10
Sehen heisst glauben
Die Höhle wartete. Darin konnte sich alles Mögliche verbergen, dachte Mau. Aber genau darum ging es doch, nicht wahr? Man musste es herausfinden. Man wollte es einfach wissen. Und Daphne schien sich keinerlei Sorgen zu machen. Mau sagte ihr, dass es dort wahrscheinlich Knochen gab, und sie erwiderte, dass sei völlig in Ordnung, weil Knochen ja niemanden angreifen würden, und nachdem sie die Botschaft von den Großmüttern erhalten hatte, wollte sie die Sache unbedingt zu Ende bringen, alles bestens, danke der Nachfrage.
Sie fanden die Großväter dort, wo man gerade noch das nachlassende Tageslicht erkennen konnte, und nun verstand Mau.
Sie waren nicht unheimlich, sondern einfach… traurig. Manche saßen noch immer genauso da, wie man sie zurückgelassen hatte, mit bis zum Kinn hochgezogenen Knien und leeren, toten Augen, die ins ferne Licht starrten. Sie waren nur noch trockene Haut und zerbröselnde Knochen.
Wenn man genauer hinsah, konnte man erkennen, dass sie durch Papierrebenstreifen zusammengehalten wurden. Die Pflanze hatte in der Tat viele Verwendungszwecke, sogar noch nach dem Tod.
Als das Tageslicht nur noch ein kleiner Punkt am Ende des Tunnels war, blieben sie stehen.
»Wie viele werden das wohl sein?«, fragte sich Ataba. »Ich zähle mit«, sagte Mau. »Bis jetzt waren es über hundert.«
»Einhundertzwei«, sagte Daphne. Und es schien kein Ende zu nehmen. Sie saßen einer hinter dem anderen, wie die älteste Rudermannschaft der Welt, die im Gleichtakt in die Ewigkeit paddelte. Manche hatten noch ihren Speer oder ihre Keule dabei, die man ihnen an die Arme gebunden hatte.
Sie gingen weiter, und das Licht vom Höhleneingang war nicht mehr zu sehen. Die Toten zogen zu Hunderten vorbei, und Daphne kam mit dem Zählen nicht mehr mit. Ständig versuchte sie sich daran zu erinnern, keine Angst zu haben. Schließlich hatte sie einmal an einem Anatomievortrag teilgenommen und großen Spaß dabei gehabt. Auch wenn sie die ganze Zeit die Augen geschlossen hatte…
Jedoch wurde der Anblick von Tausenden toter Männer nicht gerade leichter, wenn man sie im flackernden Licht von Atabas Lampe betrachten musste. Denn dann sahen sie so aus, als würden sie sich bewegen. Und diese Männer stammten alle von den Inseln. Das erkannte sie hauptsächlich an den verblassten Tätowierungen auf der uralten, ledrigen Haut, wie sie jeder Mann – na gut, mit Ausnahme von Mau – noch heute trug. Eine Welle, die vor dem Sonnenuntergang vorbeizog…
»Wie lange bestattet ihr hier schon eure Toten?«, wollte sie Wissen.
»Seit Ewigkeiten«, antwortete Mau, der vorausging. »Viele sind sogar von den anderen Inseln hierhergekommen!«
»Bist du müde?«, wandte sich Daphne an Ataba, als Mau schon ein Stück vorausgegangen war.
»Nicht im Geringsten, Mädchen.«
»Es klingt, als hättest du Probleme beim Atmen.«
»Das ist meine Angelegenheit. Nicht deine.«
»Ich habe mir nur… Sorgen gemacht. Mehr nicht.«
»Ich wäre dir äußerst dankbar, wenn du damit aufhören würdest«, blaffte Ataba. »Ich weiß genau, was hier los ist. Es fängt mit Messern und Kochtöpfen an, und plötzlich gehören wir den Hosenmenschen. Ihr schickt eure Priester, und dann gehören uns auch unsere Seelen nicht mehr.«
»So etwas tue ich doch gar nicht!«
»Und wenn dein Vater in seinem großen Kanu kommt? Was wird dann aus uns?«
»Ich… weiß es nicht«, sagte Daphne. Das war immer noch besser, als die Wahrheit zu sagen. Denn sie musste sich eingestehen, dass ihre Leute tatsächlich die Angewohnheit hatten, in fernen Ländern ihre Flagge zu hissen. Ohne weiter darüber nachzudenken, fast als wäre es eine lästige Pflicht.
