten hat, aber der Planet Saturn ist von Ringen umgeben, und ich nehme an, sie sehen aus wie ein Gürtel, wenn man sie aus einem bestimmten Winkel betrachtet.«

»Es ist nur eine Geschichte.«

»Nein! Eine Geschichte hat man daraus erst gemacht! Die Monde gibt es wirklich! Genauso wie die Ringe! Deine Vorfahren haben sie gesehen, und ich wüsste gerne, wie. Dann haben sie sich diese Lieder ausgedacht, die Mütter ihren Kindern vorsingen! So wurde das Wissen weitergegeben, nur dass ihr gar nicht wusstet, dass es Fakten sind! Siehst du, wie die Götter glitzern? Sie sind mit winzigen Glassplittern besetzt.

Deine Vorfahren haben Glas hergestellt! Auch dazu habe ich eine Idee. Mau, wenn mein Vater kommt und mich nach Hause bringt, wird das hier die berühmteste Höhle der ganzen…«

Es war schrecklich, wie sich ihr Gesicht veränderte. Die Mimik wechselte ganz langsam von verzweifelter Aufregung zu düsterer Niedergeschlagenheit. Als würde ein Schatten über eine Landschaft ziehen.

Er fing sie auf, bevor sie stürzte, und spürte ihre Tränen auf seiner Haut. »Er wird kommen«, sagte er schnell. »Er muss viel Meer absuchen.«

»Aber er sollte den Kurs der Judy eigentlich kennen, und dies ist eine große Insel! Er hätte schon längst hier sein müssen!«

»Der Ozean ist aber noch viel größer. Und dann die Welle! Vielleicht sucht er weiter im Süden, weil er denkt, die Judy wäre gekentert. Oder im Norden, weil er denkt, du wärst mitgerissen worden. Er wird bestimmt kommen. Wir müssen uns darauf vorbereiten.«

Mau tätschelte ihren Rücken und blickte sich um. Die Kinder, die schnell das Interesse daran verloren, sich große dunkle Dinge anzusehen, die sie nicht verstanden, hatten sich um sie versammelt und beobachteten interessiert das Pärchen. Mau versuchte, sie zu verscheuchen.

Sie hörte auf zu schluchzen. »Was hatte der kleine Junge da in der Hand?«, fragte Daphne mit heiserer Stimme.

Mau winkte den Jungen heran und borgte sich dessen neues Spielzeug aus. Daphne warf einen Blick darauf und lachte. Es klang allerdings eher wie das Keuchen von jemandem, dem vor Staunen die Luft wegblieb. Mühsam stieß sie hervor: »Frag ihn bitte, woher er das hat.«

»Er sagt, Onkel Pilu hätte es ihm gegeben. Er ist im Götterteich getaucht.«

Onkel Pilu, bemerkte Daphne. Jetzt gab es auf der Insel viele Onkel und Tanten, jedoch nicht sehr viele Mütter und Väter.

»Sag dem Jungen, dass ich ihm dafür ein armlanges Stück Zuckerrohr gebe. Und er darf es so lange auslutschen, wie er mag. Ist das ein guter Handel?«

»Er grinst«, sagte Mau. »Ich glaube, er war schon überzeugt, als er nur das Wort ›Zuckerrohr‹ gehört hat.«

»Selbst ein ganzer Berg aus Zucker wäre dafür nicht genug gewesen.«

Daphne hielt die gekaufte Ware hoch. »Soll ich dir sagen, was das ist? Es wurde von jemandem gemacht, der nicht nur den Himmel beobachtet hat und zu fernen Ländern gefahren ist. Er hat auch über kleine Dinge nachgedacht, die den Menschen das Leben erleichtern könnten. Ich habe zwar noch nie gehört, dass jemand sie aus Gold gemacht hätte, aber das hier sind eindeutig falsche Zähne.«

Als sie viel älter war und ständig mit Konferenzen zu tun hatte, dachte Daphne häufig an den Kriegsrat zurück. Es war vermutlich der einzige, bei dem jemals Kinder zwischen den Teilnehmern herumgerannt waren. Zumindest war es der einzige Kriegsrat aller Zeiten, an dem Mrs. Glucker mit ihren neuen Zähnen teilnahm. Sie hatte sie Daphne aus der Hand gerissen, als sie Cahle demonstrierte, wozu das Gebiss gut war, und es war unmöglich, Mrs. Glucker etwas abzunehmen, wenn sie es nicht hergeben wollte. Es war viel zu groß für die alte Frau, und sie konnte damit bestimmt nicht essen, aber wenn sie bei Tageslicht den Mund öffnete, ging die Sonne auf.

