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Die Seuche

Der Schnee fiel so dicht, dass er in der Luft zarte Schneebälle bildete, die zerstoben und schmolzen, sobald sie auf den Pferden landeten, die in einer Reihe am Kai standen. Es war vier Uhr morgens, und Captain Samson hatte noch nie erlebt, dass am Kai eine solche Betriebsamkeit herrschte. Die Fracht flog förmlich aus dem Schiff, und die Kräne strengten sich an, die Ballen so schnell wie möglich an Land zu hieven. Das ganze Schiff roch schon nach Desinfektionsmittel – es stank nach dem Zeug. Jeder, der an Bord kam, war so sehr damit getränkt, dass es bereits aus den Stiefeln schwappte. Aber das war offenbar immer noch nicht genug. Manche Leute hatten an Bord mit großen, schweren Sprühkanistern herumgespritzt und über alles einen rosafarbenen Säurenebel gelegt.

Es gab nichts, was er dagegen hätte tun können. Der Vertreter der Reederei stand auf dem Kai und hielt die Dokumente mit seinen Anweisungen in den Händen. Aber Captain Samson wollte es trotzdem versuchen.

»Glauben Sie wirklich, dass wir ansteckend sind, Mr. Blezzard?«, bellte er dem Mann auf dem Kai zu. »Ich kann Ihnen versichern…«

»Soweit wir wissen, sind Sie nicht ansteckend, Captain«, tönte der Vertreter durch sein riesiges Megafon zurück. »Es ist nur zu Ihrem eigenen Wohl, und ich muss Sie und Ihre Männer erneut ermahnen, auf keinen Fall das Schiff zu verlassen.«

»Wir haben Familien, Mr. Blezzard!«

»Völlig richtig, und man kümmert sich bereits um sie. Glauben Sie mir, Captain, Ihre Verwandten können sich glücklich schätzen – und Sie ebenfalls, wenn Sie den Anweisungen Folge leisten. Bei Sonnenuntergang müssen Sie nach Port Mercia zurückkehren. Ich kann gar nicht oft genug betonen, wie wichtig das ist.«

»Unmöglich! Das liegt am anderen Ende der Welt! Wir sind erst vor wenigen Stunden eingetroffen! Wir brauchen dringend Lebensmittel und frisches Wasser!«

»Sie werden Segel setzen und sich im Kanal mit der Maid of Liverpool treffen, die soeben aus San Francisco zurückgekehrt ist. An Bord befinden sich Mitarbeiter der Reederei. Die werden Ihnen alles geben, was Sie brauchen, und dafür sorgen, dass Sie über ausreichend Proviant und Besatzung verfügen!«

Der Captain schüttelte den Kopf. »Das genügt einfach nicht, Mr. Blezzard. Was Sie von uns verlangen… ist zu viel! Ich… großer Gott, ich brauche überzeugendere Argumente als ein paar Worte, die mir durch ein Blechrohr zugebrüllt werden!«

»Ich glaube, dass meine Worte Sie hinreichend überzeugen dürften, Captain. Erlauben Sie, dass ich an Bord komme?«

Der Captain kannte diese Stimme. Es war die Stimme Gottes – oder zumindest beinahe.

Doch im Gegensatz zur Stimme erkannte er den Sprecher kaum wieder, der am Fuß des Landungssteges stand. Was vermutlich daran lag, dass er mit einer Art Vogelkäfig bekleidet war. Wenigstens sah das Ding auf den ersten Blick so aus. Dann bemerkte er, dass es sich um ein feines Metallgitter handelte, das mit dünner Gaze überzogen war. Der Mann bewegte sich in einer schimmernden Wolke aus Desinfektionsmittel.

»Sir Geoffrey?«, sagte der Captain, um letzte Gewissheit zu erlangen, während der Mann langsam über den feucht glänzenden Landungssteg heraufkam.

»In der Tat, Captain. Ich muss mich für diese Gewandung entschuldigen. Aus offenkundigen Gründen wird sie als Heilanzug bezeichnet. Der ist nötig, um Sie zu schützen. Die Russische Grippe wütet schlimmer, als Sie sich vorstellen können! Wir glauben, dass wir das Gröbste überstanden haben, aber sie hat einen hohen Blutzoll gefordert… in allen Gesellschaftsschichten. In allen, Captain. Das können Sie mir glauben.«

Die Art und Weise, wie der Direktor »allen« betonte, ließ den Captain zögern.

»Ich hoffe doch, dass Seine Majestät nicht… nicht…« Er verstummte, da er nicht in der Lage war, den Satz zu beenden.

»Nicht nur Seine Majestät, Captain. Ich sagte: ›schlimmer, als Sie sich vorstellen können‹, erklärte Sir Geoffrey, während rote Desinfektionsflüssigkeit von seinem Schutzanzug tropfte und sich wie eine Blutlache auf dem Deck sammelte. »Hören Sie mir zu. Dieses Land versinkt nur deshalb nicht völlig im Chaos, weil die meisten Menschen viel zu viel Angst davor haben, vor die Tür zu gehen. Als Direktor der Reederei befehle ich Ihnen – und als alter Freund flehe ich Sie an –, zum Wohle des Imperium schnell wie der Teufel nach Port Mercia zu segeln und den Gouverneur aufzusuchen. Dann werden Sie… Ah, da kommen Ihre Passagiere. Hier entlang, meine Herren!«

Zwei weitere Kutschen hatten im Gewimmel auf dem Hafenkai angehalten, und fünf verhüllte Gestalten kamen den Landungssteg herauf. Sie trugen zu zweit stattliche Kisten, die sie auf dem Deck abstellten.

»Wer sind Sie, Sir?«, wandte sich der Captain an einen der Fremden.

»Das braucht Sie nicht zu interessieren, Captain«, antwortete dieser.

»Ach, tatsächlich?« Captain Samson drehte sich zu Sir Geoffrey um und hob beschwörend die Hände. »Himmelarsch, Direktor! Wenn ich mal so sagen darf. Habe ich der Reederei nicht über fünfunddreißig Jahre lang treue Dienste geleistet?

Ich bin der Captain der Cutty Wren, Sir! Ein Captain muss nicht nur sein Schiff kennen, sondern auch alles, was sich an Bord befindet! So lasse ich mich nicht abspeisen! Wenn Sie mir nicht mehr vertrauen, werde ich dieses Schiff sofort verlassen!«

»Bitte regen Sie sich nicht auf, Captain«, sagte Sir Geoffrey und wandte sich dann an den Anführer der Neuankömmlinge.