»Ha, jetzt fällt dir nichts mehr ein!«, sagte der Priester. »Du bist ein gutes Kind, behaupten die Frauen, und du tust viele gute Dinge, aber der Unterschied zwischen den Hosenmenschen und den Räubern ist, dass die Kannibalen irgendwann wieder verschwinden!«
»Wie kannst du so etwas sagen?«, erwiderte Daphne aufgebracht. »Wir essen keine Menschen!«
»Es gibt unterschiedliche Methoden, Menschen zu essen, Mädchen, und du bist klug genug, das zu wissen. Und manchmal erkennen die Opfer gar nicht, dass es längst passiert ist – bis sie den Rülpser hören!«
»Kommt schnell!«, rief Mau, dessen Lampe nur ein schwacher, grüner Schein in der Ferne war.
Daphne rannte sofort los, damit Ataba ihr Gesicht nicht mehr sehen konnte. Ihr Vater war ein anständiger Mensch, aber dieses Jahrhundert schien in der Tat ein imperiales Spiel zu sein, in dem es keiner noch so kleinen Insel gestattet wurde, sich selbst zu gehören. Was würde Mau tun, wenn jemand auf seinem Strand eine Flagge hisste?
Dann sah sie ihn, wie er grün schimmernd auf die lange Reihe der Großväter zeigte.
Als Daphne näher kam, bemerkte auch sie den weißen Stein an der Tunnelwand. Darauf saß ein Großvater, als wäre er ein Häuptling, doch er hatte genau wie die anderen seine Arme um die Knie geschlungen. Und er blickte in den Gang hinein, vom Höhleneingang weg, ins Unbekannte.
Hinter ihm – oder davor – setzte sich die Reihe toter Krieger fort, alle nun mit Blick in die andere Richtung. Worauf eigentlich? Jetzt jedenfalls hatten sie das Tageslicht im Rücken.
Maus Augen funkelten, als Ataba herangehumpelt kam.
»Weißt du, warum sie alle in die falsche Richtung blicken, Ataba?«, fragte er.
»Es sieht aus, als würden sie uns vor etwas beschützen«, sagte der Priester.
»Hier unten? Wovor? Außer Dunkelheit gibt es hier nichts.«
»Aber vielleicht etwas, das lieber vergessen bleiben sollte? Glaubst du, es hätte noch nie zuvor eine Welle gegeben? Beim letzten Mal jedoch blieb sie einfach da. Eine ewige Flut beendete die Welt.«
»Das ist nur eine Geschichte. Ich erinnere mich daran, dass meine Mutter sie mir erzählt hat«, sagte Mau.
»Jeder kennt sie: ›Zu einer Zeit, als alles anders war und der Mond noch nicht derselbe… wurden Imo die Menschen lästig, und Er spülte sie mit einer großen Welle fort.‹«
»Gab es eine Arche? Ich meine, äh, so etwas wie ein sehr großes Kanu?«, sagte Daphne. »Oder wie konnte irgend wer überleben?«
»Ein paar Leute waren auf dem Meer oder auf einem hohen Berg«, sagte Mau. »So heißt es doch in der Geschichte, nicht wahr, Ataba?«
»Was hatten die Menschen denn Schlimmes getan?«, fragte Daphne.
Ataba räusperte sich. »Es heißt, sie versuchten, selbst zu Göttern zu werden.«
»Stimmt«, bestätigte Mau. »Ich frage mich nur, ob du mir auch sagen kannst, was wir diesmal falsch gemacht haben.«
Ataba zögerte.
Mau nicht. Er sprach klar und deutlich, mit flinker Zunge:
»Ich rede von meinem Vater, meiner Mutter, meiner ganzen Familie, meiner ganzen Nation! Sie sind alle tot! Ich hatte eine Schwester, die sieben Jahre alt war. Nenn mir nur einen einzigen Grund. Es muss doch einen Grund geben! Warum haben die Götter sie sterben lassen? Ich habe ein Baby gefunden, das in einem Baum hing. Womit hat es die Götter beleidigt?«
»Wir sind klein und unwissend. Wir können das Wesen der Götter nicht begreifen«, sagte Ataba.
»Nein! Das glaubst du doch selbst nicht. Ich höre es in deiner Stimme! Ich kenne auch das Wesen eines Vogels nicht, aber ich kann ihn beobachten und ihm zuhören und etwas über ihn lernen. Machst du es mit den Göttern nicht genauso? Wo sind die Regeln? Was haben wir falsch gemacht? Sag es mir!«
»Ich weiß es nicht! Glaubst du, ich hätte sie nicht danach gefragt?« Tränen rollten Ataba über die Wangen. »Denkst du, ich habe allein gelebt? Seit der Welle habe ich meine Tochter und ihre Kinder nicht mehr gesehen. Hörst du, was ich sage? Hier dreht sich nicht alles nur um dich! Ich beneide dich um deinen Zorn, Dämonenjunge. Er füllt dich aus! Er nährt dich, er gibt dir Kraft. Doch wir anderen suchen nach Gewissheit, und die gibt es nicht. Trotzdem wissen wir in unseren Köpfen, dass da… etwas sein muss, irgendein Grund, ein Muster, eine Ordnung. Also rufen wir die stummen Götter an, weil sie immer noch besser sind als die Finsternis. Das ist alles, Junge. Ich kann dir keine Antworten geben.«
»Dann werde ich in der Finsternis danach suchen«, sagte Mau und hob seine Lampe. »Wir gehen weiter. Folge uns«, setzte er etwas leiser hinzu.