Pilu redete die meiste Zeit, aber immer mit einem Auge auf Mau. Er sprach so schnell und intensiv, dass die Worte vor ihren Augen zu Bildern wurden, und was sie sah, war die Rede von Agincourt aus Heinrich V. oder wenigstens das, was dabei herausgekommen wäre, wenn Shakespeare klein und dunkelhäutig gewesen wäre und einen Lendenschurz statt Hosen getragen hätte – beziehungsweise Strumpfhosen in Shakespeares Fall. Aber es steckte noch viel mehr dahinter, und Pilu hatte ein wunderbares Talent zum Reden. Er begann mit der Wahrheit und hämmerte dann darauf herum und walzte sie aus, bis sie zwar sehr dünn geworden war, aber dafür wie Mrs. Gluckers neue Zähne zur Mittagszeit glänzte.

Sie waren das älteste Volk der Welt! Er erzählte ihnen, dass ihre Vorfahren Kanus erfunden hatten und damit unter neuen Himmeln gesegelt waren. Sie waren so weit gereist, dass sie wieder nach Hause gekommen waren! Und sie hatten weiter hinausgeblickt als jedes andere Volk! Sie hatten gesehen, wie die vier Söhne von Luft über den Himmel stürmten! Sie sahen, wie die Papierrebenfrau den Feuergott mit ihren Bändern gefesselt hatte! Sie bauten wundersame Werkzeuge, damals in ferner Vergangenheit, als die Welt noch nicht dieselbe war!

Aber nun kamen böse Männer! Und es waren in der Tat wahrlich böse Männer! Darum hatte Imo selbst ihnen die Sweet Judy geschickt, das erste Schiff, was jemals gebaut worden war und nun auf der großen Welle zurückgekehrt ist und all das zur Insel brachte, was sie in dieser dunklen Zeit brauchen würden, einschließlich des köstlichen, gepökelten Rindfleisches und des Geistermädchens, welches die Geheimnisse der Sterne kannte und köstliches Bier braute…

An dieser Stelle errötete Daphne und suchte Maus Blick, doch der schaute in eine andere Richtung.

Und Pilu rief laut: »Und auch mit Hilfe der Sweet Judy werden wir die Räuber über das Meer hinfortblasen!«

O nein, dachte sie, er weiß von den Kanonen! Er hat die Kanonen der Judy gefunden!

Jubel brach aus, als Pilu fertig war, und Mau wurde von den Leuten umringt.

Es hatte schon immer Kriege gegeben, auch zwischen den einzelnen Inseln. Doch soweit Daphne verstanden hatte, waren sie bisher kaum schlimmer gewesen als eine Rauferei zwischen Stallburschen und eine gute Methode, an beeindruckende Narben und Geschichten zu kommen, die man mit etlichen Übertreibungen seinen Enkelkindern erzählen konnte. Und es gab häufig Überfälle auf andere Inseln, bei denen Bräute geraubt wurden, aber da die Frauen vorher schon alles vereinbart hatten, zählten sie eigentlich nicht.

Aber… die Kanonen! Auf der Judy hatte Daphne Übungen an den Kanonen miterlebt, und selbst Cox behandelte sie mit Vorsicht. Es gab eine richtige Methode, eine Kanone abzufeuern, und viele wunderbar explosive Methoden, sich die Pulverladung selbst um die Ohren fliegen zu lassen.

Als sich die Menge um Pilu scharte und patriotische Lieder anstimmte, ging Daphne zu Mau und funkelte ihn an. »Wie viele Kanonen?«, wollte sie wissen.

»Milo hat fünf gefunden«, sagte Mau. »Wir werden sie auf dem Hügel hinter dem Strand aufstellen. Ja, ich weiß, was du sagen willst, aber die beiden Brüder wissen, wie man sie benutzt.«

»Tatsächlich? Wahrscheinlich haben sie dabei zugesehen!

