6
Zeremonien

Die ersten Bazhir-Schamanen trafen eine Woche nach Ishaks verhängnisvollem Fehler mit dem Kristallschwert ein. Sie kamen im Laufe der Nacht, und als Alanna am Morgen aufstand, saßen sie mit überkreuzten Beinen vor dem Altar. Ihnen gegenüber hockte Trusty und erwiderte feierlich blinzelnd ihre Blicke.
Sie erklärten Alanna, sie seien gekommen, um zu lehren und zu lernen, denn jeder weise Schamane sei bereit neue Dinge zu erfahren. Sie meinten, was sie sagten, und sie blieben nicht die Einzigen. Innerhalb der nächsten Tage kamen noch weitere Schamanen mit ihren Lehrlingen an, bis schließlich vierzehn Schamanen und sechs Lehrlinge in den Zelten des Stammes Zaubersprüche austauschten – Alanna, Kara und Kourrem mitgerechnet.
»Du solltest dich freuen«, bemerkte Ali Mukhtab eines Abends, als er mit Alanna bis spät in die Nacht hinein aufsaß. »Du hast mehr geleistet, als die meisten Bazhir in ihrem ganzen Leben zustande bringen. Du hast Mädchen zu Schamaninnen gemacht, du hast eine Zauberschule gegründet, die weiter bestehen und zu einer der größten derartigen Schule heranwachsen wird. Selbst Priester aus der Stadt der Götter werden kommen, ebenso Zauberkrieger aus Carthak.«
Alanna starrte die Stimme der Stämme an. In seinen dunklen Augen lag dieser verschleierte, in weite Ferne reichende Blick, der sie schaudern ließ. »Du musstest, dass diese Schule entstehen würde?«, stieß sie hervor. »Und nie hast du auch nur ein einziges Wort gesagt?«
Er lächelte und paffte an seiner langen Pfeife. »Ich habe gelernt – so wie dies alle lernen müssen, die zu der Stimme werden – über die Zukunft zu schweigen. Sie wird sich ohne mein Zutun erfüllen.«
Alanna schnaubte. Lange dachte sie schweigend nach. Schließlich sagte sie: »Ich habe es immer noch nicht geschafft, Kara und Kourrem zu überreden ihre Gesichtsschleier abzulegen.« Sie redete nicht mehr mit den Mädchen darüber, da es ein Thema war, über das sie sich nicht einigen konnten.
»Die beiden haben recht«, meinte Ali Mukhtab. »Sie haben sich über viele alte Vorstellungen hinweggesetzt, doch diese können sie niemals ändern. Eine Frau ohne Schleier hat bei den Bazhir einen schlechten Ruf. Gute Frauen dürfen nicht mit ihr reden, gute Männer dürfen sie nicht kennen.« Alanna dachte an die Frauen am Hof des Schurken und seufzte. »Das finde ich traurig. Einige der klügsten Frauen, die ich in den vergangenen Jahren kennenlernte, waren Prostituierte. Mit den Edelfrauen hatte ich nicht viel zu tun.« Plötzlich bebte die Erde unter ihr. Sie sah auf. »Besucher? Zu dieser Stunde?«
Ali Mukhtab klopfte lächelnd die Asche aus seiner Pfeife ins Feuer. »Ich glaube, über diesen Besuch wirst du dich freuen.«
Sie traten aus dem Zelt. Draußen hatten sich die Stammesangehörigen um die Neuankömmlinge versammelt. Es waren fünf: zwei auf Pferden sitzende Männer des Stammes, ein bewaffneter Reiter in den Farben der Baronie Olau und – zu Alannas Freude – Myles von Olau und Prinz Jonathan.
Irgendwie gelang es ihr, die Gäste zu begrüßen und sie dem Häuptling, der Stimme, den von auswärts stammenden Schamanen und den Lehrlingen vorzustellen. Kourrem war von Jonathan fasziniert, während Kara mit vor Ehrfurcht weit aufgerissenen Augen Myles anstarrte. Einmal lächelte ihr der Ritter zu und meinte: »In Corus gibt es einen Tanzbären, der fast genauso zottelig ausschaut wie ich.« Kara errötete unter ihrem Schleier und rannte davon.
Die Edlen begrüßten Alanna und Coram herzlich, wobei sie ihnen über eine sorgsam gewahrte Distanz hinweg die Hand zum Gruß entgegenstreckten.
Ein Gästezelt wurde für die Neuankömmlinge hergerichtet, doch als es Zeit wurde, sich zurückzuziehen, ging Prinz Jonathan hinter Alanna her. In ihrem Zelt angelangt fanden sie sich allein – sogar Trusty hatte sich ein anderes Plätzchen gesucht.
Lange starrten sie sich an: die kleine rothaarige Frau mit den violettfarbenen Augen und dem fahlblauen Gewand der Bazhir, dessen Kapuze sie vom Haar zurückgestreift hatte, und der hoch gewachsene, breitschultrige junge Mann mit den rabenschwarzen Haaren und den leuchtend saphirblauen Augen. Er trug praktische, braune Reithosen und ein Baumwollhemd unter dem Waffenrock, der in Königsblau, seiner Lieblingsfarbe, gehalten war; doch nur einem Blinden wäre entgangen, dass er von königlichem Blut war.
»Ich wollte dich nicht vor den Stammesleuten entehren«, sagte er schließlich. Seine tiefe Stimme ließ sie glücklich erbeben. »Myles sagte, dass die Frauen hier in der Öffentlichkeit keinen Mann berühren.«
»Nein«, entgegnete sie und vergrub die Hände in ihrem Gewand.
Verlegen versuchte er es noch mal. »Ich werde für eine Weile hierbleiben. Ali Mukhtab sagte, ich hätte viel zu lernen.«
»Wissen der König und die Königin, wo du bist?«
Er zuckte die Achseln. »Sie wissen, dass ich mit Myles unterwegs bin. Ich sagte ihnen, ich müsse mal weg vom Hof. Ich habe es satt, ständig von allen Leuten umschmeichelt zu werden.« Er lächelte. »Seit du weg bist, gibt es keinen mehr, der mit mir streitet.«
Von dem arroganten Ton der Stimme und dem stolzen Blitzen in Jonathans Augen unruhig geworden, fragte Alanna: »Ist das der einzige Grund für deinen Besuch? Um von zu Hause wegzukonunen?«
»Natürlich nicht.« Plötzlich fluchte er, machte zwei große Schritte auf sie zu, umarmte sie und vergrub sein Gesicht an ihrer Schulter.
Alanna schlang ihre Arme um seinen Hals. Das war der Jonathan, den sie liebte.
Er zwang sie, ihn anzusehen. »Ich habe dich so vermisst«, flüsterte er und küsste sie leidenschaftlich. Als sie seinen Kuss erwiderte, spürte sie, wie unter seiner Berührung Hitze in ihr aufstieg. Er drückte sie auf ihre Schlafmatte hinunter, und während der Zeit, die nun folgte, wurde ihnen klar, dass sie sich noch immer begehrten.
Anschließend erhob sich Alanna, um die Lampen zu löschen. Jonathan sah ihr zu, während sie im Zelt umherging. »Was gibt es zu grinsen?«, wollte er wissen, als sie die letzte Lampe auspustete.