Atabas Tränen glänzten im Licht seiner roten Lampe. »Nein«, sagte er heiser.
»Dann müssen wir dich hier zurücklassen«, sagte Mau. »Zwischen den toten Männern, aber ich glaube nicht, dass dies der richtige Ort für dich ist. Du solltest lieber mitkommen. Schließlich hast du einen Dämon und einen Geist an deiner Seite. Außerdem könnten wir deine Weisheit gut gebrauchen.«
Zu Daphnes Überraschung lächelte der alte Mann. »Du glaubst, ich hätte noch welche übrig?«
»Aber sicher. Gehen wir jetzt? Du wirst hier kaum etwas finden, das schlimmer ist als ich.«
»Ich würde gerne etwas fragen«, sagte Daphne schnell. »Wie oft wird hier ein neuer Großvater bestattet?«
»Ein- oder zweimal in fünfzig Jahren«, sagte Ataba. »Hier sind Tausende. Bist du dir sicher?«
»Diesen Ort gibt es, seit die Welt gemacht wurde, und seitdem gibt es auch uns«, sagte Mau.
»In diesem Punkt sind wir jedenfalls absolut einer Meinung«, sagte Ataba entschieden.
»Aber das war vor sehr, sehr langer Zeit!«
»Und genau deshalb sind hier so viele Großväter!«, sagte Mau. »So einfach ist das.«
»Ja«, sagte Daphne, »wenn du es so ausdrückst, wird es wohl so sein.« Dann setzten sie sich wieder in Marsch. »Was war das für ein Geräusch?«, fragte sie kurz darauf. Sie hielten inne, und diesmal hörten alle drei ein leises Knistern und Rascheln, das von hinten kam.
»Erheben sich die Toten?«, fragte Ataba.
»Also, weißt du, eigentlich hatte ich gehofft, dass niemand diese Möglichkeit erwähnen würde«, sagte Daphne.
Mau ging den Gang ein paar Schritte zurück, wo nun überall ein leises Rascheln zu hören war. Tote bewegen sich nicht, dachte er. Daran erkennt man schließlich, dass sie tot sind. Also werde ich mich jetzt, weitab vom Himmel, damit auseinandersetzen, und mir überlegen, was hier tatsächlich vor sich geht. Was könnte der Grund dafür sein? Und wo habe ich dieses Geräusch schon einmal gehört?
Er lief noch ein Stück weiter in den Tunnel hinein, bis nichts mehr zu hören war, und wartete. Nach einer Weile fing das Knistern wieder an, und unwillkürlich musste er an den Sonnenschein an einem heißen Tag denken. An der Stelle, wo er die anderen beiden zurückgelassen hatte, raschelte es immer noch.
»Lasst uns weitergehen«, sagte er. »Dann hört es von selber auf, solange wir in Bewegung bleiben.«
»Sie werden also nicht aufwachen?«, fragte Ataba.
»Es sind die Papierreben, mit denen die Großväter umwickelt sind«, sagte Mau. »Auch wenn sie knochentrocken sind, knistern und knacken sie, sobald es wärmer wird. Und hier unten werden die Papierreben durch die Hitze unserer Lampen und Körper erwärmt, wenn wir zu lange an einer Stelle stehen bleiben. Mehr steckt nicht dahinter.«
»Mir hat es trotzdem Angst gemacht«, sagte Daphne. »Gute Arbeit. Eine deduktive Schlussfolgerung auf Basis von Beobachtung und Experiment.«
Mau ging gar nicht darauf ein, weil er sowieso nicht die leiseste Ahnung hatte, was das bedeuten sollte. Aber er war mit sich zufrieden. Die Großväter sind nicht aufgewacht. Das Geräusch hatte er schon als kleiner Junge gehört, und es waren einfach nur Papierreben, die wärmer oder kälter wurden. Ganz bestimmt, und er konnte es beweisen. Das war doch gar nicht so schwer herauszufinden – warum also hatte er sich vor Angst fast nassgemacht? Weil Papierreben, die sich ausdehnten oder zusammenzogen, nun einmal längst nicht so spannend klangen wie wandelnde Skelette, das war der Grund. Irgendwie gibt es uns ein Gefühl von Bedeutung. Selbst durch unsere Ängste fühlen wir uns bedeutsam, weil wir uns so davor fürchten, es nicht zu sein.