Pilu glaubt, er kann lesen, aber die meiste Zeit rät er nur.«

»Die Kanonen geben uns Hoffnung. Wir wissen jetzt, wer wir sind. Wir sind keine Bettler, die außerhalb der Hosenmenschenwelt leben. Wir sind keine Kinder. Einst waren wir die mutigen Seemänner, die bis zum anderen Ende der Welt fuhren. Vielleicht haben wir sogar die Hosen getragen.«

»Äh, ich glaube, Pilu könnte damit etwas zu weit…«

»Nein, er ist klug. Hätte er den anderen die Wahrheit sagen sollen? Sollte er ihnen sagen, dass ich nicht mehr zu bieten habe als ein paar Dinge, die ich weiß, eine Handvoll Sachen, die ich vermute, und ansonsten nur noch sehr viel Hoffnung? Dass wir im Grunde schwach sind, und wenn die Räuber angreifen und ich mich irre, sich diejenigen, die am Ende des Tages noch nicht tot sind, wünschen werden, es zu sein? Das würde den Menschen nur Angst machen. Wenn eine Lüge uns stark macht, wird eine Lüge meine Waffe sein.«

Er seufzte. »Die Leute wollen mit Lügen leben. Sie schreien regelrecht danach. Hast du dir in letzter Zeit mal die Judy angesehen? Ich muss dir etwas zeigen.«

Der Pfad durch den unteren Wald war inzwischen ausgetreten.

In den vergangenen Monaten waren so viele Sachen zum Strand hinuntergeschleift worden, dass nicht einmal die rasend schnellen Ranken und gefräßigen Gräser überall mithalten konnten. An einigen Stellen bestand der Waldboden nur noch aus zerbröckelndem Stein.

»Wir holen uns einfach alles aus der Sweet Judy«, sagte Mau, während er vorausging. »Sie gibt uns Holz und Nahrung und Licht. Was würden wir ohne die Judy und ihre Fracht machen? Was könnten wir wollen, was die Judy uns nicht geben könnte?

So reden die Leute. Und nachdem unsere Götter uns im Stich gelassen haben…«

Er trat zur Seite.

Jemand hatte einen roten Fisch an die Planken des Schiffs genagelt. Dem Geruch nach zu urteilen hing er schon seit einigen Tagen dort. Und darunter waren ein Bild von einem Strichmännchen und einem Strichweibchen, ziemlich grob gezeichnet in Rot, Weiß und Schwarz. Daphne starrte die Figuren an.

»Das soll wohl ich sein, wie?«, sagte sie. »Und daneben bist du mit Captain Roberts’ Mütze.«

»Ja«, seufzte Mau.

»Die Mütze ist ganz gut gelungen«, räumte Daphne diplomatisch ein. »Woher stammt die weiße Farbe?«

»Von einer kleinen Stange aus der Werkzeugkiste«, sagte Mau mit finsterer Miene.

»Ach so, dann dürfte es Kreide sein«, sagte Daphne. »Ich vermute mal, diese vielen runden Dinger sollen Fässer sein.«

»Ja. Dies ist jetzt ein Ort der Götter. Ich habe ein paarmal gehört, wie die anderen darüber sprachen. Manche glauben, die Götter hätten ihnen die Judy zu Hilfe geschickt! Nicht zu fassen! Wer hat denn dann die Welle geschickt? Sie würden einfach alles glauben! Heute früh habe ich gehört, wie einer der Neuankömmlinge von der ›Höhle, die die Götter machten‹ sprach! Wir haben sie gemacht! Auch die Götter sind von Menschen gemacht worden. Götter aus kaltem Stein, damit wir uns in einem Schneckenhaus aus bequemen Lügen vor der Dunkelheit verstecken können. Aber wenn die Räuber kommen, werden fünf Kanonen am Strand stehen, die ebenfalls von Menschen gemacht sind! Und wenn die sprechen, werden sie keine Lügen erzählen!«