»Mr. Black? An der Loyalität des Captains besteht nicht der geringste Zweifel.«

»Ja, ich habe etwas vorschnell reagiert. Entschuldigen Sie, Captain«, sagte Mr. Black. »Aber wir müssen Ihr Schiff aus Gründen höchster Dringlichkeit requirieren. Deshalb der bedauernswerte Mangel an Umgangsformen.«

»Kommen Sie von der Regierung?«, fragte der Captain kurz angebunden.

Mr. Black sah ihn erstaunt an.

»Von der Regierung? Wohl kaum. Unter uns gesagt, ist von der Regierung im Augenblick nicht mehr viel übrig, und das, was noch vorhanden ist, hat sich in Kellern verkrochen. Nein, offen gestanden, die Regierung hat es schon immer für das Beste befunden, nicht allzu viel über uns zu wissen. Und Ihnen möchte ich raten, es damit genauso zu halten.«

»Ach, wirklich? Ich bin nicht erst seit gestern auf der Welt, wissen Sie?«

»Ich weiß, Captain. Sie wurden vor fünfundvierzig Jahren als zweiter Sohn von Mr. und Mrs. Bertie Samsan geboren und auf den Namen Ihres Großvaters Lionel getauft«, sagte Mr. Black, während er seelenruhig sein Gepäck abstellte.

Wieder zögerte der Captain. Irgendwie klang das wie die Einleitung zu einer Drohung, aber der Umstand, dass keine direkte Drohung folgte, machte die Situation aus irgendeinem Grund noch unangenehmer.

»Trotzdem… für wen arbeiten Sie?«, stieß er schließlich hervor. »Ich wüsste gern, mit wem ich segeln soll.«

Mr. Black richtete sich auf. »Wie Sie wünschen. Wir sind als die Hüter des Letzten Ausweges bekannt. Wir dienen der Krone. Genügt Ihnen das?«

»Aber ich dachte, der König sei…« Der Captain stockte, weil er dieses schreckliche Wort nicht aussprechen wollte.

»Der König ist tot, Captain Samsan, aber nicht die Krone. Sagen wir also, dass wir… einem höheren Ziel dienen. Und aus diesem Grund erhalten Ihre Männer das Vierfache der üblichen Heuer und zehn Guineen zusätzlich für jeden Tag, den wir über die übliche Reisezeit hinaus benötigen, um nach Port Mercia zu fahren, und noch einmal hundert Guineen für die Rückfahrt.

Des Weiteren erhöhen sich die Chancen auf eine Beförderung für jeden Seemann und jeden Offizier an Bord dieses Schiffes.

Natürlich dürfen auch Sie, Captain, eine Ihrem Rang angemessene höhere Entlohnung erwarten. Und da uns zu Ohren gekommen ist, dass Sie beabsichtigen, sich in Bälde zur Ruhe zu setzen, verspürt die Krone zweifelsohne das Bedürfnis, Ihnen auf traditionelle Weise ihre Dankbarkeit zu zeigen.«

Hinter ihm räusperte sich Sir Geoffrey und sprach gleichzeitig: »Ähemmritterschlaghämm.«

»Ich bin überzeugt, dass Mrs. Samson das gefallen würde«, sagte Mr. Black.

Es war die reinste Folter. Captain Samson sah schon lebhaft vor sich, was passieren würde, wenn Mrs. Samson erfuhr, dass er die Chance vertan hatte, sie zu Lady Samson zu machen. Er wollte gar nicht genauer darüber nachdenken. Er starrte den Mann an, der sich Mr. Black nannte, und sagte leise: »Worum geht es? Soll etwas verhindert werden?«

»Ja, Captain. Ein Krieg. Der Thronerbe muss innerhalb von neun Monaten nach dem Tod des Monarchen englischen Boden betreten. So steht es in der Magna Charta beziehungsweise im Kleingedruckten, das heißt im winzig klein Gedruckten. Die Barone wollten keinen zweiten Richard Löwenherz, verstehen Sie? Und nachdem nun bedauerlicherweise ein infizierter Kellner zum Geburtstag des Königs die Suppe aufgetragen hat, halten sich die zwei nächsten Erbfolger auch noch irgendwo an den Gestaden des Großen Südlichen Pelagischen Ozeans auf. Ich denke, das dürfte Ihnen bekannt sein, Captain.«

»Ah, jetzt verstehe ich! Das ist also in diesen Kisten!«, sagte der Captain und zeigte darauf. »Englische Erde! Wenn wir ihn finden, setzt er seinen Fuß darauf, und dann rufen wir alle ›Hurra!‹.«

Mr. Black lächelte.

»Sehr gut, Captain! Ich bin beeindruckt! Aber leider wurde auch schon an diese Möglichkeit gedacht. Es gibt nämlich noch eine Unterklausel. Sie verlangt, dass der englische Boden fest mit England verbunden sein muss. Wir können die Thronfolge außerhalb von England erklären und den Mann nötigenfalls sogar krönen, aber trotzdem ist es erforderlich, dass er innerhalb des genannten Zeitraums nach England zurückkehrt, damit die Erklärung rechtsgültig wird.«

»Nun, Mr. Black, ich dachte, ich wüsste alles über die Magna Charta, aber von solchen Klauseln habe ich noch nie gehört«, sagte Sir Geoffrey.

»Richtig, Sir«, bestätigte der Hüter des Letzten Ausweges geduldig. »Das liegt daran, dass sie in der ratifizierten Version stehen. Sie glauben doch nicht, dass Barone, die kaum in der Lage waren, ihren Namen zu schreiben, ein vollständiges Kompendium vernünftiger Gesetze zusammenstellen konnten, auf deren Grundlage ein großes Land für den Rest der Geschichte regiert werden sollte! Ihre Berater hatten einen Monat später die komplette, praktikable Fassung der Magna Charta erstellt. Sie ist siebzigmal so umfangreich, aber sie ist narrensicher. Bedauerlicherweise besitzen die Franzosen eine Kopie davon.«

»Warum?«, fragte der Captain. In diesem Moment hielt eine weitere Kutsche vor dem Landungssteg. Sie wirkte kostbar, und auf der Tür prangte ein Wappen.