Er beobachtete, wie Ataba näher an einen Großvater herantrat und hastig wieder zurückwich, als der Tote auf einmal knackte.
Mein Körper ist ein Feigling, aber ich fürchte mich nicht! Niemals werde ich mich vor irgendetwas fürchten, dachte er. Nicht jetzt.
Dann sahen sie einen Lichtschein. Er war plötzlich da, als sie einer langgezogenen Biegung des Tunnels folgten er flackerte rot, gelb und grün, als sie sich näherten. Ataba stöhnte und blieb stehen. Mau wusste, dass er selbst nicht auch anhalten durfte und blickte das Gefälle hinunter, das vor ihnen lag.
»Bleib hier und kümmere dich um den alten Mann«, sagte er zum Geistermädchen. »Ich will nicht, dass er wegläuft.«
Ich fürchte nicht um meine Blase, die gern explodieren würde, redete er sich gut zu, als er zügig an den schweigenden Wächtern vorbeilief, und auch nicht um meine Füße, die umkehren und die Flucht ergreifen möchten. Und ich fürchte mich auch nicht vor den Bildern, die kreischend durch meinen Kopf jagen.
Entschlossen ging er weiter, während das Licht ihm vorauseilte, und wiederholte seinen Schwur, bis er wie Captain Roberts das dringende Bedürfnis verspürte, noch schnell ein paar Worte hinzuzufügen. Ich werde mich nicht vor dem Schatten fürchten, der aus diesem angenehmen Licht heraustritt, denn ich habe meine Furcht bereits dort unten in der Finsternis gefunden. Ich werde jetzt einfach die Hand ausstrecken und ihn berühren, während er mir entgegenkommt, um mich zu berühren…
Dann trafen ihre Finger aufeinander, und Mau spürte glattes, goldenes Metall. Die Fläche, in der er sich gespiegelt hatte, war in etwa so groß wie ein erwachsener Mann.
Mau legte ein Ohr daran, aber es war nichts zu hören.
Als er dagegendrückte, rührte sich die Metalltafel nicht von der Stelle.
»Ich möchte, dass ihr weiter oben bleibt«, sagte er, als sie ihn eingeholt hatten. »Alle beide. Wir sind ziemlich weit hinuntergestiegen, und auf der anderen Seite könnte Wasser sein.«
Mau stieß mit der Brechstange gegen das Metall. Es war sehr weich und offenbar auch sehr dick, aber die Platte war in das weiche Inselgestein eingebettet, womit er vermutlich mehr Glück haben würde. Und tatsächlich zerbröckelte der Fels sehr schnell, als Mau das spitze Ende der Stange hineinrammte, und schon bald war ein Zischen zu hören, und es roch nach feuchtem Salz. Also war das Meer tatsächlich ganz in der Nähe, aber wenigstens befanden sie sich noch darüber.
Er rief die anderen zu sich, während er weiter auf den Stein einschlug, und war erstaunt, wie leicht er sich mit der Metallstange abtragen ließ. Schließlich hatte er ein Loch freigehauen, hinter dem noch mehr Dunkelheit lag. Die Luft war feucht, und er hörte leise schwappendes Wasser. Im Licht der Lampe konnte er nur ein paar weiße Steinstufen erkennen, die nach unten führten.
Das war alles? Der ganze lange Weg, um in einer Meereshöhle herauszukommen? Auf der westlichen Seite der Insel gab es am Fuß der Klippen unzählige davon. Seit Anbeginn der Zeit waren diese Höhlen immer wieder von Kindern erforscht worden, aber sie hatten nie etwas gefunden, was größere Aufregung verursacht hätte.
Doch da glitzerte etwas im Schein der Lampe.
»Ich werde mit hineingehen«, verkündete Daphne hinter ihm.
»Nein. Bleib hier. Es könnte gefährlich werden.«
»Richtig, und genau deshalb sollte ich mitkommen.«
»Die Höhle war seit Ewigkeiten verschlossen. Dort gibt es nichts, was mir Schaden zufügen könnte«, sagte Mau.
»Wie bitte? Du hast doch gerade selbst gesagt, dass es gefährlich werden könnte!«, erwiderte Daphne.
»Ich gehe als Erster hinein«, sagte Ataba, der hinter ihr stand. »Wenn Locaha da drinnen wartet, werde ich seine Hand nehmen.«
»Ich werde auf keinen Fall hier draußen warten, wo mich all diese toten Männer anknistern!«, protestierte Daphne. »Ja, ich weiß, dass es nur dieses Papierzeug ist, aber das macht es nicht unbedingt besser.«
Die drei blickten einander im Schein ihrer Lampen an, und dann zwängten sie sich alle gleichzeitig durch das kleine Loch in einen Raum voll schlechter Luft. Sie roch vergammelt, sofern Luft überhaupt vergammelt riechen konnte.