»Ihr werdet euch selbst in die Luft jagen! Diese Kanonen wurden hin und her geschleudert und über Felsen geschleift, und sie waren sowieso schon alt und rostig! Cookie sagte, sie würden wie eine Blechbanane aufplatzen, wenn man sie mit mehr als einer halben Ladung zündet. Sie werden einfach explodieren!«

»Wir werden nicht weglaufen. Wir können gar nicht weglaufen. Also müssen wir kämpfen. Und wenn wir kämpfen, müssen wir siegen. Aber wenigstens wissen wir, wie sie kämpfen werden.«

»Woher willst du das wissen?«

»Wenn die Räuber kommen, stürmen sie auf den Strand und fordern unseren Häuptling zum Einzelkampf heraus.«

»Dich? Aber du kannst doch nicht…«

»Ich habe mehr als nur einen Plan. Bitte vertrau mir.«

»Du willst die Kanone abfeuern?«

»Vielleicht. Sie verehren Locaha. Sie glauben, dass er sie beschützt. Für ihn sammeln sie Schädel. Ihm zu Ehren essen sie das Fleisch von Menschen. Sie glauben, je mehr sie töten, desto mehr Sklaven werden sie in seinem Land haben, wenn er sie zu sich holt. Sie haben keine Angst vorm Sterben. Aber Locaha macht mit niemandem Geschäfte.«

Inzwischen waren sie zum Strand zurückgekehrt, und in der Ferne trugen ein paar Männer sehr langsam eine Kanone den Pfad hinauf.

»Ich glaube, uns bleibt nicht mehr viel Zeit«, sagte Mau.

»Der Mann mit der blutenden Nase wird Cox sagen, dass wir eine Insel voller Kranker und Kinder sind und ohne irgendwelche Hosenmenschen. Abgesehen von dir.«

»Ihm ist es egal, wer getötet wird. Er hat einen Schmetterling zerschossen, erinnerst du dich?«

Mau schüttelte den Kopf. »Wie kann er nur jeden Morgen aufstehen und sich entscheiden, er zu sein?«

»Ich glaube, wenn du ihn verstehen könntest, wärst du wie er. Es liegt an ihm. Er verwandelt Menschen in Wesen, die wie er sind. So wie Foxlip. Und er sorgt dafür, dass man ihn nur töten kann, wenn man noch schlimmer ist als er. Bei Captain Roberts hätte es fast funktioniert. Pass auf, dass mit dir nicht dasselbe passiert, Mau!«

Mau seufzte. »Lass uns zurückkehren, bevor sie anfangen, uns auch noch zu vergöttern, ja?«

Sie folgten dem Weg der Kanonen, und Daphne ließ sich ein Stück zurückfallen. Selbst in diesen Hosen, die viel zu groß für ihn waren, lief Mau wie ein Tänzer. Daphne war von ihrer Großmutter ein paarmal zum Ballett mitgenommen worden, weil sie eine anständige Dame werden und keinen gottlosen Wissenschaftler heiraten sollte. Daphne langweilte sich zu Tode, und die Tänzer waren längst nicht so anmutig, wie sie sich vorgestellt hatte. Aber Mau bewegte sich, als wüsste jeder Teil seines Körpers genau, wo er war, wohin er wollte und wie schnell er sein musste, um dorthin zu gelangen. Manche Leute hätten viel Geld dafür bezahlt, nur um zu sehen, wie sich in diesem Moment die Muskeln seines Rückens bewegten. Wenn das Sonnenlicht auf seinen Schultern glänzte, konnte sie die Dienstmädchen zu Hause viel besser verstehen. Ähem.

Am nächsten Morgen feuerten sie eine Kanone ab. Die ganze Aktion bestand darin, eine sehr lange Zündschnur in Brand zu stecken und dann sofort in die entgegengesetzte Richtung zu rennen. Der Knall war mächtig beeindruckend, und die meisten Leute waren rechtzeitig wieder auf den Beinen, um das Wasser aufspritzen zu sehen, als die Kugel auf der anderen Seite der Lagune einschlug.

