7
Die Stimme der Stämme

Am nächsten Morgen übergab Alanna ihre Pflichten an Kara und Kourrem. »Auf diese Weise«, erklärte sie, »weiß jeder, dass ihr mit meiner Billigung und meiner Unterstützung wirkt. Habt ihr entschieden, wer von euch oberste Schamanin sein will? Wenn ihr euch über etwas nicht einigen könnt, muss eine von euch die Macht haben die endgültige Entscheidung zu treffen.«
Einen Augenblick lang musterten sich die beiden Mädchen argwöhnisch. Alanna wusste, dass sie ihnen einen schwierigen Entschluss abverlangte, doch wusste sie auch, dass die beiden ihn fassen mussten und nicht sie selbst.
»Kourrem«, sagte Kara. »Sie tut sich nicht so schwer wie ich, Entscheidungen zu treffen. Und sie kann sich unter den Männern besser behaupten.«
Alanna legte den Arm um die Schultern des größeren Mädchens und zog es an sich. »Wenn es nötig wäre, könntest du dich unter den Männern ebenfalls behaupten, Kara.« Sie warf Kourrem einen Blick zu. »Findest du, dass sie recht hat?«
Kourrem zuckte die Achseln und lächelte ironisch. »Ich weiß nicht, ob sie recht hat oder nicht, aber vermutlich bin ich jetzt oberste Schamanin. Sowieso müssen wir uns gegenseitig helfen, wenn wir alles schaffen wollen.«
Alanna hob ihre Heilertasche auf. »Ich sage Halef Seif und Ali Mukhtab Bescheid«, verkündete sie. »Vorerst solltet ihr eure Studien bei den anderen Schamanen fortführen, schlage ich vor.«
In den nächsten zwei Wochen verbrachte Alanna einen Großteil ihrer Zeit mit Ali Mukhtab. Er wurde zusehends schwächer, bestand nur noch aus Haut und Knochen, sein Gesicht war grau, seine Augen glanzlos. Doch irgendwie fand er die Kraft Jonathan zu unterrichten. Stundenlang dröhnte seine eintönige Stimme, während er sich verbissen abmühte den Prinzen in die vielen Gesetze der Bazhir einzuweisen.
In dieser Zeit arbeitete Jonathan schwerer, als ihn Alanna jemals hatte arbeiten sehen – einerseits, um seine Studien zu meistern, andererseits, um die Bazhir-Häuptlinge und – Gesetzesgeber für sich einzunehmen. Gründlich und entschlossen suchte er alle Männer der Reihe nach auf, sprach mit ihnen und entlockte ihnen mit einer Diplomatie, von der Alanna nicht gewusst hatte, dass er sie besaß, ihre Ansichten. Dies waren die Augenblicke, in denen Jonathan am lebendigsten und glücklichsten wirkte. Während der übrigen Zeit war er ruhelos und gereizt, und sobald er mit Alanna allein war, jammerte er über den Sand, die Hitze und seinen Unterricht bei Ali Mukhtab. Er fragte sie nicht, ob sie sich nun entschlossen habe ihn zu heiraten. Darüber war sie froh.
Nur einmal verlor er in aller Öffentlichkeit die Fassung. Als sie nach ihrem morgendlichen Zauberspruch das Zelt der Stimme verließ, fand sie draußen den Prinzen vor, der auf sie wartete. Seinen finsteren Blick kannte sie in letzter Zeit nur allzu gut.
»Komm, wir reiten aus!«, sagte er übergangslos. Ihre Erschöpfung und ihre Blässe schien er nicht zu bemerken. »Ich will für eine Weile weg von hier.«
Sie starrte ihn an. »Jon, das geht nicht. Er ist jetzt bereit für deine Unterweisung.«
»Das ist mir egal«, fauchte der Prinz. »Ich werde unterwiesen, seit ich den Fuß in dieses Dorf gesetzt habe. Ich reite aus.« Damit wandte er sich ab. Sie packte seinen Arm.
»Über deine Langeweile oder was auch immer kannst du reden, so viel du willst, solange du mit mir allein bist«, zischte sie. »Aber der Mann da drinnen klammert sich an seinem Leben fest, weil du wissen musst, was er dir beizubringen hat. Ich würde es wirklich toll finden, wenn du aufhören könntest dich wie ein verwöhnter Junge aufzuführen. Sofern du die Macht der Stimme willst, musst du lernen, was dich die Stimme zu lehren hat!«
»Ich habe ihn nicht darum gebeten, mich auszuwählen!«, zischte Jonathan und schob seine breiten Schultern zwischen sie und die Stammesleute, die sie anstarrten. Die Bazhir waren überrascht, sie im Streit zu sehen, auch wenn sie nicht hören konnten, worum es dabei ging.
»Aber du bist willens zu nehmen, was er dir anbietet!«, zischte sie zurück. »Ausgerechnet du müsstest doch am besten wissen, dass alles seinen Preis hat. Und sag mir bloß nicht, du seiest müde diesen Preis zu bezahlen! Das ist weder die rechte Zeit noch der rechte Ort dafür!« Sie starrte ihn an, bis er wegsah. Ohne ein weiteres Wort betrat er Mukhtabs Zelt. An diesem Abend überschlug Jonathan sich fast vor Zärtlichkeiten und Entschuldigungen. Alannas Wut schwand. Sie liebte ihn aus ganzem Herzen. Aber ihn heiraten?