Die Stufen bestanden aus Göttersteinen, jede einzelne. Sie waren graviert, genau wie die am Strand, aber viele der Gravuren erstreckten sich über mehrere Steine, und an einigen Stellen waren die Blöcke auseinandergebrochen oder fehlten ganz.
Haufenweise Steine, dachte Mau. Wie sind wir nur darauf gekommen, sie seien es wert, verehrt zu werden? Dann hielt er seine Lampe höher und sah den Grund dafür. Vor ihm standen – knietief im Meer, gigantisch und weiß schimmernd und funkelnd – die Götter. Luft mit dem gewaltigen Bauch und seinen vier Söhnen auf den Schultern, Wasser in seiner strahlenden Brillanz und Feuer in seiner Wildheit, mit an den Körper gefesselten Händen, so wie es die Geschichte erzählte. Luft und Wasser hielten jeweils eine große Steinkugel in den Händen, doch die Kugel von Feuer balancierte auf seinem Kopf und glänzte rötlich. Es gab noch eine vierte Statue, die blass und beschädigt war. Der Kopf und ein Arm fehlten und waren vermutlich ins Wasser gefallen. Für einen kurzen Moment dachte Mau: Das ist Imo. Zerbrochen. Würde ich es wagen, nach seinem Gesicht zu suchen?
Ataba schrie (und draußen im Tunnel kam langsam Leben in die Toten).
»Siehst du sie? Siehst du sie?«, stieß der Priester zwischen keuchenden Atemzügen hervor. »Sieh die Götter, Dämonenjunge!« Er bekam einen Hustenanfall und klappte zusammen. Die Luft hier unten war alles andere als gut.
Man sog sie ein, aber es war kein Leben darin.
»Ja, ich sehe sie«, sagte Mau. »Götter aus Stein, Ataba.«
»Warum sollten sie aus Fleisch und Blut sein? Und welcher Stein leuchtet dermaßen strahlend? Ich habe recht behalten, Dämonenjunge, mein Glaube wurde bestätigt! Du kannst es nicht mehr leugnen!«
»Ich kann nicht leugnen, was ich sehe, aber ich kann fragen, was es ist«, sagte Mau, während der alte Mann erneut röchelnd nach Luft schnappte.
Mau blickte sich in der Dunkelheit um, und sein Blick fiel auf den schwachen Lichtschein von Daphnes Laterne. »Wir müssen sofort umkehren!«, rief er. »Schnell! Selbst die Flammen ersticken!«
»Das sind doch bloß Statuen!«, rief Daphne zurück. »Aber das hier ist… unglaublich!«
Irgendwo in ihrer Nähe knirschten die Felsen.
Ataba röchelte besorgniserregend. Es klang, als würde jeder Atemzug aus einem Baumstamm gesägt werden.
Mau betrachtete die flackernde Flamme seiner Laterne und brüllte: »Wir müssen umkehren!«
»Und hier liegt ein Skelett!«, rief Daphne begeistert. »Und es hat… nicht zu fassen. Das müsst ihr euch ansehen! Ihr müsst euch unbedingt ansehen, was es im Mund hat!«
»Willst du im Dunkeln durch den Tunnel zurücklaufen?«, schrie er zurück, so laut er konnte (und draußen im Gang kam Bewegung in die Großväter).
Das schien geholfen zu haben. Er sah, wie sich ihr weißes Licht in Richtung Tür bewegte. Daphne keuchte, als sie ihn erreichte, und ihre Lampe brannte nur noch in dunklem Orange.
»Weißt du, ich dachte, das alles hier könnte griechisch sein«, sagte sie, »oder ägyptisch! Dass wir Hosenmenschen… oder in diesem Fall wohl eher Togamenschen…«
»Also müssen wir euch auch noch für unsere Götter dankbar sein?«, gab Mau bissig zurück und legte einen Arm um die Schulter des Priesters.
»Was? Nein! Es ist eher…«
Mau zog sie durch das kleine Loch. »Genug geredet! Jetzt komm endlich!«
Das »endlich!« hallte durch den Tunnel. Der älteste Großvater neben Mau kippte mit einem leisen Knacken rückwärts und zerfiel dann zu Staub und Fasern aus trockener Papierrebe. Allerdings hatte er zuvor noch seinen Hintermann angestoßen…
Entsetzt mussten die drei mit ansehen, wie die aufgereihten Großväter einer nach dem anderen umstürzten und in sich zusammenfielen. Während sich das Drama außerhalb des Lampenscheins fortsetzte, war die Luft bereits mit widerlichem, beißendem Staub erfüllt.
Sie sahen sich an und trafen schnell und gemeinsam eine Entscheidung.