Doch Daphne nahm nicht an der Freudenfeier teil. Natürlich war nach Cookies Meinung alles an Bord der Judy viel zu alt und reif für den Schrotthaufen gewesen, aber sie hatte alle Kanonenrohre penibel inspiziert und festgestellt, dass sie wirklich in katastrophalem Zustand waren. Vier hatten Risse und die letzte war von innen so zerklüftet wie die Mondoberfläche. Diese Kanonen erweckten nicht den Eindruck, als wollte man sie gerne abfeuern, zumindest nicht, wenn man in der Vorstellung aufgewachsen war, dass eine Kanonenkugel vorne herauszukommen hatte. Mau wollte ihr jedoch nicht zuhören, als sie versuchte, mit ihm darüber zu reden, und sein Gesicht nahm einen Ausdruck an, den sie schon mal gesehen hatte. Damit sagte er ihr: »Lass mich in Frieden. Ich weiß, was ich tue. Alles wird gut.« Und in der Zwischenzeit hämmerten Milo und Pilu unten am Feuer geheimnisvollerweise auf leere Blechdosen aus der Kombüse der Judy ein. Sie klopften sie platt, waren aber nicht bereit, einen Grund für ihr Tun zu nennen. Ein paar Männer und ältere Jungen wurden in die Bedienung der Kanonen eingewiesen, aber da das Schießpulver zu knapp war, um sinnlos in der Gegend herumzuballern, begnügten sie sich damit, Holzstücke in den Lauf zu schieben und stolz »Burnm!« zu rufen.

Darin waren sie schon richtig gut und rühmten sich damit, wie schnell sie doch »Burnm!« rufen konnten. Daphne meinte dazu nur, dass der Feind hoffentlich genauso gut darin wäre, »Autsch!« zu schreien.

Ansonsten geschah nichts Besonderes. Bald waren sie mit dem Schweinezaun fertig und konnten somit die Felder vollständig bepflanzen. Sie begannen mit dem Bau einer neuen Hütte, die sie etwas höher am Hang errichteten. Neue Bäume wurden gepflanzt. Bei der ersten Schweinejagd seit der Welle schlitzte sich ein Mann das Bein auf. Daphne nähte die Bescherung wieder zusammen und wusch die Wunde mit Mutterbier aus, um sie zu desinfizieren. Mau hielt am Strand jede Nacht Wache, und die Unbekannte Frau war dabei häufig in seiner Nähe. Inzwischen vertraute sie den Leuten wenigstens so weit, dass sie ihren kleinen Jungen bei ihnen zurückließ. Und das war auch gut so, denn seit kurzem interessierte sie sich für Papierreben, sammelte auf der ganzen Insel die längsten Blätter und verflocht sie unermüdlich zu einem grünen Strick nach dem anderen. Und so kam es, wie es kommen musste, und die anderen Leute nannten sie nun die Papierrebenfrau.

Bei einer Gelegenheit überreichte sie feierlich Daphne ihr Baby, und Cahle machte eine Bemerkung, die Daphne nicht ganz verstand, worüber aber alle anderen Frauen lachten, also war es vermutlich so etwas wie »Es wird langsam Zeit, dass auch du eins machst!«.

Die Leute entspannten sich.

Und dann kamen die Räuber. Bei Sonnenaufgang. Sie kamen mit Trommeln und Fackelschein.

Mau rannte den Strand hinauf zu den Hütten, während er schrie: »Die Räuber kommen! Die Räuber kommen!«

Die Leute wachten auf und stolperten aufgeregt hin und her, rempelten sich gegenseitig an, während draußen das Klappern und Trommeln weiterging. Die Hunde bellten und sorgten für zusätzliches Durcheinander. Männer liefen allein oder zu zweit auf den Hügel zu den Kanonen, doch zu diesem Zeitpunkt war es bereits zu spät.

»Ihr seid alle tot«, sagte Mau.

Draußen auf der Lagune verzog sich der Nebel. Milo und Pilu hörten auf, Krach zu machen, und paddelten mit ihrem Kanu zum Strand zurück. Die Leute blickten sich verärgert um und fühlten sich verspottet. Nichtsdestotrotz schrie ein Mann auf dem Hügel, so laut er konnte »Burnm!« und machte einen sehr selbstzufriedenen Eindruck.

Später wollte Mau von Daphne wissen, wie viele Opfer es gegeben hatte.