Sie legte sich wieder zu ihm, kuschelte sich an seine Schulter und lächelte zufrieden. »Tja«, sagte sie. »Unter den Bazhir tragen sonst nur die ›schlechten Frauen‹ keinen Schleier. Ich trug bis zum heutigen Tag keinen, aber einen schlechten Ruf habe ich mir erst heute Abend eingehandelt.«
Jon lachte vergnügt in sich hinein und küsste sie. »Ich freue mich das zu hören. Ich habe mir Sorgen um dich gemacht unter all diesen gutaussehenden Männern.«
»War nicht nötig«, sagte sie lächelnd. »Sie respektieren mich als Schamanin und als Kriegerin, aber daran, dass ich eine Frau bin, denken sie die meisten Zeit nicht einmal.«
»Wie dumm von ihnen«, flüsterte Jonathan. »Ich kann das nicht vergessen – obwohl ich es im Verlauf der letzten Monate versuchte.«
»Daran habe ich nicht gezweifelt«, sagte Alanna mit gedehnter Stimme. Sie musste daran denken, wie die Damen am Hof von Tortall den Prinzen in Scharen umringten.
Eine Weile lagen sie schweigend im Dunkeln, dachte nach und waren zufrieden, sich in den Armen zu halten. »Jon?«, sagte Alanna dann.
»Ich plane das Amt der Stimme der Stämme zu übernehmen.« Er streichelte ihr übers Haar.
Alanna setzte sich auf. »Woher wusstest du, dass ich dich genau das fragen wollte?«
Sie spürte, wie er die Achseln zuckte. »Ich wusste es eben.« Langsam legte sie sich wieder hin. »Ali Mukhtab sagte, die Zeremonie sei gefährlich.«
»Ich brauche die Macht, die mir dieses Amt bringt. Die Bazhir sind ein unglaubliches Volk, Alanna. Ihre Geschichte ist so alt wie die unsrige, nein, älter. Und wir verlieren zu viele Männer an sie. Es wird für alle besser sein, wenn sie sich zu Tortall bekennen, anstatt unsere Heere in unserem eigenen Land in Trab zu halten.«
»Ich bin glücklich hier bei ihnen«, gestand Alanna. »Ich werde froh sein, wenn sie keinen Krieg mehr führen gegen unsere Soldaten.«
»Bist du so zufrieden, dass du nicht mehr in Betracht ziehst von hier fortzugehen?«
Alanna wurde misstrauisch. Sie erstarrte. »Bevor ich wegkann, muss ich Kara und Kourrem durch das Schamanenritual führen. Warum?«
»Ich hatte gehofft, dass du heimkommst, wenn das erledigt ist.«
»Ich bezweifle, dass sich der Skandal, den es nach meinem Zweikampf mit Herzog Roger gab, schon gelegt hat«, erinnerte sie ihn.
Er brachte sie zum Schweigen, indem er ihr eine Hand auf die Lippen legte. »Komm mit als meine Verlobte!«
Das Wort lag zwischen ihnen und wurde größer und immer größer. Schließlich stieß Alanna hervor: »Ich kann nicht, Jon.«
»Wieso denn nicht?«
»Weil ich einen Skandal verursacht habe. Ich tötete deinen Vetter. Und sechs Jahre lang war ich als Junge verkleidet ...«
»Ich wusste fast die ganze Zeit Bescheid.«
»Du solltest eine Prinzessin heiraten, die dir Macht bringt und Gold«, fuhr sie fort. »Das ist deine Pflicht. Und eine Jungfrau müsstest du wählen.«
»Du warst Jungfrau, als wir das erste Mal miteinander schliefen.«
»Bloß weiß das keiner außer dir!«, rief sie aufgebracht. Als ihr einfiel, wie dünn die Zeltwände waren, senkte sie die Stimme. »Sie werden sagen, ich sei hinter deinem Rücken mit einem ganzen Regiment im Bett gewesen.«
»Glaubst du, deine Freunde würden ein derartiges Gerede dulden? Du hast mehr Freunde am Hof, als du denkst. Und was meine Heirat mit einer Frau betrifft, die mir Macht bringt – was ist denn mit dir? Du bist Ritterin und Schamanin der Bazhir. Selbst wenn ich die Tochter eines Bazhir-Häuptlings heirate, wäre das meinem Status weniger dienlich als eine Heirat mit dir. Außerdem«, fuhr er fort und plötzlich klang seine Stimme hart, »außerdem habe ich es satt, mir über derartige Dinge Sorgen zu machen. Ich will tun, was mir Freude macht, und nicht nur das, was für Tortall gut ist. Ich habe mich mein ganzes Leben in Acht genommen, was ich sage und was ich tue, weil ich Angst hatte, ich könnte die Händler, die Gallaner, die Priester oder sonst irgendwem ärgern. Aber eigentlich müssten die ja Angst haben, dass sie mich verärgern – nicht umgekehrt.«
»Willst du mich deshalb heiraten?«, flüsterte sie. »Weil du allen beweisen willst, dass es dir egal ist, was sie von dir halten?«
Er ließ sich Zeit mit seiner Antwort; dann sagte er sehr leise: »Ich dachte, du liebst mich, Alanna.«
»Das tue ich auch!«, flüsterte sie in hitzigem Ton. »Das tue ich auch. Aber ...« Was er gesagt hatte, der Groll in seiner Stimme, beunruhigte sie. Und wie konnte sie ihm erklären, wie schön es war, sich keine Sorgen mehr machen zu müssen um Verschwörungen und Verschwörer am Hof? Sich nicht mehr vorsehen zu müssen, wie sie sich benahm und was sie sagte – abgesehen davon, dass sie sich natürlich Mühe gab ihre neuen Stammesgenossen nicht vor den Kopf zu stoßen? Zum ersten Mal konnte sie sich voll und ganz als Alanna geben, wobei sie immer noch lernte, wer diese Alanna überhaupt war.
»Heirate mich, Liebes!«, flüsterte er. »Ich liebe dich. Ich will, dass du meine Frau wirst.«
Es war zu viel auf einmal. »Lass mich darüber nachdenken!« , bat sie. »Ich liebe dich wirklich, Jon. Ich brauche nur Zeit.«
»Also gut.« Er klang belustigt. Ich möchte mal wissen, was daran so komisch ist, überlegte sich Alanna beim Einschlafen.
Wie gewöhnlich stand sie schon bei Morgengrauen auf. Jon schlief noch. Leise zog sie sich an und betrat den Teil ihres Zeltes, der als Tempel diente. Myles, der so frisch aussah wie jeden Morgen, war schon da. Alanna umarmte ihren alten Freund und drückte ihn an sich. Dann traten sie zusammen hinaus in die Sonne. Sie zeigte ihm das Dorf und führte ihn sogar auf den Hügel, wo sie mit ihren Lehrlingen zusammen den Plünderern entgegengetreten war und wo Ishak sein Schicksal ereilt hatte. Jonathans Heiratsantrag erwähnte sie nicht, denn ein bisschen hoffte sie insgeheim, Jon möge sich die Sache vielleicht noch einmal anders überlegen, falls ihn keiner darauf ansprach.