Am nächsten Abend aß sie allein mit Myles in dem Zelt, das ihr zugeteilt worden war, nachdem sie das größere Kara und Kourrem überlassen hatte. Nach dem Mahl fasste sie sich ein Herz und fragte ihren Adoptivvater um Rat.
»Myles, was passiert, wenn Jon heiratet?«
Der Ritter warf ihr einen scharfen Blick zu. »Die erste Pflicht einer jeden Edelfrau ist es, ihrem Gatten einen Nachkommen zu schenken. Die Erbfolge muss gewährleistet sein, besonders dann, wenn es um einen Thron geht. Das gilt vor allem für die Frau, die Jonathan heiratet. Sollte dem König etwas zustoßen – die Götter mögen es verhüten – und Jon, so ist aus der Linie derer von Conté kein naher Verwandter mehr übrig. Roger hätte die Erbfolge angetreten, wäre er am Leben geblieben – das hatte er ja auch geplant, ich weiß! –, aber nachdem er nun tot ist, ist keiner mehr da. Seinen Vater verlor er, als er noch ein Junge war, seine Mutter starb bei seiner Geburt.«
»Wie meine«, wisperte Alanna.
Myles nickte. »Es ist traurig, aber es passiert leider häufig. Rogers einziger naher Verwandter war der König. Die Contés haben nur selten große Familien«, fügte er mit einem Seufzer hinzu. »Jetzt gibt es nur noch Vettern und Basen vierten Grades. Wenn Jon stirbt, ohne einen Erben zu hinterlassen, gibt es in Tortall einen Bürgerkrieg.«
Alanna wusste nichts zu entgegnen. Myles hatte sie in ihren Befürchtungen bestärkt. Sie kämpfte gegen die Panik an, die in ihr aufstieg. Ich bin noch nicht bereit, Kinder zu kriegen, dachte sie.
»Was?«, sagte sie dann. Myles hatte etwas gefragt.
»Ich wollte wissen, ob du Jon dein Jawort gabst.«
»Ich habe mich noch nicht entschlossen.«
»Nein?« Myles war offensichtlich überrascht. »Daran, wie er sich benahm, meinte ich ablesen zu können, dass du ihm zugesagt hast.«
»Im Ernst?«
»Ich sehe euch häufig genug beisammen. Wenn er sich deiner nicht sicher wäre, hätte ich angenommen, er verwende mehr Zeit darauf, dir den Hof zu machen, dich für sich zu gewinnen. Nun, vielleicht irre ich mich. Allwissend bin ich nicht.« Myles hob Trusty hoch, setzte ihn sich auf den Schoß und kraulte ihn mit sanften Fingern hinter den Ohren. »Wieso hast du dich noch nicht entschieden, falls die Frage gestattet ist?«
»Weißt du noch, dass ich sagte, Jon wolle mich möglicherweise aus den falschen Gründen heiraten?« Myles nickte. »Tja, nichts von dem, was inzwischen passiert ist, hat mich vom Gegenteil überzeugt. Ich weiß, dass er hart arbeitet, dass er sich darauf vorbereitet, das Amt der Stimme zu übernehmen, und dass er sich bemüht die Männer für sich zu gewinnen. Aber wenn er sich nicht gerade mit den Stammesangehörigen befasst, kommt er mir vor – nun ja – wie ein verwöhnter Junge. Den Eindruck hatte ich im Palast eigentlich nie. Irgendwie ist natürlich jeder Prinz ein bisschen verzogen. Wärst du’s nicht auch, wenn dich die Leute unentwegt umschmeichelten?«
»Ich glaube, in diese Gefahr käme keiner von uns beiden«, sagte Myles feierlich und seine Augen strahlten verschmitzt.
»Möglich, dass ihn etwas Verantwortung zur Ruhe bringt«, räumte Alanna seufzend ein. »Ich glaube natürlich nicht, dass er ein schlechter Kerl ist, nein, ich glaube, er ist sogar ein sehr guter. Aber in letzter Zeit weiß ich nicht so recht, ob ich ihn sonderlich leiden mag. Ich sage mir unentwegt, dass er darüber hinwegkommen wird, aber was ist, wenn nicht?«
»Viele junge Frauen würden alles dafür geben, eine solche Chance zu bekommen wie du.« Myles war unmöglich anzusehen, was er dachte.
»Ich nicht«, sagte Alanna gereizt und spielte an ihrem Glutstein herum. »Ich bin glücklich, seit ich hier bin, und das gefällt mir. Ich will es nicht aufgeben. Ich will nicht so gesittet sein, wie das von der Frau eines Edlen erwartet wird. Der König und die Königin würden versuchen, mir auszureden, mich bequem zu kleiden. Möglicherweise würden sie sogar versuchen, mich vom Heilen abzuhalten. Ich könnte nicht mehr hingehen, wo ich will. Keine Risiken mehr, keine Abenteuer.« Sie errötete. »Ich liebe Jon, aber da sind zu viele Fragen, die ich noch beantworten muss. Drängen lasse ich mich nicht. Ich bin nicht sicher, ob ich bereit bin für die Ehe, selbst wenn er es ist.«
Mit Staunen bemerkte sie, dass ihr Adoptivvaters sie stolz betrachtete. »Wenige sind klug genug sich klarzumachen, dass sie möglicherweise noch nicht bereit sind für ein derartiges Wagnis. Zu viele stürzen sich in die Ehe, nur um zu entdecken, dass sie wenig wissen über das, worauf sie sich eingelassen haben. Ich sehe mit Freude, dass du dir die Sache gut überlegst. Übrigens – ich traf Georg Cooper, bevor ich Corus verließ.«
»Wie ging es ihm?« Alanna fragte sich, wieso Myles auf den König der Diebe zu sprechen kam.