»Weil, Captain – wenn Sie Ihren Auftrag nicht erfolgreich zu Ende führen, sehr wahrscheinlich ein Franzose zum König von England gekrönt würde«, sagte Mr. Black.

»Was?«, rief der Captain und vergaß für einen Moment die neu eingetroffene Kutsche. »Das würde sich doch niemand bieten lassen!«

»Wunderbare Menschen, die Franzosen, wunderbare Menschen«, sagte Sir Geoffrey hastig und winkte. »Waren erst kürzlich unsere Verbündeten bei den unerfreulichen Ereignissen auf der Krim und so weiter, aber…«

»Ach, in diesem Punkt sind wir die engsten Verbündeten der französischen Regierung, Sir«, sagte Mr. Black. »Trotzdem wünscht sich niemand, dass noch einmal ein Franzose irgendeinen Thron besteigt. Das wäre nicht gut für unsere gallischen Brüder. Dennoch gibt es Kreise in Frankreich, die ein solches Ansinnen hegen, und deswegen erachten wir es für alle Beteiligten als das Beste, wenn unser neuer Monarch mit geringstmöglichem Aufwand und größtmöglicher Eile nach England gebracht wird.«

»Die haben ihren letzten König ermordet!«, rief Captain Samson, der die Gelegenheit, sich aufzuregen, nicht ungenutzt verstreichen ließ. »Mein Vater hat bei Trafalgar gegen sie gekämpft! So etwas darf nicht noch mal geschehen, Sir, um keinen Preis! Und damit spreche ich auch für meine Männer, Sir! Wir werden erneut den Rekord für die Hin- und Rückfahrt brechen!« Er blickte sich zu Sir Geoffrey um, doch der Direktor war den Steg hinuntergeeilt und kümmerte sich eifrig um zwei verhüllte Gestalten, die aus der Kutsche gestiegen waren.

»Sind das etwa… Frauen?«, fragte der Captain, während sie das Deck der Cutty Wren betraten und an ihm vorbeischritten, als wäre er ohne jede Bedeutung.

Mr. Black schüttelte etwas Schnee von seinem Umhang. »Die kleinere ist eine Magd, und demzufolge dürfte sie wohl eine Frau sein. Die größere, die Ihr Direktor gerade so beflissen umsorgt, ist eine wichtige Anteilseignerin Ihrer Reederei und – was noch viel wichtiger ist – die Mutter des Thronerben. Sie ist in der Tat eine Lady, obwohl meine begrenzte Erfahrung mit ihr darauf hindeutet, dass sie überdies eine Mischung aus Königin Boudicca ohne den Streitwagen, Katharina von Medici ohne die vergifteten Ringe und dem Hunnen Attila ohne seinen wunderbaren Sinn für Humor ist. Lassen Sie sich auf kein Kartenspiel mit ihr ein, weil sie wie ein Falschspieler vom Mississippi betrügt, geben Sie ihr keinen Sherry, und tun Sie ansonsten alles, was sie sagt. Dann werden wir diese Fahrt vielleicht überleben.«

»Eine Frau mit scharfer Zunge, wie?«

»Rasiermesserscharf, Captain. Nebenbei bemerkt, es könnte sein, dass wir unterwegs die Tochter des Thronerben einholen. Glücklicherweise hatte sie die Reise zu ihrem Vater bereits angetreten, bevor die Seuche ausbrach. Sie soll heute mit dem Schoner Sweet Judy von Kapstadt abreisen und wird über Port Advent schließlich nach Port Mercia gelangen. Der Captain ist Nathan Roberts. Ich glaube, Sie kennen ihn.«

»Was? Der alte ›Halleluja‹ Roberts? Er treibt sich immer noch auf hoher See herum? Ein guter Mann, wohlgemerkt, einer der besten, und die Sweet Judy ist ein sehr schmuckes Schiff. Das Mädchen ist in besten Händen, darauf können Sie sich verlassen.« Der Captain lächelte. »Allerdings hoffe ich, dass sie Choräle mag. Ich wüsste zu gern, ob seine Besatzung immer noch zum Fluchen im Frachtraum den Kopf in ein Wasserfass stecken muss.«

»Ein äußerst religiöser Mann, wie es scheint«, sagte Mr. Black, als sie sich auf den Weg zur warmen Hauptkajüte machten.

»Nur ein bisschen, Sir, nur ein kleines bisschen.«

»Wie groß ist im Fall von Captain Roberts ein ›kleines bisschen‹?«

Captain Samson grinste. »Ach, nur etwa so groß wie Jerusalem…«

Am anderen Ende der Welt brannte die See, heulte der Wind und brüllte die Nacht, die über der Tiefe lag.

Es musste schon ein ungewöhnlicher Mann sein, der sich aus dem Stand einen Choral ausdenken konnte, aber Captain Roberts war ein solcher Mann. Er kannte jeden Choral im Gesangbuch der alten und neuen geistlichen Lieder und sang sie alle laut und fröhlich vor sich hin, wenn er Wache hatte, was einer der Gründe für die Meuterei gewesen war.

Und nun, als das Ende der Welt nahte und das Firmament auch bei Tagesbeginn finster blieb, als die Feuer der Apokalypse herabregneten und die Takelage in Brand setzten, fesselte sich Captain Roberts ans Schiffsruder. Das Meer hob sich unter ihm, und er spürte, wie die Sweet Judy in den Himmel geschleudert wurde, als hätte eine allmächtige Hand sie ergriffen.

Über ihm herrschten Blitz und Donner. Hagel prasselte auf seinen Hut. Elmsfeuer glühte an den Spitzen der Masten und knisterte im Bart des Captains, als er mit kräftigem Bariton ein Lied anstimmte. Jeder Seemann kannte den Text: »Ewiger Vater, mein Unterpfand, dessen Arm die rastlosen Wellen band«, brüllte er in den Sturm, und die Judy balancierte wie eine Ballerina auf der rastlosen Welle. »Der dem mächtigen Meer gebot, auf dass ende Leid und Tod.«

Wie schnell mochte das Schiff wohl sein, fragte er sich, als die Segel rissen und davonflatterten. Die Welle war kirchturmhoch, aber sie raste schneller als der Wind! Darunter sah er kleine Inseln, die verschwanden, sobald die Welle über sie hinwegrauschte. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, die Lobpreisung des Herrn zu unterbrechen!