»Warum bist du gekommen?«, erkundigte sie sich, als sie den Hang wieder hinabstiegen.
»Ich dachte, es sei gut für Jonathan, wenn ihm jemande Gesellschaft leistet.«
»Du bist immer so vernünftig.« Alanna lachte. Sie winkte Mari zu, die gerade die Wände ihres Zeltes öffnete, um die Morgenluft einzulassen. »Mari Fahrar«, erklärte sie Myles. »Die beste Weberin des Stammes. Sie unterrichtet mich.«
Myles lachte. Seine grünbraunen Augen funkelten verschmitzt. »Frauenarbeit, Herr Ritter?«
Alanna wurde rot. »Ich will mich auch damit auskennen.«
Myles legte ihr den Arm um die Schulter und zog sie an sich. »Du hast Mut, wenn du zugibst, dass es Dinge gibt, die du nicht weißt, und wenn du etwas dagegen unternimmst.«
»Das ist ja alles schön und gut. Aber ich stelle mich so unglaublich ungeschickt an beim Weben.«
»Soviel ich weiß, macht Übung den Meister«, sagte er. Er schmunzelte immer noch. »Alanna, in Wirklichkeit gibt es zwei Gründe für mein Kommen.«
»Oh? Du leistest Jon Gesellschaft – und was noch?«
Myles strich sich nachdenklich über den Bart. »Ich habe über deine Lage nachgedacht, jetzt, wo Thom am Hof ist und du dich herumtreibst.« Er legte ihr die Hände auf die Schultern. »Ich glaube, du weißt, dass ich dich schon immer sehr gern mochte.«
Sie lächelte. »Unter meinen Bekannten bist du der einzige, der mir meine Lüge über mein wahres Geschlecht verziehen hat.«
»Vergiss nicht, dass ich es schon lange wusste, bevor du es mir sagtest. Hör her! Thom lebt gut am Hof ...«
»Das steht ihm zu«, verteidigte Alanna ihren Bruder eifrig. »Er ist Lord von Trebond. Jahrelang hat er wie ein Priester gelebt.«
»Das Recht dazu will ich ihm nicht absprechen. Du bist es, um die ich mich sorge. Wenn du weiterhin auf Reisen bist, brauchst du Geld, um in Gasthäusern zu übernachten, um Bestechungsgelder zu bezahlen – du brauchst gar nicht die Stirn zu runzeln. Manche Länder verwenden Bestechungsgelder, um ihre Staatskasse aufzustocken. So, und nun denke mal über das Problem nach, das ich habe: Jünger werde ich nicht, ich bin ledig und ein Einzelgänger dazu. Es ist unwahrscheinlich, dass ich noch heiraten und Kinder bekommen werde. Du warst wie eine Tochter für mich – manchmal sogar wie ein Sohn.« Er zwinkerte. »Ich will dich zu meiner Erbin machen.«
Alanna öffnete den Mund zu einer Antwort, aber sie brachte keinen Ton hervor. Die Kehle war ihr eng geworden; in ihren Augen brannten Tränen. Er klopfte ihr auf die Schultern und trat zurück. »Du brauchst nicht gleich zu antworten.«
»Ich kann nicht ablehnen«, flüsterte sie und umarmte ihn überschwänglich. »Myles, wie soll ich dir das jemals danken?«
Myles wuschelte ihr durchs Haar. »Red keinen Unsinn! Nachdem du dich jahrelang an deines Bruders statt um Trebond gekümmert hast, kriege ich dafür eine Erbin, die Ländereien zu verwalten weiß.«
»Mit Corams Hilfe«, erinnerte sie ihn.
»Mit Corams Hilfe. Aber die wichtigen Entscheidungen trafst du. Und ich weiß, dass dir die Baronie Olau ebenso am Herzen liegt wie mir.« Er rieb sich die Hände. »Wie wär’s mit was zu essen, nachdem die Sache jetzt entschieden ist?«
Alanna wusch gerade das Frühstücksgeschirr ab, als Farda zu ihr kam. »Ich hätte gern unter vier Augen mit dir gesprochen. Und ich glaube, dass du anderweitig gebraucht wirst, wenn ich fertig bin.«
Alanna sagte Umar Komm Bescheid, dem ältesten und angesehensten der Schamanen, die nun die »Zauberschule« abhielten.
Als er nickte, verließ sie ihr Zelt, in dem sich die von auswärts kommenden Schamanen, Lehrlinge, Jonathan und Myles tummelten. Farda führte sie in ihr eigenes Zelt, wo sie ihr einen Becher Tee in die Hand drückte.
»Es geht um die Stimme der Stämme«, sagte sie übergangslos. Ihr unansehnliches Gesicht war bekümmert. »Er ist krank. Ich weiß nicht genug, um sagen zu können, was er hat, aber dass es ihm schlecht geht, ist mir klar. Er hat mich versprechen lassen dir nichts zu verraten, aber ich kann nicht länger schweigen.«
Alanna runzelte die Stirn. Auch ihr war in letzter Zeit aufgefallen, wie blass Ali Mukhtab war. Aber sie hatte ihn immer nur abends gesehen und das flackernde Licht der Fackeln und des Feuers dafür verantwortlich gemacht. »Ich brauche meine Heilertasche«, murmelte sie. Farda reichte sie ihr schweigend; sie musste eines der Mädchen danach geschickt haben. »Warum kommst du ausgerechnet zu mir? Sicher könnte einer der Schamanen, die hier zu Besuch sind ...«
Farda richtete sich gekränkt auf. »Du bist die Schamanin des Stammes. Soll ich unseren Gästen sagen, unsere Schamanin sei nicht gut genug für die Stimme der Stämme?«
Alanna lächelte. »Tut mir leid, dass ich fragte.«
Ali Mukhtab zog eine Grimasse, als sie sein Zelt betraten. »Keine Frau, nicht einmal Farda, kann den Mund halten«, schimpfte er. Er war blass und schwitzte, als er sich auf sein Lager zurücksinken ließ.
Alanna kniete sich neben ihn und öffnete die Tuchtasche, in der sie ihre Heilutensilien aufbewahrte. »Farda hat richtig gehandelt. Sei still!«
Die Untersuchung war kurz. Sie brauchte nur mit ihrer Gabe in ihn zu fühlen. Dort, in seiner Brust verwurzelt, war der Tod – schwarz, hässlich und zerstörerisch.
Als sie sich auf ihre Fersen zurücksetzte, war ihr Gesicht so blass wie seines. »Du wusstest schon eine ganze Weile Bescheid«, beschuldigte sie ihn. »Unmöglich, dass du es nicht wusstest.«
»Der Stimme ist es gegeben, ihr eigenes Ende zu sehen«, stimmte er zu.