»Lauft!«
Sie nahmen den taumelnden Ataba in die Mitte und stürmten die leichte Steigung des Tunnels hinauf. Der Staub brannte ihnen in den Augen und schnürte ihnen die Kehle zu, doch nach etwa vierzig kollabierenden Skeletten überholten sie die Knochenkaskade. Sie hielten aber nicht an, denn der Staub hinter ihnen war eine feste, wogende Masse, die genauso dringend aus der Höhle entkommen wollte wie sie. Also rannten sie weiter, bis die Luft besser wurde und der Lärm nachließ.
Daphne stutzte, als Mau langsamer wurde, aber er zeigte auf den weißen Stein, der aus der Wand ragte und auf dem der tote Häuptling kauerte.
»Wir können uns kurz ausruhen«, sagte er. »Dieser sitzt so hoch, der wird nicht umgestoßen.«
Er hielt den alten Mann aufrecht, der trotz seines röchelnden Atems lächelte.
»Ich habe die Götter gesehen«, keuchte er, »und du auch, Mau.«
»Danke«, sagte Mau.
Der Priester sah ihn verdutzt an. »Wofür?«
»Dass du mich nicht Dämonenjunge genannt hast.«
»Ach, als Sieger kann ich großzügig sein.«
»Sie sind aus Stein«, sagte Mau.
»Aus magischem Stein! Aus der Milch der Welt! Hast du jemals so viel davon gesehen? Welche menschliche Hand könnte so etwas bearbeiten? Welcher menschliche Geist könnte sich so etwas ausdenken? Sie sind ein Zeichen. Im Herzen der Finsternis habe ich Erleuchtung gefunden! Ich hatte recht!«
»Sie sind aus Stein«, wiederholte Mau geduldig. »Hast du die Blöcke am Boden nicht gesehen? Da hast du deine Göttersteine! Sie wurden gemacht, um darauf herumzulaufen! Dann sind sie zerbrochen und ins Meer gefallen, und du glaubst, sie wären heilig!«
»Ein im Dunkel wandelnder Mensch kann leicht in die Irre geführt werden, das ist richtig. Aber in den Steinen haben wir eine Andeutung der Wahrheit gesehen. Die Götter haben dich zu ihrem Werkzeug gemacht, Junge. Du hast sie verachtet und verschmäht, doch je schneller du vor ihnen weggelaufen bist, desto näher sind sie dir gekommen. Du…«
»Wir sollten weitergehen«, sagte Daphne – in der Ferne knackten noch die einstürzenden Knochen. »Auch wenn die Großväter vielleicht nicht näher herankommen können, dieser Staub kann es bestimmt. Weitergehen hab ich gesagt!«
Sie gehorchten, wie es weise Männer taten, wenn eine Frau energisch wurde, und liefen so schnell durch den Tunnel, wie es Atabas Humpeln zuließ.
Doch Daphne zögerte. Die krachende Flutwelle aus Großvätern hatte den Steinblock fast erreicht, und eigentlich müsste sie dort tatsächlich aufgehalten werden, aber Mau hatte viel zu optimistisch geklungen, was für sie nur bedeuten konnte, dass er sich keineswegs so sicher war. Und trotzdem hatte er angehalten, weil Ataba kaum noch Luft bekam. Er ist ehrlich besorgt um den alten Mann, dachte sie. Ein Dämon würde nie…
Es krachte… Die umstürzenden Knochen erreichten den Stein und kamen zur Ruhe.
Alle bis auf einen.
Wahrscheinlich war es eine Rippe, dachte sie später. Sie wurde beim Aufprall gegen den Stein hochkatapultiert, flog wie ein Lachs durch die Luft und traf den Schädel des Großvaters, der auf dem Stein hockte. Der geriet ins Schwanken, kippte um und fiel auf das Skelett auf der anderen Seite des Steins, das daraufhin ebenfalls umfiel.
Und so weiter. Wie eine Reihe Dominosteine. Klack, klack, klack… Hier verlief der Boden flacher, und die Knochen rollten schneller. Warum hatte sie damit nicht gerechnet? Die Großväter hockten seit Ewigkeiten in dieser muffigen Höhle. Sie wollten nach draußen!
Daphne rannte hinter den Männern her, bevor die Staubwolke sie verschlingen konnte. Sie hatte einmal gehört, dass man mit jedem Atemzug ein winziges Stückchen von jedem Menschen in sich aufnahm, der jemals gelebt hat, aber sie hatte nicht vor, alles auf einmal einzuatmen.
»Lauft weiter!«, schrie sie.
Die Männer hatten sich bereits zu ihr umgedreht. Daphne packte den freien Arm des alten Mannes und benutzte ihn dazu, Mau hinter sich herzuziehen. Der Höhleneingang war wieder als kleiner, weißer Punkt zu erkennen, noch weit entfernt, und schon nach wenigen Schritten stöhnte Ataba.