»Also, ein Mann hat seinen Speer auf den eigenen Fuß fallen lassen«, sagte sie. »Eine Frau hat sich den Knöchel verstaucht, weil sie über ihren Hund gestolpert ist, und der Mann an der Kanone ist mit der Hand im Kanonenrohr steckengeblieben.«

»Wie in aller Welt kann man mit der Hand im Kanonenrohr steckenbleiben?«, fragte Mau.

»Offenbar hat er eine Kugel hineingeschoben, die dann zurückgerollt ist und ihm die Finger eingequetscht hat«, sagte Daphne. »Vielleicht solltest du den Kannibalen in einem Brief schreiben, dass sie lieber nicht kommen sollten. Ich weiß, du kannst nicht schreiben, aber die können ja wahrscheinlich auch nicht lesen.«

»Ich muss einfach besser auf meine Leute achten«, seufzte Mau.

»Nein!«, erwiderte Daphne. »Sag ihnen, dass sie selbst auf sich achten sollen! Sie müssen Wachen aufstellen. Ein Mann sollte immer bei den Kanonen sein. Sag den Frauen, dass sie sich genau überlegen sollen, was sie tun oder wohin sie gehen können. Ach ja, und sag den Männern, dass die schnellsten an den Kanonen eine Extraportion Bier bekommen. Bring sie dazu nachzudenken. Sag ihnen nur, was getan werden muss, und lass sie selbst herausfinden, wie es geht. So, und nun entschuldige mich, ich bin gerade beim Bierbrauen!«

Als sie wieder in ihrer Hütte war und die vertrauten Gerüche aus dem Kochtopf, vom Bier und von Mrs. Glucker ihr in die Nase stiegen, fragte sie sich, was wohl aus Cookie geworden war. Ob er die Welle überlebt hat? Denn wenn es jemand verdient hatte, dann Cookie.

Daphne hatte sehr viel Zeit in der Kombüse der Sweet Judy verbracht, weil das schließlich nur eine etwas anders gestaltete Küche war, und in Küchen fühlte sie sich irgendwie zu Hause. Außerdem war sie dort sicher. Selbst auf dem Höhepunkt der Meuterei blieben alle freundlich zu Cookie, der niemanden zum Feind hatte. Jedem Seemann, selbst einem Verrückten wie Cox, war klar, dass es nicht gut wäre, den Koch zu verärgern, der viele Gelegenheiten gehabt hätte, sich zu rächen, wie man vielleicht eines Nachts feststellen musste, wenn man über der Reling hing und sich die Eingeweide aus dem Leib würgte.

Obendrein war Cookies Gesellschaft immer angenehm, und er war schon auf allen möglichen Schiffen in alle Winkel der Weltmeere gesegelt. Und ständig bastelte er an seinem Sarg herum, den er mit an Bord gebracht hatte und der nun zum festen Bestandteil der Kombüse geworden war, auf dem sich meistens die Kochtöpfe stapelten. Es schien ihn zu überraschen, dass Daphne das alles etwas merkwürdig fand.

Vielleicht deshalb, weil das Wichtigste an diesem Sarg war, dass Cookie gar nicht beabsichtigte, darin zu sterben. Stattdessen wollte er darin leben, denn er hatte ihn so gebaut, dass er schwimmen konnte, und ihn außerdem mit einem Kiel versehen. Es machte ihm großen Spaß, ihr die praktische Inneneinrichtung zu präsentieren. Für den Fall, dass er doch darin sterben sollte, gab es sogar ein Leichentuch, doch bis zu diesem Unglückstag ließ es sich ganz unkompliziert als Segel benutzen.

Und genau zu diesem Zweck gab es zusätzlich noch einen kleinen ausklappbaren Mast. Die gepolsterten Innenwände des Sarges waren mit zwei Reihen von Taschen ausgestattet, in denen sich Schiffszwieback, Trockenfrüchte, Angelhaken (und Angelschnur), ein Kompass und Seekarten befanden und außerdem ein wunderbarer Apparat, um aus dem Meer Trinkwasser zu destillieren. Es war seine eigene kleine, schwimmende Welt.