»Warum hast du dich nicht darum gekümmert?«, fragte sie. Ihr war ganz elend vor Kummer. Sie mochte Ali Mukhtab. »Zu Anfang hätte dieses Leiden sogar von einem vollkommen unerfahrenen Schamanen geheilt werden können.«
»Meine Zeit ist gekommen«, antwortete die Stimme müde. »Ich werde nicht dagegen ankämpfen.«
»Wenn du es getan hättest, wärst du heute gesund.«
Er lächelte. »Arme Frau-die-wie-ein-Mann-reitet. Du weißt so viel und doch weißt du gar nichts.«
»Ich kann nur noch wenig tun«, erklärte sie ihm leise. »Die Krankheit ist zu weit fortgeschritten.« Sie nahm seine Hand. Durch ihre Tränen hindurch nahm sie ihn nur noch verschwommen wahr. »Es tut mir so leid, Ali Mukhtab.«
Als Antwort drückte er ihr die Hand. »Kannst du mir helfen, die Schmerzen zu lindern? Ich muss Prinz Jonathan unsere Gesetze lehren.«
Sie nickte. Bedächtig griff sie mit ihrer Gabe nach ihm und ließ das violettfarbene Feuer durch ihre vereinten Hände in seinen Körper fließen.
Die Falten in seinem Gesicht glätteten sich; er schlief ein.
Alanna schüttelte den Kopf, um ihre Benommenheit loszubekommen, und machte sich daran, in einem kleinen Gefäß Kräuter zu mischen. Sie sah zu Farda auf. »Wenn er erwacht, gießt du ihm aus einer Prise davon Tee auf!«, flüsterte sie. »Aber nimm nicht mehr – es ist sehr stark. Und jeden Morgen braucht er mich, damit ich meinen Zauber spreche.«
Als sie zur Tür ging, hielt Farda sie auf. »Wie lange noch?«, fragte die Hebamme. Sie schaute sie aus ihren dunklen Augen traurig an.
Alanna zuckte die Achseln. Sie war müde. Die Last, die sie zu tragen hatte, war zu schwer für sie. »Wenn ich nichts Unnatürliches tue, hat er noch einen Monat«, sagte sie nur und trat hinaus in den strahlenden Sonnenschein. Falls irgendeiner sah, wie sie sich die nassen Augen wischte, konnte sie es auf das grelle Licht schieben.
Schon ein paar Tage nach Jonathans Ankunft begannen neue Gäste einzutreffen. Es waren Häuptlinge und Stammesführer der Bazhir – diejenigen, die die Gesetze machten und dafür sorgten, dass sie eingehalten wurden. Jedermann war klar, dass sie gekommen waren, um sich den Mann anzusehen, der das Amt der Stimme der Stämme übernehmen wollte.
Auch klar war allerdings, dass sie unglücklich waren über das, was sie sahen: den Sohn des verhassten Königs aus dem Norden, der nicht dem Volk der Bazhir angehörte.
Richtige Probleme gab es erst, als Amman Kemail, Häuptling vom Stamm des Sonnenuntergangsdrachen, zu ihnen stieß. Alanna bemerkte, wie er Jonathan und Ali Mukhtab tagsüber folgte, und der Instinkt, den sie für derartige Dinge besaß, sagte ihr, dass sich da etwas zusammenbraute. Sie erkannte den nachdenklichen Blick, mit dem Kemail Jonathan musterte, während dieser Mukhtabs Fragen beantwortete, die sich auf die Gesetze der Bazhir bezogen. Es sah aus, als würde Amman Kemail den Prinzen wiegen und für zu leicht befinden. Noch weniger gefiel ihr die Art und Weise, wie andere Männer Kemail beiseitezogen, um mit ihm zu reden. Offensichtlich betrachtete man diesen großen, muskulösen Häuptling als Anführer und seine Ankunft ermutigte viele der übrigen Bazhir ihre Zweifel an Ali Mukhtabs Wahl zu äußern.
»Es wird Ärger geben«, sagte Alanna zu Jonathan, als sie sich vor dem Abendessen wuschen. »Mit Amman Kemail. Wetten?«
Jon reckte sich hoch. Er war gekränkt, das sah man ihm an. »Willst du andeuten, dass ich nicht selbst auf mich aufpassen kann? Ich wäre dir dankbar, wenn du dir in Erinnerung riefest, dass ich schon zum Ritter geschlagen wurde, als du noch Knappe warst – mein Knappe!«
»Was ist denn neuerdings mit dir los?«, rief Alanna gereizt. »Entschuldigt bitte vielmals, Eure Königliche Hoheit! Mir war nicht bewusst, dass ich dein Können in der männlichen Kunst der Selbstverteidigung in Frage stellte. Ich war dumm genug mich um dein Wohlergehen zu sorgen! Vergib mir! Erlaub deiner untertänigen Dienerin, dich daran zu erinnern, dass mit diesen Leuten nicht zu spaßen ist!« Sie schleuderte ihr Handtuch weg und stapfte nach draußen, wobei sie die Zähne so fest zusammenbiss, dass ihr der Kiefer schmerzte.
Jon war schon seit seiner Ankunft so empfindlich. Fast sah es so aus, als wolle er sich selbst und ihr irgendwas beweisen. Das passte ihr nicht. Im Palast hatten sie sich, so schien es damals, nur ihre Leidenschaft beweisen müssen. Dieser Teil ihrer Liebe hatte sich nicht geändert, aber wenn Jon jetzt redete, hatte sie manchmal Lust, sich die Ohren zuzuhalten, um seine Stimme nicht hören zu müssen.
Wer von uns beiden hat sich verändert?, fragte sie sich, als sie sich zu den Bazhir-Männern setzte. Und warum, im Namen der Mutter?
Einen Augenblick oder zwei später nahm Jon seinen Platz neben Ali Mukhtab ein. Er warf Alanna einen Blick zu und schüttelte lächelnd den Kopf. Als wäre ich ein widerspenstiges Kind, das einen kleinen Wutanfall gekriegt hat, sagte sie sich. Sie sah zu Trusty hinüber, der sich eben vor ihr niederließ und wild mit dem Schwanz zuckte. Also war er ebenso wie sie auf irgendwelche Schwierigkeiten gefasst.
Amman Kemail wartete, bis die Frauen begannen Essen herumzureichen. Gerade bot Ali Mukhtab Jonathan ein Stück seines Brots an, als sich der Häuptling vom Stamm der Sonnenuntergangsdrachen erhob und auf den Prinzen deutete.
»Ich werde kein Brot brechen mit dem Sohn des nordischen Königs!«
Die wenigen Gespräche, die im Gange waren, versiegten. Myles, der neben Alanna saß, flüsterte: »Hätte ich mir denken können.«
Langsam sah Ali Mukhtab zu dem stehenden Mann auf. »Hast du eine Klage vorzubringen, Amman Kemail?«
»Er ist keiner von uns. Er hat sich nicht das Recht verdient, in Frieden mit uns zu sitzen oder Brot aus der Hand der Stimme der Stämme entgegenzunehmen. Soll er sich vor unser aller Augen in einem Zweikampf beweisen!«
»Jonathan, Sohn des nordischen Königs, wurde zum Zweikampf herausgefordert«, sagte Ali Mukhtab tonlos. »Wer hat etwas dagegen einzuwenden?«
Bevor sich Alanna erheben konnte, packten Kara und Kourrem sie bei den Schultern. Trusty hüpfte auf ihren Schoß.