»Er bat mich dir auszurichten, er zöge für ein Weilchen nach Caynnhafen. Es scheint, als machten ihm die Schurken dort Ärger, also plant er, sie wieder auf Kurs zu bringen.« Myles zog aus einer versteckten Tasche einen verknitterten Zettel, auf den Georg als Adresse »Haus Azik, Hundegasse« gekritzelt hatte. »Er hofft, du wirst ihn besuchen kommen, falls es deine Pflichten hier zulassen.«
Alanna faltete den Zettel zusammen. Ihr Herz machte einen Satz. Georg wiederzusehen! Dann fiel ihr Jonathan ein. Als zukünftige Braut des Prinzen wäre sie möglicherweise nie mehr in der Lage, Georg allein zu treffen.
»Ich bezweifle, dass ich ihn besuchen kann«, sagte sie und erhob sich. »Entschuldige mich, Myles. Ich will Moonlight etwas Bewegung verschaffen.«
Mit eiligen Schritten ging sie zum Pferdepferch und sattelte die Stute. Sie hörte nicht auf ihren gesunden Menschenverstand. Zwar hatten sich die Männer aus den Hügeln seit Ishaks letztem Kampf nicht mehr in die Nähe des Stammesgebiets gewagt, aber es war gut möglich, dass sie nur auf eine Gelegenheit warteten sich einen einzelnen Reiter zu schnappen. Es wäre vernünftiger gewesen, einen Begleiter mitzunehmen.
Allein ritt sie auf die offene Wüste zu. Sie wünschte sich, es wäre möglich, so so schnell zu reiten, dass man Probleme und Kummer hinter sich ließ.
Frei sein – wirklich frei, dachte sie, als sie Moonlight zum Galopp antrieb. Sich nie um irgendetwas oder irgendeinen sorgen müssen, hingehen können, wo man will, ohne auf irgendwelche Leute Rücksicht zu nehmen ... In Corus habe ich Roger und alle anderen mit mir herumgetragen und genauso trage ich jetzt den ganzen Stamm mit mir herum, seit ich Akhnan Ibn Nazzir tötete. Ich wollte, ich müsste nur mich allein tragen ...
Hufgetrappel erschallte hinter ihr. Sie ließ sofort Moonlight wenden und riss blitzschnell das Kristallschwert aus der Scheide. Dann, als sie Coram und seinen kastanienbraunen Wallach entdeckte, lächelte sie kläglich.
Ich glaube, wenn ich keinen hätte außer mir, wäre ich auch nicht glücklich, dachte sie seufzend und wartete, bis Coram sie eingeholt hatte.
Alanna begann in Ali Mukhtabs Zelt zu schlafen, damit sie ständig mit ihrer Gabe und ihren Heilmitteln zur Verfügung stand, um seine schwindende Kraft zu unterstützen. Am letzten Tag vor Neumond schickte Mukhtab Jonathan weg, damit er sich ausruhte und Kraft sammelte. Der Unterricht war abgeschlossen; nur noch der Ritus stand aus. Nachdem Alanna alle anderen verscheucht hatte, versetzte sie Ali Mukhtab in einen tiefen Schlummer, weil sie hoffte ihm dadurch zusätzliche Kraft für die am Abend stattfindende schwere Prüfung zu geben.
Draußen im Dorf lag eine lautlose Spannung in der Luft. Für die Stammesleute war die Wahl einer Stimme wichtiger als die Krönung eines Königs. Die Stimme der Stämme war den Bazhir Priester, Vater und Richter zugleich. Halef Seif hatte Alanna erklärt, dass derjenige, der das Amt der Stimme innehatte, nie ohne das Einverständnis eines Großteils seines Volkes handelte. Das Wissen um die Gedanken und die Gefühle seiner Leute war eine zu große Last für ihn, als dass er auch nur in Betracht gezogen hätte, ihnen zu trotzen. Dieses Wissen bestärkte Alanna in ihrer Überzeugung, dass sie niemals während jener Augenblicke bei Abenddämmerung mit der Stimme Zwiesprache halten wollte. Sie hatte schon Mühe genug sich selbst zu verstehen; sie wollte nicht, dass ein anderer um ihre Gedanken und ihre Probleme wusste – selbst wenn dieser andere so objektiv war, wie es von der Stimme vorausgesetzt wurde. Während der Stamm zu Abend aß, ging Alanna zu Jonathan. Der Prinz hatte gefastet; nun sah er blass und entschlossen aus in seinem weißen Burnus.