»Lass die Lampen hier«, keuchte Mau. »Wir brauchen sie nicht mehr. Ich werde ihn tragen!«
Er hob den Priester auf und warf ihn sich über die Schulter. Sie rannten weiter. Der helle Punkt schien überhaupt nicht größer zu werden, doch keiner blickte zurück. Es hätte auch keinen Sinn gehabt. Sie konnten ohnehin nicht mehr tun, als auf den Fleck Tageslicht zuzuhalten und zu rennen, bis ihre Beine schrien.
Die beiden hatten nur Augen für die Götterstatuen gehabt, dachte Daphne, um sich von dem abzulenken, was hinter ihnen einen solchen Lärm machte. Sie hätten sich lieber die Wände ansehen sollen! Allerdings hätten sie natürlich gar nicht gewusst, was sie da sahen! Welch ein Glück, dass ich hier bin… in gewisser Weise.
Etwas knirschte unter ihren Füßen. Sie riskierte einen kurzen Blick nach unten, und ein kleines Knochenstück sprang an ihr vorbei.
»Sie sind direkt hinter uns!«
»Ich weiß«, sagte Mau. »Lauf schneller!«
»Ich kann nicht! Der Staub wird mich ersticken!«
»Geschieht nicht! Gib mir deine Hand!«
Mau verlagerte das Gewicht des alten Priesters auf seinem Rücken und griff nach ihrer Hand, wodurch er sie fast von den Beinen gerissen hätte. Maus Füße stampften über den Fels, als würden sie von Dampf angetrieben. Daphne hingegen konnte sich nur immer wieder vom Boden abstoßen, wenn er ihr zu nahe kam, damit sie nicht einfach mitgeschleift wurde.
Endlich kam der Kreis aus Tageslicht näher, und nachdem er so lange so winzig gewesen war, wurde er nun schnell größer.
Der uralte Staub brannte auf der Haut und kratzte in der Kehle, als er plötzlich über ihren Köpfen hinwegschoss und sie vom Tageslicht abschnitt.
… dann brachen sie durch die Wolke und stürmten hinaus ins Licht der untergehenden Sonne, das nach der Düsternis des Tunnels übermäßig hell wirkte. Es blendete sie so stark, dass Daphne glaubte, in ein Meer aus Weiß zu fallen, das an die Stelle der Welt getreten war. Auch Mau konnte offenbar nichts mehr sehen, denn er hatte sie losgelassen. Ihr blieb nur noch, die Arme um den Kopf zu legen und darauf zu hoffen, dass sie weich landete. Sie stolperte und schlug der Länge nach hin, während der Staub der Großväter nach vielen tausend Jahren endlich die Freiheit erlangte und vom Wind über den Berg davongetragen wurde.
Es wäre nett gewesen, wenn sie tausend leise Stimmen gehört hätte, die in der Ferne verhallten, als die Wolke im Wind verflog, aber zu ihrem Bedauern geschah das nicht. Die Wirklichkeit war oft so enttäuschend, wenn es um kleine Details ging, die einfach gut gepasst hätten, dachte sie. Dafür hörte sie jetzt Menschen, und allmählich kehrte ihr Sehvermögen zurück. Immerhin konnte sie schon den Boden vor ihrem Gesicht erkennen, als sie sich vorsichtig hochstemmte.
Das trockene, staubige Gras raschelte leise, und dann trat jemand in ihr Blickfeld.
Es waren Stiefel! Große, derbe Stiefel mit dicken Schnürsenkeln, voller Sand und Salz! Und über den Stiefeln waren Hosen!
Echte, schwere Hosenmenschenhosen! Sie hatte ja gesagt, dass er kommen würde, und nun war er da! Und sogar genau im richtigen Augenblick!
Sie stand auf, und der Schock traf sie wie ein Schlag mit einer Schaufel.
»Na, so was, Eure Ladyschaft, welch glücklicher Zufall«, sagte der Mann und grinste breit. »Also ist die alte Judy hier gelandet, wie? Wer hätte gedacht, dass der alte Mistkerl Roberts das fertig bringt? Hat ihm aber trotzdem nichts genützt, wie ich sehe, denn es scheint mir doch wohl seine Mütze zu sein, die der Bimbo da drüben auf dem Kopf trägt. Was haben die mit dem alten Narren angestellt? Ihn gefrühstückt? Bestimmt, ohne vorher ein Tischgebet zu sprechen. Ich wette, das hat ihn ganz verrückt gemacht!«
Foxlip! Zwar nicht der schlimmste der Meuterer, aber das hatte nicht viel zu bedeuten, da zwei Pistolen in seinem Gürtel steckten. Und denen war es gleichgültig, wer den Abzug drückte.
