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Die todgeweihte Zauberin

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Irgendwie war es eine Enttäuschung für Alanna, als sie feststellen musste, dass es den Blutigen Falken in ihrer Abwesenheit recht gut ergangen war und dass keinerlei Probleme aufgetaucht waren, die Kara und Kourrem nicht mit Umar Komms Hilfe hätten bewältigen können. Die Mitglieder der Zauberschule lernten gerade die vielen Formen der Feuermagie, in deren Erforschung Alanna nur so weit gegangen war, wie sie für gut befand. Einen Nachmittag lang nahm Alanna die Schamanen in Anspruch, damit sie sich mit Blitz, ihrem Schwert, befassten, das trotz der vielen Zaubersprüche, die sie ausprobiert hatte, noch immer zerbrochen war. Doch ihre Bemühungen, es zu reparieren, blieben weiterhin erfolglos. Beim letzten Zauber wurden mehrere Zelte umgeweht, und Halef Seif befahl ihnen ihre Versuche einzustellen, solange sie sich in der Umgebung des Dorfes aufhielten.

Entmutigt ritt Alanna häufig allein aus. Dabei kehrte sie ganz bewusst erst nach Sonnenuntergang zurück, damit sie den Augenblick verpasste, wo sich die Stammesmitglieder mit der Stimme der Stämme in Verbindung setzten. Jon fehlte ihr nur in diesen Augenblicken. Georg jedoch vermisste sie mit einem dumpfen Schmerz, der nicht weggehen wollte, denn von allen Leuten war er der Einzige, der sie zum Lachen brachte.

Gerade striegelte sie Moonlight nach einem Ausritt und überlegte, was sie nun machen wollte, als Halef Seif sie fand.

»Du bist ruhelos«, bemerkte er. »Was bekümmert dich?«

Sie legte die Kämme weg. »Weißt du, dass ich vor sechs Tagen meinen ersten Jahrestag als Ritterin feierte?«

»Coram erwähnte es«, sagte der Häuptling.

»Jahrestage bringen mich zum Nachdenken. Mir fiel alles ein, was geschehen ist, seit ich meinen Schild errang.« Sie fielen in Gleichschritt und gingen zu dem Hügel, der das Dorf überblickte.

»Du hast den herzoglichen Zauberer getötet.«

»Weißt du, Halef Seif, davon träume ich jetzt nicht mehr so oft. Vielleicht war es eine unnötige Tat, vielleicht habe ich voreilig gehandelt. Aber es ist vorbei. So viel ist seitdem passiert. Ich kam hierher, ich traf dich, Kara und Kourrem ...« »Und Ishak«, erinnerte er sie, als sie langsam auf den Hügel stiegen.

Alanna nickte und verzog traurig den Mund. »Ich glaube, das, was Ishak zustieß, lehrte mich, dass ich mich nicht selbst für Dinge bestrafen darf, die aus und vorbei sind. Ich musste ja schließlich Karas und Kourrems Ausbildung weiterführen, ich durfte mich nicht damit aufhalten, ihn zu betrauern. Und auf die Mädchen bin ich stolz.«

»Auf derartige Schüler kann jeder Schamane stolz sein. Und eigentlich auch jeder Stamm.« An der Hügelspitze bedeutete er ihr mit einer Verbeugung, sie solle sich auf einen oben abgeflachten Stein setzen. Lachend wischte ihn Alanna sauber. Dabei sah sie, dass er von schwarzen Hecken umgeben war. Sie stammten von den Zaubersprüchen, die sie hier mit ihren Lehrlingen geübt hatte. Auch Brandflecke waren zu sehen, die bei Jonathans Ritual entstanden waren, das ihn zur Stimme der Stämme gemacht hatte.

Sie setzte sich. Halef Seif kniete sich neben sie und betrachtete das Dorf.

»Komisch, seit ihr hierherkamt, habe ich mehr als jemals zuvor über andere Frauen erfahren. Pagen und Knappen verbringen kaum Zeit mit Frauen und außerdem ...« Sie lächelte. »Ich war dafür bekannt, dass ich schüchtern war, was Mädchen betraf.«

Halef lachte in sich hinein. »Und jetzt hast du entdeckt, dass du dein eigenes Geschlecht magst?«

»Wie könnte ich die anderen Frauen nicht mögen?«, wollte Alanna wissen. »Vor allem, nachdem ich Kara und Kourrem, Mari Fahrar und Farda kennenlernte? Jetzt komme ich mir als Frau längst nicht mehr so fremd vor wie damals, bevor ich herkam.«

»Aber nun musst du weiterziehen?«, fragte Halef Seif freundlich.