»Ich wollte dir Glück wünschen«, erklärte sie. Sie wusste nicht so recht, wie sie mit ihm reden sollte. Er bereitete sich darauf vor, eine Last zu übernehmen, die sie um jeden Preis abgelehnt hätte. Einen Moment lang sah er sie an, als kenne er sie nicht. Dann erhob er sich und breitete die Arme aus. »Sag mir, dass du mich liebst«, bat er und versuchte zu lächeln. »Ich brauche etwas Ermutigung.«
Sie rannte in seine Arme und drückte ihn ebenso fest an sich wie er sie. »Natürlich liebe ich dich«, sagte sie. »So viel steht fest.«
Er sagte nichts und hielt sie so eng an sich gepresst, dass ihr die Rippen schmerzten. Schließlich wagte sie zu sagen: »jon? Warum willst du die Stimme werden? Du bist schon jetzt so ruhelos.«
»Ich muss die Stimme werden«, erwiderte er leise. »Wenn ich es schaffe, wenn ich das Oberhaupt der Bazhir werde, dürfte es nur noch wenige Geheimnisse der menschlichen Seele geben, die mir unverständlich sind. Die Bazhir unterscheiden sich nicht sonderlich von uns. Wenn ich sie kenne, wenn ich weiß, wie sie denken, dann weiß ich, wie die meisten Leute denken. Mit diesem Wissen kann ich der größte – der beste – Herrscher werden, den es jemals gab.«
»Ist das so wichtig für dich?«
»Es ist das, wozu ich geboren wurde.« Er klang schroff. »Es ist das, was ich tun werde. Trotz meiner Ruhelosigkeit. Trotz allem.«
Jonathan und Ali Mukhtab standen auf der Spitze des Berges. Zwischen ihnen brannte ein Feuer, dessen Flammen bis in Hüfthöhe loderten. Aus irgendeinem Grund stand die Stimme allein. Keiner war da, um ihn aufzufangen, falls er stürzte. Alanna wartete in einiger Entfernung mit den anderen Schamanen. Es war nicht gestattet, dass sie näher kamen, bevor die Zeremonie vorüber war. Es war ihnen auch untersagt, ihre Zauberkraft zu benutzen.
Trusty stand auf den Hinterbeinen und stemmte die Vorderpfoten gegen Alannas Schenkel. Ohne die Szene vor sich aus den Augen zu lassen, hob sie ihn hoch, wobei sie sich Mühe gab ihn nicht allzu fest anzupacken. Sie zitterte vor Furcht, denn auf das, was nun geschehen würde, hatte sie nicht den geringsten Einfluss.
Ali Mukhtab hob die Hände und stimmte einen Sprechgesang an. Ganz plötzlich war seine Stimme voller Kraft. Die Sprache war altertümlich, sie stammte noch aus der Zeit, als die Bazhir in steinernen Gebäuden jenseits des Binnenmeers gelebt hatten, und Alanna verstand die Worte nicht. Aber sie konnte die Macht fühlen, die langsam die Luft erfüllte: eine dunkle, brodelnde Kraft, die dem Kristallschwert an ihrer Hüfte antwortende Töne entlockte. Geistesabwesend berührte sie das Heft und befahl ihrem Schwert im Stillen, Ruhe zu geben. Das Geräusch ließ nach, aber sie spürte die Waffe immer noch beben.
Ali Mukhtab beendete seinen Sprechgesang, als ein plötzlich aufkommender starker Wind die Gewänder gegen die Gesichter ihrer Besitzer flattern und kleine Staubteufel von der Erde aufsteigen ließ.
»Jonathan von Conté.« Mukhtabs Stimme war leise, dennoch brauste und hallte sie durch die Luft. »Du kommst, ein Fremder aus dem Norden, und suchst eins zu werden mit den Bazhir. Aus welchem Grunde sollten wir dir, Sohn des Tortaller Königs, erlauben diesen heiligsten Kreis unseres Volkes zu betreten?«
An Jonathans Gesichtsausdruck konnte Alanna ablesen, dass dies nicht Teil des Rituals war. Der Prinz musste ehrlich antworten, während die Stammesangehörigen und die Besucher lauschten.
Lass es die richtige Antwort sein, flehte Alanna insgeheim die Große Muttergöttin an.
Ein plötzliches Auflodern tauchte die ganze Szene in blauweißes, alle blendendes Licht. Von dem Lichtkreis her, der den Zuschauern die Sicht versperrte, erklang Jonathans Stimme. »Weil ich eure Geschichte kenne und ehre, weil ich eure Gesetze kenne und ehre. Weil ich nicht will, dass die Bazhir von unseren Kriegern gejagt und erschlagen werden, ebenso wenig wie ich will, dass unsere Krieger von den Bazhir gejagt und erschlagen werden.« Ein leises Lachen lief durch die Reihe der Zuschauer, die im Rücken der Schamanen weiter unten am Hang standen. Alanna spürte, wie sich in ihr die Anspannung etwas löste. Allmählich wurde ihr Blick klarer, nun sah sie wenigstens die Umrisse der beiden Männer über sich. Jonathan fuhr fort: »Weil euer Volk und das meine nur gemeinsam stark werden können. Weil« – seine Stimme wurde sehr leise – »weil ich die Menschen – Mann und Frau gleichermaßen – begreifen will.«
Alles war still. Alanna war sicher, jeder müsse ihr lautes Herzklopfen hören. Dann hob Ali Mukhtab von Neuem die Hände und der Dolch, den er am Gürtel trug, blitzte in seiner linken Faust.
»Es soll sein, wie es die Götter bestimmen!«, rief er. Ein Donnerschlag brachte die Erde unter ihnen zum Beben, als sich die Stimme der Stämme einen langen, klaffenden Schnitt am rechten Unterarm zog. Er war weit länger als jener, den Alanna erhalten hatte, als sie von den Bazhir aufgenommen worden war oder als Myles sie an Kindes statt angenommen hatte. Gnädige Mutter!, dachte Alanna entsetzt. Er darf nicht so viel Blut verlieren!