Fast alle Inselbewohner waren auf der Lichtung versammelt. Sie hatten die Männer vermutlich hier heraufgeführt. Aber warum auch nicht? Daphne hatte seit Wochen nur davon gesprochen, dass ihr Vater sie bald finden würde. Die meisten von ihnen hatten wahrscheinlich noch nie zuvor einen Hosenmenschen gesehen.
»Wo ist Ihr Freund, Mr. Foxlip? Ist Mr. Polegrave bei Ihnen?«, sagte sie und rang sich sogar ein Lächeln ab.
»Zu Diensten, Fräulein«, sagte eine raue Stimme.
Sie erschauderte. Polegrave! Und zu allem Übel auch noch da, wo sie ihn nicht sehen konnte. Er hatte sich von hinten an sie herangeschlichen, wie es von diesem schleimigen, kleinen Wurm auch nicht anders zu erwarten war.
»Wird Mr. Cox ebenfalls noch zu uns stoßen?«, fragte sie und bemühte sich, das Lächeln aufrechtzuerhalten.
Foxlip ließ seinen Blick über das kleine Tal streichen. Er zählte Menschen. Daphne sah, wie sich seine Lippen bewegten.
»Cox? Nein. Den hab ich erschossen«, sagte Foxlip. Lügner, dachte sie. Das würdest du niemals wagen. Dazu fehlt dir der Mut. Und so dumm bist nicht einmal du. Wenn du ihn verfehlt hättest, hätte er dir das Herz aus dem Leib gerissen. Gütiger Himmel, noch vor wenigen Monaten hätte ich einen solchen Satz nicht einmal denken können! Wie sehr konnte man seinen Horizont denn erweitern?
»Gut gemacht«, sagte sie.
Die Gedanken wirbelten in ihrem Kopf herum. Zwei Männer mit Pistolen. Und sie würden nicht zögern, sie zu benutzen. Wenn sie auch nur ein falsches Wort sagte, würde jemand sterben. Sie musste sie von hier wegbringen sie wegbringen und ihnen ins Gedächtnis rufen, dass eine Gouverneurstochter für sie wertvoll sein konnte.
»Mein Vater würde Ihnen viel Geld zahlen, wenn Sie mich nach Port Mercia bringen, Mr. Foxlip«, sagte sie.
»Oh, ich wage sogar zu behaupten, dass es so oder so ans Bezahlen gehen wird, ja, das behaupte ich«, sagte Foxlip und blickte sich erneut um.
»Es gibt genügend Mittel und Wege, O ja. Und Sie haben sich hier also zur Königin der Wilden krönen lassen, wie? Ein weißes Mädchen ganz allein unter diesen Wilden. Welch schreckliche Schande. Ich wette, Sie sehnen sich nach etwas zivilisierter Gesellschaft, zum Beispiel der zweier kultivierter Herren wie unsereins. Nun, ich spreche zwar von uns, aber Mr. Polegrave hier neigt zu der fragwürdigen Angewohnheit, sich seinen Zinken am Ärmel abzuwischen. Aber wie wir ja alle wissen, haben unsere Bischöfe weitaus Anstößigeres getan.«
Im Nachhinein dachte sie, dass es wirklich hätte klappen können, wenn Ataba nicht gewesen wäre.
In der unterirdischen Finsternis hatte der alte Mann die Götter gesehen. Und nun war er ganz und gar von dieser heiligen Erinnerung erfüllt. Außer Atem und verwirrt, aber glücklich – jede Ungewissheit war mit dem Staub der Geschichte fortgeweht worden. Sie waren tatsächlich nur aus Stein, doch in ihrer verborgenen Heimstatt hatten sie geleuchtet, und er war sich ganz sicher, dass sie zu ihm gesprochen und ihm gesagt hatten, alles, woran er glaubte, sei die Wahrheit, und dass er in dieser neuen Welt ihr Prophet sein würde, der auf den brennenden Flügeln der Gewissheit aus der Dunkelheit emporstieg.
Und dann waren da plötzlich… Hosenmenschen! Die ewigen Unglücksbringer! Eine Krankheit, die ihre Seelen schwächte!
Sie brachten Stahl und Rindfleisch und böses Werkzeug, das die Menschen faul und dumm machte! Nun jedoch war das heilige Feuer in ihm entfacht worden – gerade noch rechtzeitig.
Alle hörten, wie er uralte Flüche schrie und mit laut knackenden Knien über die Lichtung marschiert kam. Daphne verstand allerdings so gut wie nichts. Die Worte ratterten aus ihm heraus, und jedes einzelne wollte sich zuerst Gehör verschaffen.
Wer konnte schon wissen, was seine glühenden Augen wirklich sahen, als er einem jungen Mann den Speer abnahm und ihn drohend in Foxlips Richtung schwenkte…
… der ihn kurzerhand erschoss.