»Ich hasse es, wenn ich nichts Sinnvolles mache«, gab sie zu. »Nach all den Jahren, in denen ich entweder lernte oder meinen Aufgaben im Palast nachging, ist mir das Arbeiten zur Gewohnheit geworden. Jetzt, wo Kara und Kourrem so gut zurechtkommen, gibt es nichts mehr zu tun für mich. Ich habe gedacht, ich könnte vielleicht mit Coram Richtung Süden reiten, um zu sehen, was ich dort vorfinde.«

»Ich hätte eine Aufgabe für dich, wenn du sie übernehmen magst.« Die Stimme des Häuptlings klang plötzlich zaghaft, was sie bei ihm gar nicht kannte.

»Sag mir, worum es geht.«

Er lächelte gequält. »Ich habe eine Bekannte. Sie ist Zauberin in einem Dorf namens Alois, das in der Gegend vom Tirragensee im Hügelland liegt. Seit drei Nächten träume ich, dass sie in Lebensgefahr schwebt und dass uns ein Feuer trennt.« Er schüttelte den Kopf. »Wir wuchsen zusammen auf, bis sie ihre Zaubergabe entdeckte. Sie konnte nicht bleiben. Damals gab es keine Frau-die-wie-ein-Mann-reitet, die sagte, sie könnte Schamanin werden. Aber sie kehrt oft hierher zurück.«

Ist sie dafür verantwortlich, dass Halef Seif niemals heiratete?, überlegte sich Alanna.

»Ich würde sie selbst besuchen gehen, doch eine derartige Freiheit kann ich mir wegen meiner Pflichten hier nicht ...«

Alanna legte ihm die Hand auf den Arm. »Ich gehe. Mach dir keine Sorgen um deine Bekannte! Wenn sie in irgendwelchen Schwierigkeiten ist, werde ich mein Möglichstes tun, ihr zu helfen.«

Einen Augenblick lang legte er seine Hand auf die ihre, seine Sorgenfalten glätteten sich ein wenig. »Ich danke dir, Alanna.«

 

Alois lag fünf Tagesritte entfernt im Norden. Der Weg führte durch das Hügelland. Statt ihrer Burnusse zogen Coram und Alanna für die Reise Lederkleidung und Rüstungen über und Alanna stellte sicher, dass ihr unbedeckter Löwenschild deutlich sichtbar war. Als Bazhir gekleidet hätten sie möglicherweise mit Schwierigkeiten rechnen müssen. In der Aufmachung von Tortaller Soldaten begegneten sie keiner Menschenseele.

Trusty blieb auf dem ganzen Ritt in Alannas Nähe und unternahm keinen einzigen Streifzug, woran sie ablesen konnte, dass sich ihr Kater Sorgen machte. »Was wird geschehen, wovon du mir nichts verrätst?«, fragte sie schließlich, als sie den Wegweiser passierten, der anzeigte, dass sie sich dem Dorf näherten.

Ich weiß nicht, bekannte Trusty. Ich habe nur einfach so ein seltsames Gefühl. Er machte es sich in seinem Korb bequem, zuckte dabei aber erregt mit der Spitze seines Schwanzes.

In Anbetracht dessen, dass sie erst Januar hatten, war der Tag wunderschön. Ein warmer Wind wehte; der Schnee war weggetaut. Alanna erwartete, dass Kinder draußen vor den Hütten spielten, die allmählich dichter standen, als sie sich dem Dorf näherten, aber niemand war zu sehen. Falls es Leute gab, die sie von ihren Behausungen aus beobachteten, gab es keinerlei Anzeichen dafür. Als sie ein Geräusch hörte, fuhr sie in ihrem Sattel herum. Coram holte gerade seinen runden Lederschild aus der Segeltuchumhüllung. Sein Gesichtsausdruck wirkte entschlossen.

»Mir gefällt nicht, dass hier so etwas in der Luft liegt«, gab er zu. »Dir?«

Alanna zog eine Grimasse. Sie löste die Riemen, mit denen ihr Schild mit der drohend aufgerichteten Löwin auf Moonlights Hinterbacken befestigt war, nahm ihn in die Linke und zog mit der Rechten das Kristallschwert. Es summt mich nicht mal mehr an, dachte sie verwundert. Plötzlich hörte sie lautes Geschrei. Was die Leute schrien, war nicht auszumachen, doch die Stimmen schallten von der Dorfmitte her.