»Erhör des Seemanns Notgebet, wenn er in Stürmen zu dir fleht«, beendete er das Lied und starrte geradeaus.

Direkt vor ihm kam etwas Riesiges und Dunkles unaufhaltsam näher. Ein Ausweichmanöver war nicht mehr möglich. Dazu war das Etwas zu groß, und das Ruder hätte ihm ohnehin nicht gehorcht. Dass er es immer noch umklammerte, war ein Ausdruck seiner Hoffnung, dass Gott ihn nicht im Stich lassen würde, solange er seinem Schöpfer nur zeigte, dass er fest an Ihn glaubte. Er drehte das Ruder herum, während er die nächste Strophe anstimmte. Ein Blitz erhellte einen Weg durch die rastlose Welle, und dort, im Licht des brennenden Himmels, sah er eine Lücke, ein Tal oder eine Schlucht in der Felswand – wie die wundersame Teilung des Roten Meeres, dachte Captain Roberts, allerdings andersherum.

Der nächste Blitz offenbarte ihm, dass die Felsschlucht bewaldet war. Doch die Welle würde in Höhe der Baumwipfel darüber hinwegströmen. Dadurch müsste ihre Kraft gebrochen werden. Vielleicht wurden sie doch noch gerettet, obwohl sie bereits in den Abgrund der Hölle blickten. Dann ging es los…

Und so kam es, dass der Schoner Sweet Judy durch einen Regenwald segelte, was Captain Roberts zu ungeahnter Kreativität inspirierte und ihn eine neue Strophe dichten ließ, die unerklärlicherweise in der Originalhymne fehlte. »Macht’st die Berge aus der Erde Haut, hast die Säulen des Himmels erbaut.« Er war sich nicht ganz sicher, ob »macht’st« eine gute Wahl gewesen war, aber im Moment fiel ihm nichts Besseres ein. »Eb’nen und Wälder erschuf deine Hand…« Äste brachen laut wie Pistolenschüsse unter dem Kiel, und dicke Lianen wickelten sich um die Reste der Masten.

»… machtest zum Garten das weite Land.« Blätter und Früchte regneten auf das Deck, und eine heftige Erschütterung bedeutete, dass ein Baum den Rumpf aufgerissen und das Schiff um den Ballast erleichtert hatte. »Wir bitten dich, dass an den Küsten…« Captain Roberts packte das nutzlos gewordene Ruder fester und lachte in die brüllende Finsternis. »… die Stürme nicht uns’re Schiffe verwüsten.«

Plötzlich schossen drei gigantische Baumriesen auf ihn zu, deren Stelzwurzeln jahrhundertelang den Zyklonen standgehalten hatten. Captain Roberts’ letzter Gedanke war: Vielleicht wäre Schufst die Berge aus der Erde Haut in Anbetracht der Umstände eine bessere Wahl gew…

Captain Roberts kam in den Himmel, womit er nicht unbedingt gerechnet hatte, und als das zurückfließende Wasser das Wrack der Sweet Judy behutsam auf dem Waldboden absetzte, war an Bord nur noch eine einzige Seele am Leben. Oder vielleicht auch zwei, sofern man ein Herz für Papageien hatte.

Am Tag, als die Welt endete, befand sich Mau auf dem Heimweg. Er hatte eine Strecke von über zwanzig Meilen zurückzulegen. Aber er kannte den Weg sehr gut. Wer den Weg nicht kannte, war kein Mann. Und er war ein Mann… zumindest fast. Immerhin hatte er einen Monat auf der Insel der Jungen gelebt, oder nicht? Allein dort zu überleben, machte einen zum Mann!

Überleben… und auch wieder heimkehren.

Niemand erzählte jemals etwas über die Jungeninsel.

Nichts Brauchbares jedenfalls. Man schnappte hin und wie der ein paar Kleinigkeiten auf, aber eine Sache lernte man sehr schnell: Bei der Jungeninsel ging es hauptsächlich darum, wieder von dort wegzukommen. Dort ließ man seine Jungenseele zurück und erhielt eine Männerseele, wenn man es schaffte, zur Nation zurückzukehren.

Und man musste zurückkehren, weil sonst etwas Schreckliches geschah: Wem es innerhalb von dreißig Tagen nicht gelang, wurde eingefangen, und dann konnte man nie mehr zum Mann werden, jedenfalls nicht richtig. Die Jungen sagten, es wäre besser zu ertrinken, als eingefangen zu werden.

Jeder wusste, dass man wahrscheinlich nie eine Frau bekam, wenn man versagte, und wenn man doch eine bekam, dann wäre es eine von denen, die kein richtiger Mann haben wollte, eine mit schlechten Zähnen und stinkendem Atem.

Mau hatte wochenlang wachgelegen und sich deswegen den Kopf zerbrochen. Man durfte nur sein Messer mit auf die Insel nehmen, und er bekam Albträume bei der Vorstellung, in nur dreißig Tagen ein Kanu zu bauen – mit nur einem Messer. Das war nicht zu schaffen. Aber alle Männer der Nation hatten es geschafft, also musste es ja einen Weg geben.

Und bereits am zweiten Tag auf der Insel der Jungen entdeckte er diesen Weg.

Im Mittelpunkt der Insel gab es einen Gottesanker, einen Steinwürfel, der halb im Boden steckte. Er war von dicken Lianen überwuchert und teilweise in einen großen Tabagobaum eingewachsen. Zeichen der Kindersprache waren tief in die trockene Rinde eingeritzt: MÄNNER HELFEN ANDEREN MÄNNERN. Gleich daneben steckte ein alaki im Holz, ein gekrümmter schwarzer Stein mit langem Griff. Wenn man ihn so herum hielt, war er eine Axt.

Hielt man ihn andersherum, war er ein Dechsel, mit dem sich wunderbar ein Baumstamm aushöhlen ließ.

Er zog die Axt aus dem Baum und lernte seine Lektion.

Viele andere Jungen hatten das Gleiche getan. Eines Abends kletterte Mau auf den Baum und fand hunderte von Zeichen, die Generationen dankbarer Jungen in den Stamm geritzt hatten. Und alle hatten die Axt für jene zurückgelassen, die nach ihnen kamen. Einige von ihnen müssten jetzt zu Hause bei den Großvätern sein, die in der Höhle auf dem Berg wohnten.