»Denk doch nach!«, zischte Myles. Rasch fuhr er fort: »Sie akzeptieren ihn nicht einmal als Krieger, geschweige denn als Stimme. Wenn du eingreifst, werden sie sich für alle Zeiten fragen, ob er andere für sich kämpfen lässt. Er war schon Ritter, als der Krieg gegen Tusain stattfand. Er ist kein kleiner Junge mehr, der noch nie Blut gesehen hat!«
»Außerhalb der Palasthöfe hat er noch nie von Mann zu Mann gekämpft!«, flüsterte Alanna mit zitternder Stimme.
»Georg Cooper hat nicht nur dich ausgebildet, sondern auch ihn! Benutze mal deinen gesunden Menschenverstand, Alanna!«
Sie wusste, Myles hatte recht. Das half ihr aber nicht, als sie zusah, wie sich Jon fertig machte. Blass und mit harter Miene zog er seinen Waffenrock, sein Hemd und seine Stiefel aus. Coram hielt ihm das Messer, während er mit seinen Lockerungsübungen begann. Auch Amman Kemail entkleidete sich bis aufs Lendenruch. Sein Gesichtsausdruck war entschlossen. Von der Muskulatur her waren sich die beiden ebenbürtig, doch war der Bazhir ein paar Zoll größer als Jon.
Alanna löste sich aus Karas und Kourrems Griff, ging hinüber zum Prinzen und kauerte sich neben ihn. »Denk daran, was du hier erreichen willst!«, flüsterte sie. Den Streit von vorher hatte sie vergessen. »Die Bazhir sind streng, wenn es um ihre Ehre geht. Bring keine Schande über Kemail!«
Lächelnd sah er zu ihr hoch. »Und was ist, wenn ich Schande über mich bringe?«
Sie erwiderte sein Lächeln. »Dazu ist es bisher noch nicht gekommen, Prinz. Verzeih, wenn ich das sage, aber jetzt ist vielleicht nicht der richtige Augenblick damit anzufangen.«
Er fasste nach ihrer Hand und küsste sie. »Du machst dir zu viel Sorgen, Lady Alanna.« Er stand auf und nahm von Coram mit kurzem Nicken sein Messer entgegen. Beide Männer waren bereit; Ali Mukhtab gab Signal zu beginnen.
Amman Kemail stürzte sich vorwärts und zog mit seinem Messer eine klaffende, blutende Wunde quer über Jonathans Brust. Der Prinz taumelte zurück; noch einmal machte der Bazhir einen Ausfall. Alanna schloss die Augen. Als ein überraschtes Murmeln erklang, schaute sie wieder hin. Kemails linker Arm hing nutzlos herab, aus der Wunde an seiner Schulter tropfte Blut. Jonathan umkreiste ihn geduckt.
Der Bazhir griff erneut an. Alanna blinzelte. Jonathan machte einen Satz rückwärts, einen zweiten vorwärts und traf so fest mit dem Fuß auf Kemails Brust, dass dieser krachend zu Boden stürzte. Kraftlos rappelte er sich wieder hoch, gerade als Jon von Neuem auf ihn stürzte. Mit dem Messerknauf beschwert fuhr die rechte Faust des Prinzen vor, so schnell, dass Alanna nicht folgen konnte. Der Schlag landete genau auf dem Kinn des Bazhir. Der Häuptling fiel und blieb bewusstlos liegen.
Ali Mukhtab trat nach vorn. »Es steht Euch frei, ihn zu töten«, sagte er mit undurchdringlicher Stimme. Die umstehenden Männer – die Gäste ebenso wie die Stammesmitglieder – waren still. »Ihr habt gewonnen. Es ist Euer gutes Recht.«
Jonathan schüttelte den Kopf. »Amman Kemail hat ehrlich seine Zweifel geäußert. Wäre ich an seiner Stelle, hätte ich dasselbe getan. Ich kann keinen Mann töten, nur weil er mich nicht mag, doch ich kann hoffen, dass er sich anders besinnt, wenn er mich besser kennt.«
Männer traten vor und trugen den immer noch bewusstlosen Häuptling aus dem Kreis und in sein Zelt. Diejenigen, die zurückblieben, betrachteten Jonathan nachdenklich.
Coram kam mit einem Handtuch angeeilt. Kara reichte Alanna ihre Heilertasche, und sie begann, Jons Brustwunde zu versorgen, auf der das Blut schon gerann. »Wie habe ich mich gehalten?«, fragte Jon schwer atmend, als er den Wasserschlauch entgegennahm, den ihm Kourrem reichte.
»Wo hast du gelernt so zu kämpfen? Zu treten und zu schlagen, wie du es tatst?«, erkundigte sich Alanna und rieb Salbe in die klaffende Schnittwunde. »Das hat dir Georg nicht beigebracht.«
Jonathan lächelte. »Ungefähr einen Monat nach deiner Abreise kam ein Shang-Krieger in den Palast, der sich ›Wolf‹ nannte. Bei ihm habe ich gelernt. Bloß hätte ich nie gedacht, dass mir das, was er mir beibrachte, so nützlich werden könnte.«
»Die Shang-Krieger sind durchtrieben«, sagte Coram. »Aber dieser Wolf hat seine Sache gut gemacht.«
»Was ist ein Shang-Krieger?«, flüsterte Kara Alanna zu.
»Sie werden schon von Kind auf zum Kämpfen ausgebildet«, antwortete Myles. »Sie gehen mit allen Arten von Waffen um, als hätten sie die schon bei der Geburt in der Hand gehalten. Doch ihre gefährlichsten Waffen sind die bloßen Hände und Füße. Männer und Frauen...«
»Frauen auch?«, stieß Kourrem überrascht hervor.
»Nicht viele Frauen überstehen die Lebensweise der Shang, aber diejenigen, denen es gelingt, sind so legendär wie die Männer«, entgegnete Myles. »Wie ich schon sagte, legen sie großen Wert auf persönliche Ehre und Geschicklichkeit, suchen unentwegt nach neuen Herausforderungen und bleiben nie lange am gleichen Ort.«
»Wie Alanna«, sagte Kara.
»Ganz ähnlich«, stimmte Myles mit einem kleinen Lächeln zu.
Alanna verband den Prinzen fertig. Es war eigenartig zuzuhören, wie Myles den Mädchen Dinge erklärte. Auf ganz ähnliche Weise hatte er früher auch sie unterrichtet. Gerade verschloss sie die Binde mit ein paar Stichen, als Ali Mukhtab zu ihnen herüberkam.
»Ihr habt Euch Euren Platz unter den Bazhir verdient, Jonathan von Conté«, sagte er förmlich. »Wollt Ihr nun einer von uns werden?«
Jonathan nickte und erhob sich. »Was muss ich tun?«
Alanna, Myles und die anderen sahen zu, wie Jonathan die Zeremonie durchlief, die ihn mit den Bazhir und der Wüste verbinden würde. Nur einem Narren wäre nicht aufgefallen, dass die Bazhir über Jonathans Aufnahme weniger Freude zeigten, als es die Mitglieder vom Stamm des Blutigen Falken getan hatten, als Alanna eine der ihren geworden war. Es herrschte Stille, als Ali Mukhtab an seinem eigenen Arm und dem Jonathans einen Schnitt zog, und anschließend fand auch kein Festmahl statt.