Wachsam um sich blickend, trabten sie in Richtung der Schreie. Keiner kam ihnen entgegen, um sie zu begrüßen. Die Hütten des eigentlichen Dorfes lagen so verlassen da wie jene außerhalb.

Auf dem großen, offenen Platz im Herzen des Dorfes hatte sich eine Menschenmenge versammelt. Ein großer, knochiger Mann in zerlumpten, grauen Kleidern stand auf einer Plattform, wo er die Umstehenden weit überragte. Alannas Sinne prickelten, da sie mit einem beklommenen Gefühl etwas erkannte, als sie mit Coram zusammen unter dem Dachvorsprung einer großen Hütte Halt machte. Sie sahen sich um, ob außer den Dorfbewohnern, die Stöcke und landwirtschaftliche Gerätschaften schwenkten, noch bewaffnete Männer da waren, und warteten ab, was da eigentlich vor sich ging.

»Yahzed wird sich eurer Seelen bemächtigen!«, brüllte der Mann auf der Plattform. Seine weit aufgerissenen Augen leuchteten vor fanatischer Freude. Hinter ihm ragte ein hoher Pfosten zum Himmel auf, bei dessen Anblick Alanna der Schweiß ausbrach. Wo hatte sie dieses Bild schon einmal vor Augen gehabt? »Yahzed ist wütend; er ist außer sich vor Zorn! Gehorcht seinem Befehl! Reinigt euch von dem alten Übel, oder Yahzed wird mit Seuchen und Hungersnot kommen, und dann wird er euch reinigen! Gehorcht dem Diener Yahzeds! Nur dann werdet ihr dem Zorn des Gottes der Steine entgehen!«

Eine Schar von Männern hatte sich um den hohen Pfahl zusammengerottet. Sie schienen mit irgendjemandem zu kämpfen. Jetzt fiel es Alanna wieder ein: Diesen Ort und den Wahnsinnigen hatte sie schon zweimal gesehen; aber nur in der zweiten Vision, in der, die ihr kurz vor Ishaks Tod erschienen war, hatte sie auch eine am Pfahl verbrennende Frau gesehen.

»Dieser Yahzed ist einer der Götter Scanras, glaube ich. Ein ekelhafter Kerl, ein verbissener Feind von Hexerei und jeglicher Art von Magie ...«, flüsterte Coram.

Alanna zog die Stirn in Falten. Wieso hatte ihr die Göttin diese Vision geschickt? Welche Bedeutung hatte sie?

Der Geruch von brennendem Holz stieg ihr in die Nase. Jemand schrie in Todesangst.

»Jetzt erledigt ihr Yahzeds Arbeit!«, schrie der Priester. »Verbrennt die Zauberin! Reinigt das Dorf von diesem Makel!« Die Leute brüllten vor Genugtuung; die Frau auf dem brennenden Scheiterhaufen stieß wieder einen Schrei aus.

Alanna reagierte. Noch vor einem Jahr hätte sie gezögert. Vor einem Jahr war sie noch nicht Schamanin der Bazhir gewesen. Purpurfarbene Feuerblitze flammten aus ihren Händen auf und stießen diejenigen zu Boden, auf die sie trafen. »Nein!«, schrie sie. Als sich die Dorfbewohner umdrehten, um sich auf sie zu stürzen, zückte sie ihr Kristallschwert und ließ zu ihren Füßen einen Graben in der Erde entstehen.

»Dämonin!«, rief der Priester. Er hielt einen langen, schwarzen Anhänger empor, der die Form eines Sternes hatte. Der Juwel in seiner Mitte blitzte in der Sonne und fing Alannas Blick ein, doch diesen Trick hatte man schon mal mit ihr versucht, und Herzog Roger hatte sich wesentlich geschickter dabei angestellt. Sie streckte die Hand aus, hielt ihren Löwenschild zwischen sich und den Priester und wisperte Zauberworte. Der Priester kreischte auf, als erst der Juwel und dann der ganze Anhänger bebte und in seiner Hand zu tausend Stücken zersprang.