Parallel zu der Wunde, die er bei seiner Aufnahme in den Stamm erhalten hatte, fügte sich Jonathan einen ähnlichen Schnitt zu. Trusty riss sich aus Alannas Griff und jagte den Hügel empor zu den beiden Männern. Alanna wollte ihn zurückrufen, doch Kara hielt ihr die Hand vor den Mund, Kourrem schüttelte warnend den Kopf. Alanna knirschte mit den Zähnen und zwang sich zu bleiben, wo sie war, als Kara die Hand wieder fortnahm. Falls einer der beiden Männer den Kater sah, der nun neben Mukhtab saß, ließ er sich nichts anmerken. Unverwandt starrten sie sich an, als Ali Mukhtab seinen blutenden Arm über das Feuer hinweg dem Prinzen entgegenstreckte. Jon hob den seinen gleichermaßen und umklammerte den dargebotenen Arm. Dabei näherten sich beide Männer gefährlich den Flammen. Das Feuer zischte, als ihr vermengtes Blut auf die heiße Glut tropfte.
»Zwei wie einer.« Ali Mukhtabs Stimme war ein brüchiges Krächzen, das Alanna in den Ohren klang. Die in der Luft liegende Macht nahm zu. Kara und Kourrem hielten sich zitternd umschlungen. Umar Komm streckte die Hand aus und packte Alanna an der Schulter. Dankbar für die Berührung legte sie ihre Hand an die des alten Schamanen.
»Zwei wie einer.« Jonathans Stimme klang leise und stockend, fast als sei er in Trance.
»Zwei wie einer. Und Viele.« Bei dem klagenden Unterton, der in Ali Mukhtabs Stimme lag, sträubten sich Alanna die Nackenhaare.
»Zwei wie einer. Und viele.« Jonathan zitterte unkontrolliert. Das Feuer loderte plötzlich höher als die Köpfe der beiden Männer; Flammen, die sich rasch zu einem Weiß verfärbten, das in den Augen schmerzte, umhüllten sie. Ihre Gewänder begannen zu schwelen. Als spüre er Alannas Drang, zu ihnen zu rennen, wurde Umar Komms Griff an ihrer Schulter fester. Vor der Zeremonie hatte er sie gewarnt, sie dürfe weder sprechen noch eingreifen, möge geschehen, was wolle. Die Götter würden Jonathan und Ali Mukhtab beschützen, falls es ihnen bestimmt war, erfolgreich zu sein.
»Einer – wie – viele!« Ali Mukhtab presste den Schrei heraus, während die blau-weißen Flammen viele Zuschauer zum Wegsehen zwangen. Die Worte donnerten voll Zauberkraft, brachten Alannas Knochen zum Schmerzen und das Kristallschwert zum Beben.
»Einer!« Die Schmerzen machten Jonathan die Zunge schwer, doch er presste die Worte hervor. »Wie – viele!«
Ein Krachen erklang, das die Zuschauer fast taub werden ließ. Einen Moment lang dachte Alanna, sie höre Tausende von Stimmen begeistert jubeln. Schlagartig verlöschte das Feuer; Jonathans Schrei durchschnitt das Dunkel. Alanna hörte einen der beiden stürzen. Oder waren es alle zwei? Umar Komm hielt sie nun mit beiden Händen, und sie musste über die Kraft des alten Mannes staunen.
Endlich war alles still. Die Winde verstummten und machten einer Wüstenbrise Platz. Umar Komm lockerte den Griff, mit dem er Alanna hielt; die spürbar in der Luft liegende Macht begann zu schwinden.
»Nun werden wir sehen«, verkündete er und bückte sich nach dem Stab, den er fallen lassen hatte, um Alanna festzuhalten.
»Kommt!«, befahl er den Schamanen, und gemeinsam gingen sie zur Hügelspitze. Andere traten zu Mukhtab, doch Alanna kniete neben Jon und suchte mit zitternden Fingern nach seinem Puls. Sein Herzschlag war langsam und stark. Sie griff nach seinem Arm. Schon wollte sie von ihrem Gewand einen Stoffstreifen abreißen, um ihn als Binde zu benutzen, da hielt sie inne. Zwei Narben, die eine rötlich, die andere blau getönt, liefen vom Ellbogen bis zum Handgelenk des Prinzen hinunter. Die blaue Narbe fühlte sich warm an – weit wärmer, als Jons Körperwärme sie hätte machen können. Alanna schauderte. Eine ebensolche Narbe hatte Ali Mukhtab am rechten Arm.
Sie sah zu Umar Komm hoch. »Es geht ihm gut.« Dann wandte sie den Blick den anderen Schamanen zu, die gerade Ali Mukhtab hochhoben. »Was ist mit der Stimme?«, flüsterte sie. Sie wusste die Wahrheit, noch während sie fragte.
Jonathan rührte sich, setzte sich auf, rieb die blaue Narbe. »Ich bin die Stimme der Stämme«, sagte er mit rauer Stimme. »Ali Mukhtab, der die Stimme war, ging von uns. Ich bleibe.« Er stützte sich auf Alannas Schulter und erhob sich, während weiter unten die Zuschauer jubelten, bis ihnen die Kehlen schmerzten. Männer traten vor und ergriffen Mukhtabs Körper. Alanna wischte die Tränen weg, die ihr über die Wangen liefen.
»Er ist nicht verschwunden«, sagte Jonathan. »Er ist hier, in mir. Alle sind sie hier, alle Stimmen.« Er blickte einen in der Nähe stehenden Mann an. »Es wird nicht so schlimm werden, Amman Kemail. Weise bin ich nicht, aber ich kann jederzeit noch dazulernen.«
Der Häuptling lächelte dünn. »Im Augenblick deines Werdens waren wir alle bei dir ...« Sein Blick wanderte rasch zu Alanna und wieder zurück. »Alle, außer der Frau-die-wie-ein-Mann-reitet. Du wirst genügen, Jonathan von Conté.«
Sie fassten sich an den Armen. »Wenn ich Erfolg haben werde, dann habe ich es den Bazhir zu verdanken, nicht mir«, entgegnete Jon.