»Die Idee habe ich von einem Harpunier, den ich kennenlernte, als ich auf einem Walfänger gearbeitet habe«, erzählte er ihr eines Tages, während er eine weitere Tasche an die Innenwand des Sarges nähte. »Er war ein Rumsäufer, aber wirklich. Hatte mehr Tätowierungen als die Schotten Dudelsäcke und die Zähne spitz gefeilt wie Dolche, aber er schleppte seinen Sarg auf jedes Schiff, mit dem er unterwegs war, damit er nach seinem Ableben eine anständige christliche Bestattung bekam und man ihn nicht in ein Stück Segeltuch wickelte und mit einer Kanonenkugel als Gesellschaft über Bord warf. Ich habe lange darüber nachgedacht – die Grundidee war gut, aber sie konnte noch an einigen Stellen verbessert werden. Jedenfalls blieb ich nicht lange auf dem Schiff, weil ich Würmer bekam, bevor wir das Kap umfuhren und deshalb in Valparaiso an Land gehen musste. Wahrscheinlich war die Krankheit letztlich ein Segen für mich, denn ich nehme an, dass dieses Schiff einem bösen Ende entgegenfuhr. Ich habe ja schon einige verrückte Captains gesehen, aber dieser war völlig durchgeknallt. Und du kannst dich darauf verlassen: Wenn der Captain verrückt ist, ist es auch das Schiff. Ich frage mich oft, was aus den Leuten wohl geworden ist.«

Daphne schloss die Zubereitung des Mutterbieres ab und ging dann den Hang hinunter, bis sie den kleinen bröckelnden Felsen sah, von dem aus man den ganzen Strand überblicken konnte. Mau war dort, zusammen mit den Kanonieren. Und aus unerfindlichem Grund stand auch die Papierrebenfrau dabei.

Die Kanonen waren nutzlos, dachte sie. Das muss ihm doch klar sein. Also was sollte das alles? Aus der Ferne hörte sie jemanden »Bumm!« schreien und seufzte…

Zwei der Hüter des Letzten Ausweges eilten an Deck und traten zum Captain an die Reling.

»Was gibt es so Dringendes?«, fragte Mr. Black. »Wir können doch noch gar nicht in der Nähe der Muttertagsinseln sein, oder?«

»Der Ausguck meldet, er hätte gesehen, wie eine Leuchtkugel abgefeuert wurde«, sagte der Captain mit dem Fernrohr am Auge. »Eine arme Seele, die Schiffbruch erlitten hat, wage ich zu behaupten. Da ist eine Insel. Sie ist nicht auf den Karten eingezeichnet. Theoretisch benötige ich Ihre Erlaubnis, den Kurs zu ändern.«

»Natürlich müssen Sie… den Kurs ändern, Captain«, sagte Mr. Black. »In der Tat, und wie mir scheint, haben Sie es bereits getan.«

»So ist es, Sir«, sagte der Captain vorsichtig. »Das Meer hat seine eigenen Gesetze.«

»Gut gemacht, Captain. Ich sollte auf Ihren Rat hören.« Es folgte ein Moment des Schweigens, weil vorsichtshalber niemand die Tochter des Königs erwähnte.

»Ich bin mir sicher, dass Roberts für ihre Unversehrtheit gesorgt hat, Sir«, sagte der Captain und sah sich noch einmal sorgfältig die entfernte Insel an.

»Sehr freundlich, dass Sie das sagen.«

»Unterdessen«, fuhr der Captain munter fort, »haben wir es hier mit einem schiffbrüchigen Seemann zu tun, der offensichtlich großes Glück hatte. Und es könnte sein, dass schon jemand anderer die Insel dort drüben entdeckt hat. Ich sehe ein Feuer und einen Mann, der seine Angelschnur von einem…«

Er hielt inne und stellte das Fernrohr schärfer. »Nun, ich muss sagen, dass es den Anschein erweckt, als säße er in einem Sarg…«

Am nächsten Tag wurde kein Alarm geschlagen, aber am übernächsten. Und Mau fand, dass es diesmal gut lief. Jeden Morgen wurden die Leute immer besser darin, »Burnm!« zu rufen.

Und jeden Tag fragte sich Daphne, was Mau wohl wirklich im Schilde führen mochte.