»Dich haben sie willkommen geheißen, nicht wahr?«, fragte Jon, als sie im Bett lagen.
»Ja«, flüsterte Alanna.
»Sie sind immer noch nicht überzeugt, dass ich eine gute Stimme der Stämme abgeben werde. Ich muss es einfach durch die Tat beweisen.« Er zog Alanna an sich. »Ich weiß, dass es in letzter Zeit ein bisschen schwierig war, mit mir auszukommen«, gestand er. »Mein ganzes Leben lang hab ich mich so eingeengt gefühlt und habe mich trotzdem immer korrekt verhalten, und das geht mir seit einiger Zeit auf die Nerven. Ich will ausbrechen und all die Dinge tun, die ich nicht tun darf. Vermutlich werde ich sie nie tun und im Augenblick kämpfe ich gegen den Wunsch an. Kannst du das verstehen?«
»Nein«, entgegnete Alanna offen. »Ich habe mein ganzes Leben damit verbracht, dass ich versuchte zu vermeiden in eine derartige Falle zu geraten.«
»Tja, meine reizende Löwin, in diese Falle wurde ich hineingeboren. Vermutlich werde ich die Ruhelosigkeit überwinden. Ich will wirklich ein guter König und eine gute Stimme der Stämme werden.«
»Dann wird es dir auch gelingen«, versicherte sie ihm. »Daran zweifle ich keinen Augenblick.«
Nach Jonathans Aufnahmezeremonie verbrachte Alanna nur noch wenig Zeit mit Kara und Kourrem. Sie überließ es den im Dorf weilenden Schamanen, die beiden zu unterrichten. Zweimal täglich stattete sie nun Ali Mukhtab einen Besuch ab und jedes Mal fühlte sie sich anschließend erschöpft, und ihr war übel. Nur Farda und der Kranke wussten, was sie tat. In ihrer Freizeit und spätabends, wenn Jon von Mukhtab eingewiesen wurde, sprach sie mit Myles und ließ sich berichten, was sie über die Baronie Olau erfahren musste.
Endlich eröffnete ihr Myles, dass sie nun alles über seine Ländereien wisse. »Falls du nichts dagegen hast, würde ich dich gern hier adoptieren. Die Zeremonie der Bazhir ist einfach und völlig rechtsgültig.« Er lachte vergnügt in sich hinein. »Ich glaube, deine Wüstenfreunde wären glücklich, wenn du einen Vater bekämst, selbst einen so wenig respektablen wie mich.«
Alanna umarmte ihn. Ihr fiel auf, dass es ihr jedes Mal leichter fiel, ihn zu umarmen. Das war einer der vielen Punkte, wo man es als Mädchen viel schöner hatte; von Jungs wurde erwartet, dass sie ihre Gefühle nicht offen zeigten. »Es stimmt überhaupt nicht, dass du nicht respektabel bist. Na ja, höchstens ein bisschen. Wenn du dich bloß besser kleiden würdest. Du könntest es dir ja schließlich leisten.« Sie hatte entdeckt, dass Myles viel reicher war, als sie es sich hätte träumen lassen, was an seinem wenig edelmännischen Interesse am Handel lag.
»Mir ist es aber bequem so«, wandte der Ritter ein. Verschmitzt fügte er hinzu: »Wenn du Jon heiraten würdest, müsste ich mich natürlich von Zeit zu Zeit mal fein machen.«
Trusty stieß ein leises Miauen aus, als Alanna ihren Freund anstarrte. »Woher weißt du das?«
»Ich bin doch nicht blind. Auf dem ganzen Weg hierher hat er vor sich hin gebrütet. Und wenn er das gerade nicht tat, dann sprach er über die Gründe, warum sich ein Prinz verheiratet.«
»Oh.« Alanna nestelte an ihrem Glutstein herum. »Ich sagte ihm, ich wolle es mir überlegen.«
»Weshalb?«
»Ich bin nicht sicher, ob er mich aus den richtigen Gründen heiraten will. Er scheint wütend zu sein, dass man von ihm als Prinz erwartet, sich auf eine bestimmte Art und Weise zu benehmen. Er nennt es ›eine Falle, in die er hineingeboren wurde‹.« Alanna hob Trusty hoch und setzte ihn sich auf die Schultern. »Ich mache ihm keinen Vorwurf daraus, dass er rebellieren will – das ist einer der Gründe, warum ich den Hof verließ. Aber die Vorstellung, dass er seine Rebellion durch eine Heirat mit mir beweisen will, behagt mir nicht. Das macht mich zu einer Sache, zu einem Beweis dafür, dass er tun kann, was er will. Ich möchte aber lieber eine Person bleiben.«
»Er liebt dich. Das ist jedenfalls sicher«, sagte Myles.
Sie seufzte. »Ich weiß. Aber ich frage mich, ob er mir einen Antrag gemacht hätte, wenn er nicht so – hibbelig wäre. Und noch was, Myles. Es hat mir noch nie gefallen, wenn mich die Leute beobachteten und laufend über mich redeten, selbst wenn sie nette Dinge über mich sagten. Außerdem habe ich es immer noch nicht gelernt, mit der Tatsache zu leben, dass ich Roger getötet habe.« Sie zuckte zusammen, als ihr der Kater die Nase ins Ohr stupste. »Mir gefällt es hier. Die Bazhir akzeptieren mich. Hier unter ihnen bin ich ich. Na ja, soweit es mir als Schamanin und Kriegerin möglich ist, ich zu sein, und natürlich versuche ich, die Leute hier nicht vor den Kopf zu stoßen.«
»Liebst du Jon?«
Alanna kraulte Trusty zwischen den Ohren. Sie sah traurig aus. »Die Liebe ist wunderschön, aber das ist nicht genug, um uns für eine jahrelange Ehe zusammenzuhalten. Ich bin nicht sicher, ob ich bereit bin; ich bin nicht sicher, ob Jon bereit ist. Aber ich muss sicher sein, wenn ich König Roalds Erben heiraten will.« Sie lächelte. »Ja, ich liebe ihn. Das ist ja das Problem.«
Myles stand auf und legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Der einzige Rat, den ich dir geben kann, ist dich mit Bedacht zu entscheiden. Wenn du so unsicher bist, wäre es nicht richtig, schon jetzt zu heiraten. Ein ›Nein‹ kann immer noch zu einem ›Ja‹ werden, aber es ist sehr schwierig, aus einem ›Ja‹ ein ›Nein‹ zu machen. Komm, lächle! Jetzt gehen wir nachsehen, was deine Lehrlinge so treiben.«
Die Lehrlinge waren leicht zu finden. Alle Schamanen im Dorf, dazu Jonathan, Ali Mukhtab, Farda und Halef Seif hatten sich um den Brunnen versammelt. Auf dem freien Platz vor Ali Mukhtabs Zelt stand Kara. Ihre Schleier flatterten, als sie vor sich einen wirbelnden Staubtrichter in die Luft aufsteigen ließ. Alanna strahlte vor Stolz. Seit damals, als dieses Bazhir-Mädchen nicht in der Lage gewesen war die Winde zu kontrollieren, die es herbeirief, hatte es gewaltige Fortschritte gemacht.