Halef Seif näherte sich. Er verbeugte sich tief vor dem Prinzen, der nun ihre Stimme geworden war. »Es wird Zeit, dass unsere Leute in angemessener Form ihrem Jubel Ausdruck geben«, sagte der Häuptling vom Stamm des Blutigen Falken. »Ali Mukhtab ist von seinen Qualen erlöst, die Stimme der Stämme besteht weiter. Lasst uns seine verlassene Hülle verbrennen und ihn mit unserer Liebe zu den Göttern senden! Kommt hinab ins Dorf! Wir werden Ali Mukhtabs gedenken und auf unsere Hoffnung trinken, dass Frieden herrschen möge.«
»Wie war es?«, fragte Alanna Jon. Zusammengekuschelt lagen sie da. Trusty ruhte zwischen ihnen auf den Decken, frühmorgendliche Sonnenstrahlen fielen durch den Zelteingang herein.
Eine lange Weile sagte er nichts.
»Es war das Schlimmste, was ich jemals erlebte«, sagte er schließlich. »Sogar schlimmer als der Ort zwischen Leben und Tod, damals, als du mich vom Schwitzfieber heiltest. Schlimmer als der Kampf gegen die Ysandir in der Schwarzen Stadt. Es war, als ob...« Er holte tief Luft. »Als ob Tausende von Menschen in meinem Kopf schrien und jeder wollte zuerst gehört werden. Als wäre ich jeder einzelne dieser Menschen, nur schmerzte alles Schlimme, was jeder von ihnen erlebt hatte, noch mehr, weil der Schmerz vervielfältigt wurde. Ich lebte die Leben aller Stimmen. Es gab vierhundertfünfzehn von uns, Alanna. Und ich sah meinen eigenen Tod. Ich war eine Kette, und alle Glieder versuchten sich auseinanderzuzerren. Für eine Weile verlor ich Jonathan, ich war alles, nur nicht er.«
»Kein Wunder, dass du geschrien hast«, flüsterte sie und zog ihn so nah an sich, wie es der zwischen ihnen liegende Kater zuließ.
»Aber die Dinge, die ich sehen konnte!« Er hatte Alanna nun vergessen, gab sich seinen Erinnerungen hin. »Ich sah die Zauberkraft, die Trusty an Ali Mukhtab weitergab, um ihn am Leben zu halten. Ich sah die Paläste, die wir einst besaßen jenseits des Binnenmeers. Ich sah uns vor den Ysandir fliehen und Persopolis bauen. Ich spürte den Wind in unseren Gesichtern, als wir über den Sand ritten, frei und ohne König. Ich sah die Götter, die zuschauten, wie wir lebten. Die Muttergöttin ist wunderschön«, sagte er, und seine saphirblauen Augen glänzten vor ehrfürchtiger Scheu. »Die perfekteste aller Frauen und doch ist sie keine Frau. Mithros war so hell, der Dunkelgott so finster, und doch strahlte er Frieden aus. Ich könnte es niemals wieder tun. Aber ich werde nie vergessen, dass ich einer bin und viele. Wenn mein Leben zu eng wird, wenn ich fühle, dass ich keine Freiheit besitze, dann kann ich in mich blicken und ein anderer sein. Ich kann an einen anderen Ort gehen.« Er drehte sich um und küsste sie zärtlich, dann fügte hinzu: »Alanna, zum ersten Mal, seit ich meinen Namen erhielt, bin ich frei.«
Als sie am nächsten Morgen Jonathans Zelt verließ, fand sie Halef Seif auf dem Rand des Dorfbrunnens sitzend vor, als warte er auf jemanden. Er erhob sich und folgte ihr, als sie zum Pferch ging, dort sah er zu, wie sie Kämme hervorholte und Moonlight zu striegeln begann. Endlich sprach er. »Die Stimme der Stämme muss bald in seine Heimat zurück.«
Alanna bückte sich zu den Sprunggelenken ihrer Stute hinunter. »Er hatte Glück, dass er überhaupt so lange wegbleiben konnte«, ächzte sie.