Mit verbissener Miene ritt Alanna vorwärts, gefolgt von Coram. Vor ihr stand Trusty aufrecht im Sattel, machte einen Buckel, sträubte das Fell und fauchte vor Wut. Schreiend und eine Hacke schwingend, kam ein Dorfbewohner auf Alanna zugerannt. Coram drängte sich auf seinem Braunen dazwischen. Er stieß den Mann mit der flachen Seite seines Breitschwerts beiseite. Mehrere Steine flogen vorbei, einer traf Alanna am Kopf. Einen Augenblick lang schwankte sie benommen. Wut stieg in ihr auf und schoss als magischer Blitz aus ihrem Kristallschwert hervor, der drei der Steinwerfer durch die Luft schleuderte. Die Dorfbewohner ergriffen die Flucht.

Alanna warf Schwert und Schild beiseite.

Dann hob sie beide Hände zum wolkenlos klaren, azurblauen Himmel empor. »Göttin!«, rief sie ihre Schutzpatronin an. »Gebt mir Regen!«

Einen Moment lang stand die Zeit still. Dann begann der Glutstein in einem langsamen, majestätischen Rhythmus zu pulsieren; große Gewitterwolken schoben sich vor die Sonne. Ein ohrenbetäubender Donnerschlag ertönte, dann strömte Regen vom Himmel herab, der das Feuer am Pfahl löschte.

»Ich dank dir, Muttergöttin«, flüsterte Alanna, die nun, da sie ihre Zauberkraft so stark in Anspruch genommen hatte, die ersten quälenden Anzeichen von Erschöpfung verspürte. Mit einem Dolch in der Hand stürzte sich der Priester auf sie, doch Trusty machte einen Satz und landete in seinem Gesicht. Schreiend versuchte der Fanatiker, den Kater loszuwerden, bis Coram dem Geschrei mit einem Hieb seines Schwerts ein Ende bereitete.

»An so einen Kerl solltest du nicht deine Kraft verschwenden«, riet er dem Kater, der sich gerade von dem Körper des Mannes löste.

Am Pfosten angekommen, schnitt Alanna die Frau los, die man hatte verbrennen wollen. Sie fiel zwischen den immer noch schwelenden Holzscheiten auf die Knie, ohne sich ihrer Schmerzen oder des Regens gewahr zu werden.

Coram trat ebenfalls dazu, zog die verletzte Frau in seinen Sattel und hielt sie behutsam fest. »Wir müssen weg von hier!«, schrie er über das Donnergrollen hinweg. »Die kommen besser bewaffnet wieder, da bin ich mir sicher!«

»Ihr habt unseren Priester umgebracht!« Ein junger, mit einer langen Axt bewaffneter Mann kam näher. »Dafür wird uns sein Gott verantwortlich machen!«

Alanna stieg vom Pferd und zog die kristallene Klinge. »Verschwinde von hier!«, befahl sie Coram und legte den Schild wieder auf ihrem Arm zurecht. Der ehemalige Soldat zögerte, da schrie sie: »Tu, was ich dir sage! Bevor die Dorfbewohner kommen!«

Mit finsterer Miene gehorchte er. Alanna wandte sich dem bewaffneten jungen Mann zu. »Sei nicht dumm!«, sagte sie. »Ich bin zum Ritter ausgebildet, gegen mich hast du nicht die geringste Chance!«

»Du lügst!« Der Mann griff an. Daran, wie er die Axt hielt, konnte man ablesen, dass er geübt war im Umgang mit dieser Waffe. Alanna fing die fallende Axt mit dem Schild auf und stieß sie beiseite. Mit der gleichen Bewegung ließ sie ihre kristallene Klinge unter dem Schild hervorschnellen. Der Mann sprang zurück, glitt im Schlamm aus, und Alanna trennte mit einem einzigen Hieb das Axtblatt vom Schaft. Die Kristallklinge summte und erfüllte sie mit der krankhaften Freude am Töten, von der sie geglaubt hatte, sie habe sie aus dem Inneren ihrer Waffe vertrieben. Alanna taumelte, ihr Blick hatte sich getrübt.

Der junge Mann stieß einen Freudenschrei aus. Mit dem Axtstiel versetzte er ihr einen heftigen Schlag auf die ungeschützte rechte Körperseite. Sie stürzte auf die Knie. Gerade noch rechtzeitig, bevor der Knüppel auf ihren Kopf heruntersauste, bekam sie den Schild hoch. Ein Kreischen, das von der Kristallklinge ausging, gellte durch ihr Bewusstsein und verlangte den Tod des Mannes, der sie attackierte. Alannas Handfläche war so schweißnass, dass sie kaum mehr das Heft ihrer Waffe halten konnte. Ob sich Akhnan Ibn Nazzir wohl genauso fühlte wie ich jetzt, als er all seine Lebenskraft nutzte und mich zu töten versuchte?, überlegte sie sich. Sie warf das Schwert beiseite, stemmte sich vom Boden hoch und rammte den Mann mit dem Schild.