Zweifellos beobachteten sie ihn jetzt, mit Augen, die meilenweit sehen konnten, und vielleicht beobachteten sie ihn auch, als er den Baumstamm fand, gut abgelagert und nicht allzu gründlich versteckt unter den Schraubenbäumen auf der Rückseite der kleinen Insel. Wenn Mau heimkehrte, würde er erzählen, wie er ihn gefunden hatte, und alle würden sagen, dass er Glück gehabt hatte, dass vielleicht die Götter den Baumstamm dort hingelegt hatten. Als er genauer darüber nachdachte, fiel ihm ein, dass eines Morgens sein Vater und ein paar seiner Onkel zum Fischen in die Nähe der Insel gefahren waren, ohne ihn zu fragen, ob er mitkommen wollte…

Die Zeit auf der Insel war gut gewesen. Er wusste, wie man Feuer machte, und er hatte die kleine Süßwasserquelle gefunden. Er hatte sich einen brauchbaren Speer geschnitzt, um damit in der Lagune Fische zu fangen. Und er hatte sich ein anständiges Kanu gebaut, stabil und leicht, mit einem Ausleger. Eigentlich brauchte man nur etwas, womit man nach Hause kam, aber dieses Kanu hatte er mit Messer und Rochenhaut bearbeitet, damit es flüsternd über das Wasser glitt.

An seinem letzten Tag als Junge ließ er sich Zeit. Sein Vater hatte ihm diesen Rat gegeben. Räum das Lager auf, hatte er gesagt. Bald wirst du Frau und Kinder haben. Das ist gut so. Aber manchmal wirst du dich liebevoll an deinen letzten Tag als Junge erinnern. Sorg dafür, dass es eine schöne Erinnerung wird, und sei rechtzeitig zum Festmahl wieder zu Hause.

Das Lager war so sauber, als wäre er niemals da gewesen.

Jetzt stand er zum letzten Mal vor dem uralten Tabagobaum.

Er hielt die Axt in der Hand und war sich ganz sicher, dass die Großväter ihm über die Schulter blickten.

Alles lief bestens. In der vergangenen Nacht hatten die Sterne der Luft, des Feuers und des Wassers gemeinsam am Himmel gestanden. Das war ein gutes Zeichen für einen Neuanfang.

Er suchte eine glatte Stelle in der weichen Rinde und hob die Axt. Einen Moment lang fiel sein Blick auf die kleine, blaue Perle, die er an einer Schnur um sein Handgelenk trug. Sie würde ihn während der Heimreise schützen. Sein Vater hatte ihm gesagt, wie stolz er sich auf dem Heimweg fühlen würde. Aber er musste vorsichtig sein, um nicht die Aufmerksamkeit der Götter oder Geister auf sich zu lenken. Es war nicht gut, zwischen zwei Seelen zu leben. Er wäre dann wie mihei gawi, der kleine, blaue Einsiedlerkrebs, der einmal pro Jahr von einem Schneckenhaus in ein neues umzog, wobei er zur leichten Beute für jeden Tintenfisch wurde.

Das war kein schöner Gedanke. Aber er hatte ein gutes Kanu, und die See war ruhig. Und er würde auf jeden Fall kräftig paddeln! Er holte mit der Axt weit aus und schwang sie, so fest er konnte. Ha! Der nächste Junge, der es schaffte, sie herauszuziehen, hat es verdient, als Mann bezeichnet zu werden.

»Männer helfen anderen Männern!«, rief er, als sich die Steinklinge in die Rinde grub.

Er wollte zwar einen wirkungsvollen Hieb landen. Doch die Wirkung war mächtiger, als er erwartet hatte. Aus jedem Winkel der kleinen Insel stiegen plötzlich Vögel in den Himmel auf.

Finken, Watvögel und Enten erhoben sich aus den Büschen und erfüllten die Luft mit Panik und Federn. Die größeren flogen aufs Meer hinaus, aber die meisten flatterten nur im Kreis herum, als hätten sie panische Angst zu bleiben, wussten aber auch nicht, wohin sie fliehen sollten.

Mau lief einfach durch die Vogelschwärme hindurch, als er zum Strand ging. Helle Flügel sausten wie Hagel an seinem Gesicht vorbei, und es wäre wirklich ein ehrfurchtgebietendes Schauspiel gewesen, wenn nicht jeder einzelne Vogel die Gelegenheit genutzt hätte, sich zu erleichtern. Nun, wer es eilig hatte, sollte vermutlich kein überflüssiges Gewicht mit sich herumtragen.

Irgendetwas stimmte nicht. Mau spürte es in der Luft, an der plötzlichen Ruhe. Die Welt fühlte sich auf einmal an, als würde sie von etwas Schwerem niedergedrückt werden.

Dann stürzte sie auf Mau und warf ihn in den Sand. Sein Kopf schien platzen zu wollen. Es war schlimmer als damals beim Steinspiel, als er zu lange gezögert hatte. Dieses Etwas drückte wie ein schwerer, grauer Fels auf die Welt.

Der Schmerz verschwand genauso schnell, wie er gekommen war, und Mau lag keuchend und benommen am Strand. Noch immer war der Himmel voller Vögel.

Als er mühsam wieder auf die Beine kam, wusste er nur, dass es nicht gut wäre, noch länger an diesem Ort zu bleiben. Auch wenn ihm ansonsten gar nichts klar war – das jedoch spürte Mau in jedem Fingernagel und jedem einzelnen Haar an seinem Körper.

Donner rollte über den wolkenlosen Himmel, ein tiefer, heftiger Schlag, der vom Horizont kam. Mau taumelte zur kleinen Lagune hinunter, und das Dröhnen wurde lauter. Da war sein Kanu, das auf dem weißen Sandstrand auf ihn wartete. Doch das normalerweise stille Wasser war nun… unruhig. Es tanzte wie bei schwerem Regen, obwohl gar kein Regen fiel.

Er musste weg von hier. Das Kanu glitt mühelos ins Wasser, und er paddelte hektisch auf die Lücke im Riff zu, die aufs offene Meer hinausführte. Unter ihm und um ihn herum taten die Fische dasselbe…

Immer wieder donnerte es, wie etwas Festes, das in die Luft schlug und sie zerschmetterte. Es erfüllte den ganzen Himmel.