»Es wird gut sein, eine Stimme zu haben, die der Sohn des nordischen Königs ist, ebenso wie es gut ist, die Frau-die-wie-ein-Mann-reitet zur Schamanin zu haben.«
Alanna starrte den Häuptling unter Moonlights Hals hervor wütend an. »So förmlich warst du nicht mehr mit mir, seit ich dem Stamm beitrat«, meinte sie. »Was willst du damit sagen, Halef Seif?« Als er zögerte, fügte sie hinzu: »Ich hätte gedacht, du wärst der Erste, der ehrlich ist mit mir.«
»Willst du den Stamm nun verlassen?«, fragte er. »Willst du mit ihm zurückkehren, um in seinem Haus zu leben als seine Frau?«
Alanna schluckte. Sie hatte um Ehrlichkeit gebeten und nun bekam sie die Rechnung präsentiert. »Ich weiß nicht«, gestand sie und machte sich am Schweif ihrer Stute zu schaffen. »Ich habe es mir überlegt, aber ich kam bisher noch zu keinem Entschluss.«
»Er gab den Befehl, dass man ihm für heute seine Pferde richtet«, sagte der Häuptling. »Sicher erwartet er von dir, dass du ihn begleitest, wenn du ihn heiraten willst.« Als er sah, wie Alanna blass wurde, fügte er hinzu: »Er befahl, dass auch dein Ross gerichtet wird.«
Alanna wurde langsam ärgerlich. »Dazu hatte er kein recht. Ich habe ihm noch keine Antwort gegeben.«
»Vielleicht glaubt er zu wissen, wie deine Antwort ausfallen wird?«
Alanna legte ihre Kämme weg. »Am besten rede ich mit ihm.« Sie schlüpfte unter dem Strick durch, der um den Pferch gezogen war, und sah zu Halef Seif hinauf. »Dass mir keiner Moonlight reisefertig macht, bevor ich es sage!« Sie stapfte davon. Unterwegs sagte sie sich, Jonathan sei erschöpft und habe vermutlich vergessen sie zu fragen, ob sie mitkommen wollte oder nicht. Dabei fiel ihr ein, dass er nicht einmal erwähnt hatte, dass er heute aufbrechen wollte.
Bleib ruhig ermahnte sie sich, als sie das Zelt des Prinzen betrat. Dass er die Stimme ist, hat die weniger wichtigen Dinge in seinem Kopf verdrängt, und noch viel länger hierzubleiben kann er nicht wagen.
Jonathan beriet sich gerade mit Myles und Coram. Schon packte ein Junge des Stammes seine Sachen. Der Prinz lächelte ihr entgegen. »Liebes, ich habe Kara und Kourrem angewiesen für dich zu packen. Wenn wir nach der Dämmerung aufbrechen, sollten uns einige kühle Stunden zum Reiten bleiben.«
»Kann ich dich unter vier Augen sprechen, Jonathan? Ich bin sicher, Coram und Myles werden uns entschuldigen.« Coram, der ihre finstere Miene sah, ließ sich nicht länger bitten und verschwand. Myles schaute von Alanna zu Jon. Es war offensichtlich, dass er sich Sorgen machte. »Keine Angst, Myles«, versicherte ihm der Prinz. »In einer Stunde oder so sind wir bereit.«
Myles blieb neben Alanna stehen. »Sag nichts, was du vielleicht bereuen könntest!«, mahnte er.
»Mache ich nicht!« Alanna griff nach dem Glutstein an ihrem Hals und sagte sich, was sie eben gehört hatte, müsse auf einem Missverständnis beruhen, das sich bereinigen ließ. Myles seufzte, ging hinaus und schloss den Zelteingang hinter sich.
»Du erwähntest gar nicht, dass du heute abreisen willst«, sagte Alanna kurz angebunden. Sie musste sich anstrengen nicht die Beherrschung zu verlieren.
»Ich dachte, du wüsstest es.« Jonathan rollte eine Karte zusammen, ohne sie anzusehen. »Wenn ich nicht mit Myles, sondern mit einem anderen unterwegs gewesen wäre, hätten meine Eltern inzwischen die ganze Gegend auf den Kopf gestellt, um nach mir zu suchen. Ich muss zurück.«
»Ich habe nicht gesagt, dass ich mit dir nach Corus zurückkehren will, und du hast mich nicht gefragt, bevor du den Leuten befahlst für mich zu packen.«
»Ich nahm an, wir wollten mit den Vorbereitungen für unsere Hochzeit beginnen. Ich dachte nicht, dass du noch warten wolltest.«
»Ich habe dir mein Jawort noch nicht gegeben«, erinnerte ihn Alanna mit Nachdruck.
Überrascht sah er sie an. »Aber – ich weiß doch, wie du für mich fühlst.«
»Mit dir verheiratet zu sein ist eine große Verantwortung. Ich brauche mehr Zeit, um es mir zu überlegen.«
»Mehr Zeit?«
Nicht zu fassen, er findet die ganze Angelegenheit wohl amüsant, dachte Alanna. Sie wurde immer wütender.
»Im Ernst. Nach all diesen Jahren dürfte deine Antwort ja wohl klar sein.«
Sie hatte so fest die Zähne zusammengebissen, dass ihr der Kiefer wehtat, als sie den Mund öffnete.
»Mir nicht.«
Jonathan knallte das aufgerollte Pergament auf den Tisch. Er war mit seiner Geduld so ziemlich am Ende. »Hör auf, Alanna! Ich habe auf deine mädchenhafte Scheu nun lange genug Rücksicht genommen...«
»Meine mädchenhaften Scheu?«, schrie sie. »Wann habe ich jemals mädchenhafte Scheu an den Tag gelegt?«
»Schrei nicht so!«, sagte er in scharfem Ton. »Willst du, dass dich der ganze Stamm hört? Was ist denn überhaupt in dich gefahren? Ich dachte, es wäre alles besprochen.«
»Ich sagte dir, dass ich Zeit zum Nachdenken brauche!« Ihre Stimme war zwar jetzt leiser, aber ihre violetten Augen blitzen immer noch wütend.
Jonathan lächelte überlegen. »Das sagen alle Frauen, wenn ein Mann um ihre Hand anhält.«
»Wirklich?«, fauchte Alanna. »Vermutlich bist du Experte, was Heiratsanträge angeht!«
»Genauso wie du«, fauchte er zurück.