Dann trat Kourrem mit einem Stück Garn in der Hand nach vorn. Ihre Lippen bewegten sich, während sie einen komplizierten Knoten knüpfte. Der Wirbelsturm, der langsam zum Himmel emporgewachsen war, hielt inne. An seinen Seiten rieselte der Staub herab und wurde wieder nach oben gesogen. Lächelnd knüpfte Kourrem einen zweiten, festeren Knoten. Jetzt fiel der Staub in sich zusammen und herunter auf die Erde.
Die Schamanen spendeten den beiden lachenden und hinter ihren Schleiern errötenden Mädchen Beifall.
»Sie wissen so viel wie jeder Schamane«, erklärte Umar Komm Alanna. »Wir müssen demnächst ihre Aufnahmezeremonie abhalten.«
Alanna runzelte die Stirn. »Sie sind noch so jung. Ich befürchte, dass sie Probleme haben werden, wenn ich weggehe von hier.«
Der alte Mann lachte. »Du sorgst dich um sie, wie sich eine Wüstenhenne um ihre Küken sorgt«, sagte er. »Aber du hast recht. Ein Schamane, der zu jung ist, kann einen Stamm ins Elend führen. Ich glaube, Mahman Fadul würde gern der oberste Schamane unseres Dorfes werden.« Er nickte zu dem jungen Mann hinüber, der mit ihm gekommen war, einem gut aussehenden Kerl, der Alanna die ganze Zeit über bewundernd anzustarrte. »Wenn du willst, bleibe ich hier beim Stamm des Blutigen Falken und passe auf deine Küken auf, Frau-die-wie-ein-Mann-reitet. Während die Mädchen für den Stamm sorgen, kann ich die Schamanenschule überwachen.«
Alanna nagte an ihrem Daumen. »Ich fürchte, man könnte mir vorwerfen, ich ließe meinen Posten im Stich.«
Umar Komm schüttelte den Kopf. »Keiner erwartet von dir, dass du für den Rest deines Lebens bei uns bleibst. Dass du so lange hier verweiltest, ist eine Ehre für unser Volk. Und du kannst ja jederzeit wiederkommen.«
Alanna war, als habe man ihr eine schwere Last von den Schultern genommen. »Wenn es so ist, nehme ich dein Angebot mit Freuden an«, sagte sie. »In fünf Tagen ist Vollmond – dann können wir die Aufnahmezeremonie der Mädchen abhalten.«
»Ausgezeichnet.« Umar Komm nickte. »Ich werde die Frauen des Stammes anweisen ein Festmahl vorzubereiten, an das wir noch lange denken werden.« Einen Augenblick lang schwieg er, dann zog er sie beiseite. »Wie krank ist die Stimme der Stämme?«
Alanna warf einen Blick zu Ali Mukhtab hinüber. Er stützte sich auf einen langen Stab und unter der Sonnenbräune war sein Gesicht grau. »Warum fragst du?«
»Die Schamanen tuscheln untereinander. Wir haben Augen und können damit sehen. Er wird sterben, habe ich recht?«
Alanna nickte.
»Unser Volk schöpft langsam Verdacht. Er wirkt alt, wenn wir Zwiesprache mit ihm halten. Und müde. Sein Bewusstsein ist diszipliniert, er lässt nichts anderes durchdringen, aber wenn du gedankliche Verbindung mit ihm aufgenommen hättest, als er noch im besten Alter war ...«
»Ich habe noch nie mit der Stimme auf gedanklichem Weg Zwiesprache gehalten«, gestand sie.
Umar Komm lächelte. »Natürlich nicht. Du hast Angst davor, du könntest dich verlieren, wenn du dich einem anderen hingibst – auch wenn du dich in Liebe hingibst wie deinem nordischen Prinzen.«
»Weiß denn hier jeder über meine Angelegenheiten Bescheid?« , fragte sie in scharfem Ton.
Gerade noch rechtzeitig dachte sie daran, ihren Ton zu mäßigen.
»Die Bazhir haben einen klaren Blick«, entgegnete der Schamane. »Und die Edlen aus dem Norden lieben dich alle beide, jeder auf seine Art. Es wäre eine schöne Sache für unser Volk, wenn sich die Frau-die-wie-ein-Mann-reitet mit der Stimme der Stämme verehelichte.«
»Und wenn nicht?«, fragte sie ruhig.
Er sah überrascht aus. »Nun ja, dann bist du immer noch die Frau-die-wie-ein-Mann-reitet und er immer noch die Stimme. Natürlich nur, falls er den Ritus überlebt.«
Alanna bat darum, sich entfernen zu dürfen, da sie sah, dass Ali Mukhtab nach drinnen gehen und sich hinlegen musste. Ja, richtig, dachte sie sich. Falls.
An diesem Abend nahm Halef Seif sie nach dem Essen beiseite. »Sir Myles von Olau sagte mir, er hege den Wunsch dich als Erbin in seinem Zelt aufzunehmen«, sagte er. Alanna nickte. Ein Lächeln erhellte das Gesicht des Häuptlings. »Ich komme mir komisch vor, wenn ich sage, dass er dich zu seiner Tochter machen will, denn in unserem Volk kann eine Tochter nicht alles erben, was der Vater besitzt. Er sagte mir, ihr wärt schon seit langem Freunde.«
»Alles, was ich über die Bazhir wusste, bevor ich herkam, hat er mich gelehrt«, sagte sie. »Überhaupt hat er mir während meiner Jugendjahre viele nützliche Dinge beigebracht. Ich fühle mich geehrt, dass er mich an Kindes statt annehmen will.«
»Viele eigenartige Dinge sind dir seit deiner Geburt passiert«, sinnierte Halef. »Dass du nun, wo du erwachsen bist, einen Vater findest, ist nicht seltsamer als alles andere. Wünschst du, dass die Zeremonie heute Abend abgehalten wird?«
»Heute Abend?«
»Warum warten? Du hast deinen Stamm um dich und deinen Prinzen, der dir seinen Segen geben wird ...«
Alanna musste schwer schlucken. »Ja, natürlich, warum nicht heute Abend?«, sagte sie tapfer. »Äh – wird es ablaufen wie damals, als ich in den Stamm aufgenommen wurde?«
»Genau so«, bestätigte er, während er sie wieder in den Lichtkreis führte, der das Feuer umgab. Alanna sah die Narbe an ihrem Handgelenk an, die noch von ihrer Aufnahmezeremonie stammte, und verzog das Gesicht. Sie war eitel genug nicht noch mehr Narben zu wollen, als sie schon hatte, aber vernünftig genug, um zu wissen, dass sie sich bei dem Leben, das sie sich ausgesucht hatte, vermutlich noch viele weitere einhandeln würde. Halef Seif hob die Hände, damit ihm alle ihre Aufmerksamkeit schenkten. Myles erhob sich und klopfte sich das Hinterteil seiner Kniehose ab.