Für Mau war es wie ein Hieb auf die Ohren. Er versuchte schneller zu paddeln, und dann fiel ihm ein, was sein Vater einmal zu ihm gesagt hatte: Tiere fliehen. Jungen fliehen. Aber ein Mann flieht nicht. Er blickt seinem Feind direkt in die Augen, damit er sehen kann, was er tut und wo dessen Schwächen liegen.

Er ließ das Kanu aus der Lagune heraustreiben und arbeitete sich ohne große Schwierigkeiten durch die Dünung aufs Meer hinaus. Dann blickte er sich um – wie ein Mann.

Der Horizont war eine einzige riesige Wolke, die kochend emporstieg, voller Feuer und Blitze, und sie grollte wie ein wütendes Ungeheuer.

Eine Welle krachte gegen die Korallen. Mau kannte das Meer, und auch damit war etwas nicht in Ordnung. Die Insel der Jungen fiel hinter ihm zurück, weil eine kräftige Strömung ihn zu dieser gewaltigen Sturmwand zog. Es schien, als würde der Horizont das Meer austrinken.

Männer blickten ihrem Feind in die Augen. Das war richtig, aber manchmal drehten sie auch einfach wieder um und paddelten um ihr Leben.

Doch es nützte nichts. Das Meer geriet in Bewegung, und dann tanzte es wieder, wie schon in der Lagune. Mau bemühte sich, klar zu denken, und versuchte, das Kanu wieder in seine Gewalt zu bekommen.

Er würde heimkehren. Natürlich würde er das! Er sah das Bild seiner Rückkehr klar und deutlich vor seinem inneren Auge. Er betrachtete es von allen Seiten und genoss den angenehmen Geschmack.

Alle würden da sein. Alle. Ohne Ausnahme. Selbst die alten, kranken Männer würden lieber auf einer Matte am Strand sterben, als nicht dabei zu sein. Die Frauen würden lieber dort niederkommen, wenn es nicht anders ging, um nach dem heimkehrenden Kanu Ausschau zu halten. Es war undenkbar, die Ankunft eines neuen Mannes zu verpassen, weil so etwas schreckliches Unglück über die ganze Nation gebracht hätte.

Sein Vater würde ihn vom Rand des Riffs aus beobachten, dann würden sie das Kanu auf den Strand ziehen, und seine Onkel würden herbeilaufen, und die anderen jungen Männer würden zu ihm eilen, um ihm zu gratulieren, und die Jungen, die er zurückgelassen hatte, würden neidisch auf ihn sein, und seine Mutter und die anderen Frauen würden das Festmahl eröffnen, und dann kam die… die Sache mit dem scharfen Messer, wobei man nicht schrie, und dann… dann wäre alles wunderbar!

Und wenn er das Bild gut festhielt, würde alles genau so geschehen. Ein dünner silberner Faden verband ihn mit dieser Zukunft, wie ein Gottesanker, der die Götter davon abhielt, sich zu weit zu entfernen.

Die Götter – das war es! Dieser Aufruhr kam von der Insel der Götter. Sie lag hinter dem Horizont, so dass man sie von hier aus nicht sehen konnte, aber die alten Männer sagten, dass sie einst gebrüllt hatte, vor langer, langer Zeit. Dann war die See rau geworden, und viel Rauch und Donner war gekommen, weil der Feuergott zornig gewesen war. Vielleicht war er jetzt wieder zornig geworden.

Die Wolke reckte sich den ganzen Himmel hinauf, doch nun war auf Meereshöhe etwas Neues zu sehen. Es war eine dunkel graue Linie, die größer wurde. Eine Welle? Wohl kaum. Mit Wellen kannte er sich aus. Man griff sie an, bevor sie einen angreifen konnten. Er hatte gelernt, wie man mit ihnen spielte.

Man durfte sich auf keinen Fall von ihnen umwerfen lassen.

Man musste sie benutzen. Wellen waren kein Problem.

Aber diese verhielt sich nicht wie die normalen Wellen an der Mündung des Riffs. Diese Welle schien stillzustehen.

Er starrte sie an, bis er begriff. Es sah nur so aus, als würde sie stillstehen, weil diese Welle richtig groß und noch sehr weit entfernt war. Dabei rollte sie unerbittlich auf ihn zu und zog eine nachtschwarze Wand hinter sich her.

Rasend schnell und inzwischen gar nicht mehr so weit entfernt.

Und auch keine Welle. Dazu war sie zu groß. Es war ein Gebirgszug aus Wasser, und Blitze tanzten über die Krone, und es rauschte und donnerte, und das Kanu wurde in die Luft gehoben, als wäre es leicht wie eine Feder.

Mau stieg unaufhaltsam den turmhohen, schäumenden Hang der Welle hinauf und klemmte das Paddel unter die Lianen, mit denen der Ausleger festgezurrt war. Er hielt sich fest, als…

Es regnete. Es war ein schwerer, schlammiger Regen, voller Asche und Traurigkeit. Mau erwachte aus einem Traum von geröstetem Schweinefleisch und jubelnden Männern und öffnete die Augen unter einem grauen Himmel.

Dann wurde ihm schlecht.

Das Kanu schaukelte sanft in der Dünung, während er einen kleinen Beitrag zu dem leistete, was bereits auf dem Wasser trieb – Holzstücke, Blätter, Fische…

Gekochter Fisch?

Mau paddelte zu einem großen Fisch hinüber und schaffte es, ihn an Bord zu hieven. Er war tatsächlich gekocht – was für ein Festmahl!

Und Mau brauchte ein Festmahl. Alles tat ihm weh. Eine Seite seines Kopfes war klebrig – Blut, wie er feststellte. Irgendwann musste er gegen die Bordwand des Kanus geschlagen sein, was ihn jedoch nicht sonderlich überraschte. Der Ritt durch die Welle war eine brutale Erinnerung, die ihm die Ohren taub gemacht und den Brustkorb verbrannt hatte, die Art Traum, aus dem man erwachte und einfach nur heilfroh war, ihn überstanden zu haben. Er hatte nicht mehr tun können, als sich möglichst gut festzuhalten.