Er schrie auf, stolperte zurück, ließ den Axtstiel fallen. Blitzschnell bückte sich Alanna und hob ihn auf. Dann schob sie sich zwischen das Schwert und den Dorfbewohner, wobei sie ihn nicht aus den Augen ließ.

»Das Schwert hat Zauberkraft«, stieß sie hervor, als er sie anstarrte. »Wenn du es nimmst, bringt es dich um. Wieso sollte ich es sonst wegwerfen?«

»Ich glaube dir nicht«, keuchte er.

»Dann versuch es dir zu holen!« Da er dachte, sie sei nicht flink genug, schnellte er sich zur Seite und dann nach vorn. Alanna ließ den Axtstiel auf seinen Kopf hinabsausen, dass der Mann bewusstlos zu Boden stürzte.

Einen Moment lang wankte sie. Dann sammelte sie Kraft, um sich hinzuknien und nachzusehen, ob sie ihn getötet hatte. Sein Puls war kräftig. Auf dem Kopf hatte er eine Beule, doch ihrer Meinung nach würde er überleben.

»Vielleicht wirst du jetzt keine fremden Ritter mehr attackieren«, flüsterte sie und wischte sich den Schweiß vom Gesicht. Dann hob sie das Kristallschwert auf und steckte es in die Scheide zurück. Von der Zauberkraft war nichts mehr zu spüren.

»Vielleicht war das sein letzter Versuch, mich zum Töten anzustiften«, erklärte sie Trusty, der sich in Sicherheit gebracht hatte.

Willst du darauf wetten?, erkundigte er sich.

Alanna ergriff Moonlights Zügel und stieg in den Sattel. »Auf keinen Fall.«

Trusty sprang in seinen Korb und Alanna ritt los, doch am Rand des Dorfplatzes machte sie noch einmal Halt und blickte zurück. Von flackernden Blitzen beleuchtet, stand der Pfahl noch immer da. Alanna deutete darauf und sprach ein einziges, mächtiges Wort. Der Pfosten wurde aus der Erde gerissen, als sei er ein aus einem Bogen abgeschossener Pfeil. Dabei barst er in Stücke, die nicht größer waren als Zahnstocher.

Bei dem Wegweiser, den sie am Morgen gesehen hatten, machten Alanna und Coram Halt. Hastig breitete die Ritterin eine Decke über das nasse Gras und Coram legte behutsam die Zauberin darauf. Die Frau, die sie gerettet hatten, war um die vierzig, ihr Haar war dunkel, ihre Augen waren tiefbraun. Sie war mit alten und neuen Verletzungen übersät, ihr Mundwinkel war durch ein Rinnsal frischen Blutes gezeichnet, und sie hatte schwere Brandwunden.

Alanna nahm ihre Hand und fühlte mit ihrer Gabe in sie hinein, obwohl sie schon wusste, was sie vorfinden würde. »Verbrauch deine Kraft nicht, Kind!« Die Stimme der Frau klang heiser. »Ich weiß, dass ich sterben muss.«

Alanna war elend zumute, als sie zurückwich. »Woher habt Ihr diese tiefen Wunden?«

»Sie haben mich gestern gesteinigt«, war die Antwort. »Meine armen Kinder, wer wird jetzt auf sie aufpassen?«

»Mit denen habt Ihr Mitleid?«, fragte Coram fassungslos.

»Es war ein schrecklicher Winter«, flüsterte sie. »Die Nahrung wurde knapp. Yahzeds Priester sagte ihnen, es sei meine Schuld. Die Lebensmittelvorräte würden sich von selbst erneuern, wenn sie mich töten würden. Sie hatten Hunger.«

»Idioten«, brummte Coram.