»Wenn ich sage, ich will Zeit zum Nachdenken, dann will ich Zeit zum Nachdenken!«
Jonathan seufzte müde. »Na gut, du hast Zeit zum Nachdenken gehabt. Wie lautet deine Antwort?«
»Dass ich noch mehr Zeit zum Nachdenken brauche!«
Jon starrte sie einen Augenblick an; seine Wangen färbten sich rot. »Lächerlich!«, rief er. »Gut, ich hätte daran denken sollen, dass du es nicht magst, wenn man Pläne macht, ohne dir Gelegenheit zu geben, dich dazu zu äußern, aber ich dachte, alles sei geregelt.«
»Ist es nicht! Wie kannst du es wagen, mein Einverständnis als selbstverständlich vorauszusetzen?«
»Nun, du hast mir ganz gewiss keinen Grund zur Annahme gegeben, dass du ablehnen könntest. Oder irre ich mich?«, erkundigte er sich mit zornig geballten Fäusten. »Überleg es dir gut, bevor du mich noch mehr reizt, Alanna von Trebond! Es gibt Frauen, die alles tun würden, um mich zu heiraten.«
»Warum hast du dann nicht eine von denen gefragt?«, sagte Alanna. »Weißt du, was dein Problem ist, Jonathan? Du wurdest von all diesen feinen Damen am Hof viel zu sehr verwöhnt und deshalb kamst du überhaupt nicht auf die Idee, ich könnte Nein sagen!«
»Und wen willst du nehmen, wenn nicht mich, Frau-die-wie-ein-Mann-reitet?« , wollte er wissen. »Vermutlich ist Georg eher dein Geschmack.«
»Georg?«, stieß sie hervor. Die neue Richtung, aus der Jons Attacke kam, überraschte sie.
»Hältst du mich für blind? Ich habe gesehen, wie er dich anschaut!«
»Was ist mit all den Frauen im Palast und damit, wie die dich anschauen?«, meinte Alanna. »Und dass du mit einigen von ihnen ein Verhältnis hattest, weiß ich wohl. Sie haben aus dir einen eingebildeten ...«
»Zumindest sind es Frauen, Lady Alanna!«, sagte er. »Und sie wissen, wie man sich als Frau zu benehmen hat!«
Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus, während sich Alanna nur schwer zurückhielt, ihm eine Ohrfeige zu geben oder einfach in Tränen auszubrechen. Schließlich zischte sie: »Ich weigere mich, dich zu heiraten.« Jonathan war inzwischen weiß vor Wut. »Und ich glaube, dass ich gerade noch mal Glück hatte, bevor es zu einer Katastrophe gekommen wäre!«
»Da hast du wohl recht!«, erwiderte sie scharf. »Such dir eine, die fraulicher ist als ich, Jonathan von Conté!« Damit stürzte sie aus dem Zelt.
Kara und Kourrem waren beim Packen und sahen erstaunt auf, als Alanna in ihr eigenes Zelt marschiert kam. »Ich bleibe hier!«, sagte sie gereizt. »Und wenn nächstes Mal jemand sagt, ich ginge weg, dann fragt ihr erst mal mich!«
Sie verbeugten sich und eilten mit weit aufgerissenen Augen aus dem Zelt. Alanna warf sich auf die Schlafmatte und ließ ihren Tränen freien Lauf. Die Tränen wichen irgendwann einem langen, erschöpften Schlaf. Als sie erwachte, war es dunkel. Jonathan und Myles waren fort.
»Jonathan!« Königin Lianne winkte ihren Sohn zu sich. Jonathan gehorchte und versuchte, ein freundliches Gesicht aufzusetzen, was ihm seit seiner Rückkehr aus der Wüste vor mehr als einer Woche ausgesprochen schwerfiel. Er hörte, wie die Höflinge gerade eben über seine ungewöhnlich schlechte Laune tuschelten.
Sollen sie doch reden, dachte er bitter, als er sich vor dem Thron seiner Mutter verbeugte. Was kümmert es denn mich?
Seine Mutter bedeutete einer gertenschlanken Blondine näher zu treten. »Prinz Jonathan«, sagte die Königin, als sich die Blonde zu einem tiefen Knicks niedersinken ließ. »Darf ich dich mit Prinzessin Josiane bekannt machen? Josiane ist die zweite Tochter des Königs der Kupferinseln. Sie ist gekommen, um eine Weile bei uns zu bleiben. Ihre Mutter und ich waren als Mädchen gute Freundinnen. Josiane, mein Sohn Jonathan.«
Josiane verharrte in ihrem Knicks und blickte zu ihm auf. Sie sah ihn aus großen blauen Augen ehrfurchtsvoll an. »Prinz Jonathan«, sagte sie mit sanfter, leicht belegter Stimme. »Es ist eine Ehre, den Mann zu treffen, der so tapfer im Krieg gegen Tusain gekämpft hat.«
Jonathan ergriff Josiane bei der Hand, zog sie hoch und küsste ihr leicht die Fingerspitzen. »Damals war ich noch ein Junge, Prinzessin«, erinnerte er sie. Sie sagte nichts. Ihr voller Mund verzog sich zu einem Lächeln.
»Hättet Ihr Lust, mit mir zu tanzen?«, fragte er dann.
»Liebend gern.« Anmutig ging sie neben ihm hinaus auf die Tanzfläche. Mit Befriedigung stellte er fest, dass sie groß war, schlank und pfirsichhäutig. Ganz passabel, dachte er mit bitterer Genugtuung. Sie wird mir helfen diesem – diesem Ding im Süden zu beweisen, dass ich nie mehr etwas mit ihm zu tun haben will!