Im Wasser hatte sich ein Tunnel aufgetan wie eine wandernde Höhle unter dem Kamm der Riesenwelle. Dann war ein Sturm aus Gischt gefolgt, als das Kanu wie ein Delfin aus dem Wasser geschossen war. Er hätte schwören können, dass es in die Luft gesprungen war. Und er hatte Gesang gehört! Nur ein paar Sekunden lang, bis das Kanu die Rückseite der Welle hinuntergerast war. Es konnte nur ein Gott gewesen sein oder vielleicht ein Dämon… oder vielleicht war es das, was man im eigenen Kopf hörte, wenn man teils flog und teils untertauchte, in einer Welt, in der sich Wasser und Luft abwechselten. Aber jetzt war es vorbei, und das Meer, das versucht hatte, ihn zu töten, war nun gewillt, ihm eine Mahlzeit zukommen zu lassen.

Der Fisch schmeckte gut, und Mau spürte, wie die Wärme in seine Knochen drang. Es gab noch viel mehr davon. Sie trieben zwischen all dem anderen Zeug an der Wasseroberfläche. Er fand auch ein paar junge Kokosnüsse, deren Milch er dankbar trank. Danach ging es ihm deutlich besser. Er freute sich schon darauf, seinen Leuten diese Abenteuergeschichte zu erzählen.

Eine so große Welle musste auch zu Hause ans Ufer geschwappt sein. Also würden sie wissen, dass er sich keine Lüge ausgedacht hatte.

Doch wo war… zu Hause? Die Insel der Jungen konnte er nicht mehr sehen. Er konnte nicht einmal den Himmel sehen. Es gab überhaupt keine Inseln mehr! Aber auf der einen Seite war der Horizont heller als auf der anderen. Irgendwo dort ging die Sonne unter. Am Abend zuvor hatte er beobachtet, wie die Sonne über der Nation untergegangen war. Demnach musste das die richtige Richtung sein. Er machte sich mit stetigen Paddelschlägen auf den Weg und ließ den blass leuchtenden Horizont nicht aus den Augen.

Überall waren Vögel, die auf allem hockten, was im Wasser trieb. Hauptsächlich waren es kleine Finken, die aufgeregt schimpften, wenn das Kanu vorbeiglitt. Manche flatterten hoch und wagten es, sich auf das Kanu zu setzen, wo sie sich aneinanderkauerten und ihn mit verzweifelter, ängstlicher Hoffnung beäugten. Ein Fink landete sogar auf Maus Kopf.

Während er versuchte, ihn aus seinem Haar zu befreien, hörte Mau ein dumpfes Geräusch, als etwas viel Schwereres auf dem Heck des Kanus landete. Die Finken flogen erschrocken auf, doch schon kurz darauf ließen sie sich wieder nieder, weil sie zu erschöpft waren, nach einem ungefährlicheren Plätzchen zu suchen. Trotzdem hielten sie größtmöglichen Abstand zu dem neuen Passagier, denn dieser war nicht sehr wählerisch im Hinblick auf seine Ernährung.

Es war ein beachtlicher Vogel mit glänzenden, blauschwarzen Federn und weißer Brust und winzigen weißen Federn an den Beinen. Doch sein riesiger Schnabel war leuchtend rot und gelb gefärbt.

Es war ein Großvatervogel, und er brachte Glück – zumindest den Menschen. Auch wenn Mau seinetwegen langsamer vorankam und der Vogel einen seiner Fische fraß. Großvatervögel hatten gelernt, dass sie keine Angst vor Menschen haben mussten. Es brachte schon Unglück, einen nur zu verscheuchen. Mau spürte die Blicke seiner Knopfaugen im Nacken, während er weiterpaddelte. Hoffentlich brachte ihm der Vogel Glück. Das konnte er gebrauchen, wenn er nicht erst um Mitternacht zu Hause sein wollte.

Es gab ein lautes »Ärk!«, als der Großvatervogel mit einem weiteren von Maus gekochten Fischen im Schnabel davonflog und das Kanu für einen Moment heftig schwanken ließ. Wenigstens war es jetzt wieder leichter, dachte Mau. Und die vielen Fische brauchte er eigentlich sowieso nicht, weil er sich an diesem Abend den Bauch mit Schweinefleisch vollschlagen würde.

Der Vogel landete ein Stück voraus auf einem recht großen Baumstamm. Als er näher kam, erkannte Mau, dass es sogar ein kompletter Baum mitsamt Wurzeln war, der allerdings viele Äste verloren hatte.

Dann sah er im Gestrüpp die Axt, die sich langsam aus dem Wasser hob. Doch er hatte schon vorher geahnt, dass er sie sehen würde. Der Anblick stürmte auf seine Augen ein und wurde einen Moment lang zum Mittelpunkt der ganzen Welt, die sich darum drehte.

Der Großvatervogel hatte so lange mit dem Fisch jongliert, bis er ihn in einem Stück hinunterschlucken konnte. Danach breitete er auf seine seltsame Art – als würde er sich fragen, ob sich das Ganze überhaupt lohnte – die großen Flügel aus und entfernte sich mit langsamen Schlägen, wobei die Spitzen fast die Wasseroberfläche berührten.

Als der Baumstamm vom zusätzlichen Gewicht befreit war, rollte er wieder zurück. Aber Mau war bereits im Wasser und bekam den Griff der Axt zu fassen. Er hielt die Luft an, stemmte die Beine gegen den Stamm und zog. Wie schlau von ihm, dass er vor ungefähr hundert Jahren die Axt mit aller Kraft ins Holz geschlagen hatte, nur um dem nächsten Jungen zu zeigen, was für ein starker Mann er doch war…

Eigentlich hätte es klappen sollen. Er strengte sich so sehr an, dass sich die Axt hätte lösen müssen. So wäre es in einer vollkommenen Welt geschehen. Aber das Holz hatte sich vollgesogen und ließ die Klinge nicht mehr los.

Mau tauchte noch dreimal unter, und jedes Mal, wenn er wieder hochkam, spuckte und hustete er Salzwasser aus. In ihm stieg eine tiefsitzende Wut hoch, weil das so einfach nicht richtig war. Die Axt hatten ihm die Götter geschickt, dessen war er sich ganz sicher. Sie hatten sie ihm geschickt, weil er sie brauchen würde, das wusste er genau. Und trotzdem hatte er es nicht geschafft.

Schließlich schwamm Mau zum Kanu zurück und paddelte dem Großvatervogel hinterher, bevor er außer Sichtweite war.