Die Zauberin nahm Alannas Hand. »Ihr beide schenkt mir einen Tod, wie ich ihn mir nicht erhoffte – friedlich unter Freunden liegend. Halef Seif sandte euch?« Alanna nickte. »Ich betete darum, dass er mir helfen möge. Ihr dürft niemals denken, dass ihr zu spät kamt. Mein Leben war zu Ende, als sie vor einer Woche Hand an mich legten. Wie konnte ich weiterleben, wo ich doch wusste, dass diejenigen, die ich zur Welt brachte und liebte, mich tot wollen?« Sie drückte Alannas Hand und sagte: »Öffne mir dein Herz!«

Alanna spürte die Zauberin als freundliche, sanfte Gegenwart in sich, was ihre Bitterkeit über den nahenden Tod der Frau milderte. Eine Sekunde später ließ die ältere Frau Alannas Hand los. Sie schwitzte und zitterte von der Anstrengung. »Du bist diejenige, die ich brauche«, keuchte sie. »Hör zu, Alanna von Trebond. Ich habe ein Geschenk für dich. Wirst du es nehmen?«

Alanna berührte den Glutstein. Er war warm, aber nicht heiß. Was die Zauberin zu sagen hatte, musste wichtig sein. »Fahrt fort!«

Die zerschundenen Lippen der Frau öffneten sich zu einem Lächeln. »Hör gut zu! Du hast das Wissen, dein zerbrochenes Schwert zu flicken. Es liegt in dem Zauberspruch, der dich mit dem Stamm des Blutigen Falken und mit deinem Adoptivvater vereint. Es liegt in dem Spruch, der den Prinzen zur Stimme der Stämme machte. Nimm das Kristallschwert, auf dass es eins werde mit deiner eigenen Klinge! Du wirst es brauchen: Tortall schreitet einer dunklen Zeit entgegen.«

Alanna nickte und biss sich auf die zitternde Lippe.

Die Zauberin griff in ihr zerrissenes Kleid und zog einen angesengten, prall gefüllten Umschlag aus Seide hervor. »Ich hätte ihn verbrennen lassen, doch nun kannst du ihn Halef Seif überbringen. Er wird wissen, was zu tun ist.« Sie schauderte, ihre Gliedmaßen zuckten. Als der Schüttelkrampf vorüber war, sagte sie: »Lass dich durch nichts davon abhalten, den Umschlag Halef Seif zu übergeben!«

»Ich werde es tun«, versprach Alanna. »Sorgt Euch nicht.« Die Frau nickte. »Ich bin so müde«, wisperte sie. »Ich danke dir.« Sie lächelte Trusty zu. »Ich danke euch allen dreien.« Plötzlich wurde ihr Atem flach. »Sagt Halef Seif, dass ich auf ihn warten werde, wenn auch er die Reise antritt ...« Ihre Stimme wurde leiser und verklang; gleich darauf verstummte ihr Atem. Alanna schloss ihr sanft die Augen. Tränenüberströmt stand sie auf.

Coram begrub die Zauberin. »Weißt du überhaupt, wie sie hieß?«

Alanna schüttelte den Kopf. Sie sah zu, wie ihr Begleiter den letzten Rest Erde auf das Grab schaufelte. »Halef Seif hat ihren Namen nie erwähnt, genauso wenig wie sie selbst.«

»Ein Jammer, dass sie nicht mal einen Grabstein kriegt«, sagte Coram düster. »Aber wenn wir ins Dorf zurückgehen und uns nach ihrem Namen erkundigen, dann kostet uns das den Kopf.«

»Sie soll einen Grabstein kriegen«, flüsterte Alanna.

Du hast nicht die Kraft, warnte Trusty. Wann wirst du endlich lernen, rechtzeitig aufzuhören?

»Diese eine Sache mach ich noch«, gab sie zurück. »Tretet beiseite! Alle beide.«

Als Coram und Trusty gehorchten, ballte sie die Hände zu Fäusten. Es gab keinen Zauberspruch für das, was sie vorhatte, aber sie war fest entschlossen sich dadurch nicht abhalten zu lassen. Wenn es stimmte, dass es bei Magie vor allem auf den Willen ankam, dann musste sie nur der Erde sagen, was sie brauchte. Genau das tat sie nun. Der Boden am Kopfende des Grabes bebte, während sie mit ihrem Bewusstsein daran zerrte. Als sie ihre fest zusammengepressten Augen wieder öffnete, stand eine Säule aus Granit da, um das Grab zu markieren. In tief eingegrabenen Lettern war darauf geschrieben: »Hier liegt die Zauberin von Alois, die ihre Mörder liebte.«

 

Nun übernahm Coram das Kommando und brachte sie so weit wie möglich vom Dorf fort. Sie war halb ohnmächtig, als er einen Lagerplatz auswählte. Erschöpft sank sie zu Boden und erwachte kaum, als Coram sie in ihre Bettrolle wickelte. Am nächsten Morgen gelang es ihm nicht, sie aufzuwecken. Da Trusty nicht beunruhigt schien, richtete er sich auf einen Ruhetag ein, behielt seine Herrin und Ritterin im Auge und schnitzte ein wenig.

Gerade ging die Sonne unter, als Alanna aus einem Traum erwachte:

Der Thronsaal war voll mit Leuten, König und Königin saßen auf ihren Thronen, neben dem König stand Herzog Gareth, neben der Königin Jonathan. Obwohl sie die Szene klar vor sich sah, hörte sie aus den Münden der Anwesenden keinen Ton kommen. Ihre Freunde sahen mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Entsetzen zu, wie Thom dem Königspaar einen Mann vorstellte. Dieser drehte sich um und blickte Alanna in die Augen: Es war Roger von Conté. Klar und deutlich hörte sie ihn sagen: »Mich bringt man nicht so leicht um, was, Löwin? Das hast du deinem Bruder zu verdanke. Und vergiss nicht, mir mein Schwert wiederzugeben!«

Mit einem Ruck setzte sie sich auf. Ihre Kleider waren feucht vor Schweiß.

»Hast du mal wieder Alpträume?«, erkundigte sich Coram, der in einem Fleischeintopf rührte. Es war fast dunkel. »Träume sind nicht real, mein Mädchen. Hier, iss was!«

Während sie aßen, erzählte sie ihm ihren Traum. Der Anblick ihres Lagerfeuers und von Trusty, der mit Holzspänen spielte, beruhigte sie schließlich.

»Manchmal frage ich mich, ob ich nicht will, dass er zurückkommt«, seufzte sie und stellte ihre Schale beiseite. »Unsinnig, nicht?«

Coram blies versuchsweise einen Ton auf der Flöte, die er geschnitzt hatte. »Na ja, es gab ungeklärte Dinge zwischen euch beiden«, kommentierte er. »Und denk mal nach! Nicht jedem von uns ist es gegeben, einen wirklich mächtigen Feind zu haben. Deiner war der Herzog. Problematisch ist, dass einem das Leben ein bisschen leer vorkommen mag, nachdem man so ’nen Feind bezwungen hat. Du hast so viel Zeit damit verbracht, über den Kerl nachzudenken, und jetzt ist er plötzlich nicht mehr da und er kann dir keine Sorgen mehr machen.«

»Du glaubst also nicht, dass es – nun ja, dass es ein prophetischer Traum war?«

»Hast du denn schon mal welche gehabt?«

»Nein. Visionen manchmal, aber keine Träume.«

»Kommt mir unwahrscheinlich vor, dass du so spät noch damit anfängst. Deine Träume sind Träume, weiter nichts.« Mit Unbehagen sah er zu, wie sie das Kristallschwert und Blitz, ihre eigene, aus zwei Teilen bestehende Klinge, vor sich legte. »Was hast du denn jetzt schon wieder vor?«

»Sie hat mir gesagt, wie ich Blitz reparieren kann. Und das werde ich tun.«

Trusty kam herbei und setzte sich neben sie. Coram wich zurück. Einen Moment lang starrte Alanna grollend auf die beiden langen Narben an ihrem rechten Unterarm, dann zog sie zähneknirschend daneben einen dritten Schnitt mit ihrem Dolch und ließ ihr Blut auf die beiden Schwerter tropfen. Ein rauer Wind kam auf; das Lagerfeuer brannte purpurfarben.

»Eins«, flüsterte Alanna, schloss die Augen und suchte mühsam nach den besten Worten. »Kristallen und ganz, unzerbrechlich, stark. Eins – Kristall im Heft, glatter Stahl, in zwei Teile zerbrochen.« Staub peitschte ihr ins Gesicht. »Zwei ...« Sie legte die drei Stücke näher zusammen. »Getrennt, doch zusammen. Sein. Werden.« Energie strömte durch ihren Körper. »Eins!«, schrie sie über den tosenden Wind hinweg. »Eine Klinge, unzerbrechlich und ganz!«

Ein unerträglicher, starker, letzter Energieblitz schoss durch sie hindurch. Sie wurde ohnmächtig.