Diese Tiere flogen abends immer zum Land zurück. Und für ihn bestand kein Zweifel, dass von der Jungeninsel nicht mehr allzu viel übrig sein konnte, zu dem man hätte zurückkehren können.

Der Tabago-Baum war mehrere hundert Jahre alt und seine Wurzeln waren dicker als Maus Taille. Es schien fast so, als hätte er die ganze Insel zusammengehalten! Und gleich daneben wachte der Gottesanker. Eigentlich dürfte keine Welle in der Lage sein, einen Gottesanker zu bewegen. Das wäre, als würde die Welt aus den Angeln gehoben.

Der Großvatervogel flog gemächlich weiter. Vor ihm rötete sich die dünne Linie des Horizonts immer mehr, roter, als Mau es jemals erlebt hatte. Er paddelte, so schnell er konnte, und versuchte, nicht daran zu denken, was ihn erwartete. Aber weil er versuchte, nicht daran zu denken, tollten genau diese Gedanken wie aufgeregte Hunde in seinem Kopf herum.

Also versuchte er, sie zu beruhigen. Schließlich war die Jungeninsel kaum mehr als ein von Sandbänken umgebener Felsbrocken, dachte er. Sie war zu kaum etwas nütze, außer man schlug dort sein Lager auf, wenn man zum Fischen hinausfuhr, oder kleine Jungen mühten sich dort ab, um zu großen Männern zu werden. Auf der Insel der Nation gab es wenigstens Berge – na gut, einen richtigen Berg. Außerdem einen Fluss und Höhlen und ganze Wälder. Und es gab Männer, die wussten, was zu tun war!

Nicht wahr? Doch was konnten sie schon tun?

Und das kleine Bild von seinem Männerseelenfest flackerte zusehends. Immer wieder entglitt es ihm, und er verlor den silbernen Faden, der ihn damit verbunden hatte.

Etwas Dunkles trieb vor dem Sonnenuntergang vorbei, und Mau wäre fast in Tränen ausgebrochen. Es war die vollkommene Sonnenuntergangswelle, die an der roten Scheibe vorüberzog, als diese gerade den Horizont berührte. Jeder Mann auf den Sonneninseln hatte dieses Bild als Männlichkeitstätowierung, und in ein paar Stunden würde Mau es auch haben.

Und dann war dort, wo eben noch die Welle gewesen war, plötzlich die Nation. Ihren Umriss würde er von allen Seiten wiedererkennen. Sie war vielleicht noch fünf Meilen entfernt.

Diese letzten fünf Meilen würde er auch noch schaffen. Und schon bald würde er das Licht der Feuer sehen.

Er paddelte schneller und strengte sich an, die Silhouette der Insel im dunkler werdenden Zwielicht nicht aus den Augen zu verlieren. Dann sah er die weiße Brandung über dem Riff. Und schon bald, bitte, würde er das Licht der Feuer sehen.

Jetzt konnte er sie riechen, die Gerüche des Landes, nur den nicht, den er riechen wollte – den Geruch von Rauch.

Doch dann nahm er ihn wahr, eine strenge kleine Note in der Duftmischung von Meer und Wald. Irgendwo brannte ein Feuer. Er konnte es nicht sehen, aber wo Rauch war, waren auch Menschen. Wenn die Welle aus dieser Richtung gekommen war, würde es hier natürlich kaum noch trockenes Holz geben. Aber die Welle hatte bestimmt keine großen Verwüstungen angerichtet, hier nicht. Mau hatte schon große Wellen gesehen, und sie brachten alles durcheinander und zerschlugen ein oder zwei Kanus. Na gut, diese Welle hatte richtig groß ausgesehen, aber das taten sie immer, wenn sie über einen hinwegschwappten. Die Menschen hatten sich auf dem Berg in Sicherheit gebracht und von dort trockenes Holz geholt. Ja, so musste es gewesen sein. Ganz bestimmt war es so. Er musste sich überhaupt keine Sorgen machen. Sie würden schon bald zurückkehren.

So war es. So sollte es sein.

Aber der silberne Faden war nicht mehr da. Er konnte sich glückliche Bilder vorstellen, aber sie blieben im Dunkeln, und es gab keinen Pfad, der zu ihnen führte.

Es war fast völlig finster geworden, als Mau die Lagune erreichte. Überall schwammen Blätter und Äste, und er stieß gegen einen großen Korallenbrocken, den die Welle offenbar vom Riff abgerissen hatte. Aber dazu war das Riff ja da. Es dämpfte die Kraft der Stürme. Hinter dem Riff, innerhalb der Lagune, waren sie in Sicherheit.

Mit einem leisen Knirschen glitt das Kanu auf den Sandstrand.

Mau sprang heraus und erinnerte sich gerade noch rechtzeitig an das Opfer. Für eine erfolgreiche Reise sollte es ein roter Fisch sein, und diese Reise konnte nur als erfolgreich bezeichnet werden, auch wenn es eine sehr seltsame Reise gewesen war. Er hatte keinen roten Fisch, aber er war ja immer noch ein Junge, und die Götter verziehen Jungen sehr viel. Immerhin hatte er daran gedacht. Das musste reichen.

Es waren keine anderen Kanus zu sehen, obwohl es viele hätte geben müssen. Trotz der Dunkelheit war nicht zu übersehen, dass etwas nicht stimmte. Niemand war hier, niemand wusste, dass er am Ufer stand.

Er versuchte es trotzdem: »Hallo! Ich bin’s, Mau! Ich bin zurück!«

Dann weinte er, und das war noch viel schlimmer. Er hatte schon im Kanu geweint, aber das war nur Wasser gewesen, das ihm aus den Augen gelaufen war, und nur er wusste davon. Aber nun kamen die Tränen mit schweren Schluchzern, sie flossen ihm aus den Augen, der Nase und dem Mund, ohne dass er etwas dagegen tun konnte. Er weinte um seine Eltern, weil er Angst hatte, weil er fror und sehr erschöpft war und weil er sich fürchtete und es nicht mehr verbergen konnte. Aber am meisten weinte er, weil nur er davon wusste.

Im Wald war etwas, das ihn hörte. Und im verborgenen Feuerschein glänzte scharfes Metall.

Im Westen erstarb das Licht. Nacht und Tränen legten sich über die Nation. Und der Stern des Wassers schlich hinter den Wolken entlang wie ein Mörder, der heimlich den Schauplatz des Verbrechens verlässt.