»So was Idiotisches hab ich noch nie erlebt.« Corams vertrautes Schimpfen drang durch die Dunkelheit, die sie umgab. »Man hätt ja annehmen können, dass du wartest, bis du dich von dem gestrigen Feuerwerk erholt hast. Aber nein.« Alanna schwamm aus dem Dunkel heraus und auf seine Stimme zu. »Nein, du musst beweisen, dass du bist wie Lord Thom und alles zustande bringst.«

Alanna zwang sich die Augen zu öffnen. Matt lächelte sie dem Mann zu, der ihr half sich aufzusetzen. Sie war in ihre Decken gewickelt. »Ich wollte nur mein Schwert flicken. Heute Abend veranstalte ich kein Feuerwerk mehr. Ich verspreche es dir, Coram.«

Er schnaubte. Ganz offensichtlich glaubte er ihr nicht. Vorsichtig hob er etwas hoch und legte ihre Hand darum.

Fast war sie zu müde, es hochzuheben. Oben an dem silbernen Heft war Blitzs abgenutzter, runder Kristall eingelassen. Die Klinge war schmal, wie es die von Blitz gewesen war, und sie bestand aus einem Stahl, der gespenstisch grün schimmerte. Keine fremde Magie und keine Wut waren zu spüren; das Schwert lag gut in ihrer Hand. Während sie es betrachtete, bemerkte Coram: »Du hast dich ganz schön verändert, meinst du nicht? Noch vor ’nem Jahr sagtest du, du wollest nie mehr deine Zauberkraft benutzen. Jetzt bist du Schamanin und erfindest dir deine eigenen Zaubersprüche.«

Alanna lächelte reumütig. »Wenn man versucht, einen Teil seines Selbst zu verleugnen, dann passieren Dinge, die dazu führen, dass man ausgerechnet diesen Teil dringender braucht als den Rest. Ist dir das auch schon mal aufgefallen? Ich hatte Angst vor der Magie, was zum Teil daran lag, dass ich nicht sicher war, ob sie kontrolliert werden kann. Doch das Kristallschwert lehrte mich, dass es möglich ist. Bevor ich zu den Bazhir kam, sah ich eine Menge Magie, die man nur zum Bösen verwendete. Davon wurde ich als Schamanin geheilt. Ich glaube, ich habe jetzt keine Angst mehr vor meiner Gabe. Ich bin es, die sie benutzt – es ist nicht so, dass die Gabe mich benutzt. Nun kann ich den Leuten, meinem Schwur entsprechend, mit meinen Fähigkeiten helfen. Klingt das vernünftig?«, erkundigte sie sich besorgt.

Coram grinste. »So vernünftig, wie etwas klingen kann, was eine Edle von sich gibt.«

»Du hast zu lange mit Dieben gelebt«, erklärte ihm Alanna. Sie befühlte die Schneide ihres Schwertes mit dem Daumen und schnitt sich. Freudestrahlend hob sie Blitz hoch. »jetzt bin ich zu allem bereit!«

»Wo wir gerade davon reden«, sagte Coram, der eben das Feuer für die Nacht mit Asche abdeckte. »Was machen wir jetzt? In welche Richtung wenden wir uns morgen früh?« Gehen mir irgendwohin, wo wir noch nie waren?, wollte Trusty wissen. Sein Schwanz zuckte erregt.

Erschöpft, aber zufrieden kroch Alanna in ihre Bettrolle. »Tja, erst mal müssen wir Halef Seif diesen Umschlag bringen, den uns die Zauberin gab.« Sie gähnte. »Er muss ziemlich wichtig sein, sonst hätte sie nicht versucht, ihn verbrennen zu lassen, damit ihn keiner in die Hände bekam, dem sie nicht vertraute.«

»Gut. Und dann?«

»Ich glaube, dann reiten wir Richtung Süden«, erklärte Alanna ihrem Gefährten. »König Barnesh von Maren hält im April ein großes Turnier ab. Ich will anfangen, mich wieder wie eine Ritterin zu benehmen. Vielleicht erleben wir unterwegs ein paar Abenteuer. Hört sich das gut an?«

Es wird langsam Zeit, knurrte Trusty, der es sich gerade vor ihrer Nase gemütlich machte.

Coram sagte von seiner eigenen Bettrolle her: »Hört sich großartig an. Und jetzt ruh dich aus, Löwin!«

Alanna griff neben sich, tastete nach Blitzs Heft und packte ihr nun wieder heiles Schwert, während sie mit einem müden Lächeln auf den Lippen langsam einschlief. Ihr erstes Jahr als Ritterin war vorüber. Sie hatte überlebt. Und falls irgendwelche Schwierigkeiten vor ihr lagen – nun, sie war bereit dafür.