»Heute Abend wünscht der Nordländer namens Myles von Olau, Freund der Bazhir, Alanna vom Stamm des Blutigen Falken als Tochter und Erbin in sein Zelt zu rufen.« Er wartete, bis das überraschte Gemurmel verstummte, bevor er weitersprach. »Nach unserem Gesetz muss dieser Ritus von sieben Männern bezeugt werden. Wer will Zeuge sein?«
Alanna errötete, als sich fast alle Männer des Stammes meldeten. Halef Seif wählte Ali Mukhtab, Jonathan, Coram, Umar Komm, Gammal, den Schmied ...
»Halef Seif!«, sagte Alanna nervös. Der Häuptling sah sie an. »Ich möchte, dass meine Lehrlinge als Zeugen auftreten.«
Wieder erhob sich ein Murmeln. Das Gesetz erlaubte es nicht, dass sich Frauen an Zeremonien wie dieser aktiv beteiligten. Alanna biss die Zähne zusammen. Als Schamaninnen würden die Mädchen an allen Aktivitäten des Stammes teilnehmen müssen. Kara und Kourrem hielten sich im Hintergrund, doch die Männer schoben sie nach vorn, bis sie bei den anderen Zeugen standen. Halef Seif erhitzte seine Messerklinge im großen Feuer.
»Kremple deinen Ärmel hoch und lächle!«, flüsterte Myles, der dasselbe tat. Alanna rollte ihren rechten Ärmel hoch und überlegte sich, dass es nicht das Gleiche war wie eine im Kampf erhaltene Wunde, wo es oft lange dauerte, bis man überhaupt merkte, dass man verletzt war, und wo die Erregung als schmerzstillende Droge wirkte. Jetzt blieb ihr nichts anderes übrig als sich zusammenzureißen, während Halef Seif zuerst an Myles’ und dann an ihrem Handgelenk einen leichten Schnitt zog und beide Wunden zusammenpresste, sobald das Blut zu fließen begann. Wieder verspürte Alanna eine seltsame, verbindende Magie, als Halef Seif befahl: »Werdet eins miteinander, werdet eins mit den Bazhir und mit der Wüste, die wir lieben.« Die vermischten Blutstropfen fielen herab und versickerten im Sand, während die Männer des Stammes jubelten.
»Na, war es so schlimm?«, fragte Myles, als ihnen Farda Binden anlegte. Alanna zog eine Grimasse und sah zu, wie die Zeugen die rechtsgültigen Dokumente unterschrieben, die Myles aus Corus mitgebracht hatte. Dann wurde ihr klar, dass sie jetzt einen Vater hatte, der sie liebte. Sie lachte, während ihr gleichzeitig die Tränen über die Wangen liefen.
Später traf Jonathan sie dabei an, wie sie wieder einmal mit dem Kristallschwert kämpfte und ein weiteres Stück des Bösen aus seinem Innersten herauszwang. Lächelnd sah sie zu ihm hoch, als er ihr mit einem kühlen Tuch den Schweiß von der Stirn wischte. »Ich glaube, jedes Mal, wenn ich das mache, wird meine Gabe stärker«, sagte sie schwer atmend. Er warf ihr einen zweifelnden Blick zu. »Ermüdet es dich immer so?« Als sie nicht antwortete, fügte er leise hinzu: »Oder ermüdet es dich, weil du dich damit verausgabst, Ali Mukhtab am Leben zu halten?«
»Ich muss es tun, wenn du die Stimme werden sollst«, entgegnete sie und drehte das Schwert zwischen ihren Händen. »Du willst es – und er will es. Ich glaube, jetzt kannst du es in die Hand nehmen.« Sie bot ihm das Kristallschwert an. »Es ist nicht mehr so böse wie damals, als ich es Ibn Nazzir abnahm.«
Er griff danach. Als er die Macht spürte, zog er die Augenbrauen hoch. »Es muss schrecklich gewesen sein.«
Sie zuckte die Achseln. »Wenn ich bloß wüsste, was Herzog Roger damit zu tun hatte.«
Er reichte ihr das Schwert mit dem Heft voraus. Alanna steckte es wieder in die Scheide. »Ich habe mich bei Myles danach erkundigt«, erklärte Jonathan. »Er erinnerte mich an etwas – wusstest du, dass Roger früher einmal ein berühmter Amateur-Silberschmied wahr?«
Sie starrte ihn mit großen Augen an. »Nein.«
»Er machte Waffenhefte, Schmuckanhänger – ich glaube, er entwarf auch seinen Zauberstab selbst. Vermutlich ist das Heft dieses Schwertes ebenfalls seine Arbeit.«
»Und die Klinge?«, wollte sie wissen.
Er lächelte bitter. »Ich habe mir Rogers Bücher und Papiere angesehen, zumindest die, die ich finden konnte. Ich weiß jetzt mehr über ihn als damals bei seinem Tod. Ja, Liebes, ich glaube, dass auch die Klinge seine Arbeit ist. Ich wollte, du könntest wieder Blitz tragen.«
»Ich auch. Mir bleibt nichts anderes übrig, als weiterhin nach einem Weg zu suchen, mein eigenes Schwert zu flicken.« Sie seufzte, legte die Waffe weg und ließ zu, dass er ihr von dem Kissen hochhalf, auf dem sie saß. Sie hatte vor dem Altar gearbeitet; jetzt führte er sie nach hinten zum Schlafquartier.
»Alanna?«, fragte er, als sie sich für die Nacht fertig machte. »Trägst du immer noch das Amulett, das dir Frau Cooper gab, damit du nicht schwanger wirst?«
Sie zeigte es ihm, wie es halb verdeckt an der gleichen Kette mit dem Glutstein hing. »Ich lege es nie ab.«
»Ich hoffe doch, dass du es abnehmen wirst, wenn wir verheiratet sind«, sagte er gähnend.
Vorerst will ich noch keine Kinder!, wurde ihr gerade klar, und so was wie Panik packte sie. Sie beherrschte sich und sagte trocken: »Noch sind wir nicht verheiratet, mein Prinz.«
Er lachte schläfrig. »Natürlich nicht, meine schöne Löwin. Komm ins Bett!«
Am Tag vor dem Vollmond weckte Alanna Kara und Kourrem schon vor Morgengrauen und ritt allein mit ihnen zur nächsten Oase.
Nachdem sie Gebete für die beiden gesprochen hatte, schickte sie die Mädchen ins kalte Wasser zur rituellen Reinigung, die sie schweigend vollzogen. Keine durfte reden, bis das Ritual am Abend vollzogen war. Keine durfte Magie anwenden oder, abgesehen vom Ankleiden, irgendwelche Arbeiten verrichten. Still kehrten sie ins Lager und zu Alannas Zelt zurück, wo sie sich vor den Altar knieten. Zwei Augenpaare wandten sich der Lampe zu, die dort brannte; Augenblicke später waren Kara und Kourrem in einer leichten Trance versunken. So würden sie stundenlang verharren und über das Leben nachdenken, das sie aufzunehmen im Begriff waren.
Gerade ging die Sonne auf, als Alanna Ali Mukhtabs Zelt betrat. Er war schon wach und nahm eben von Farda eine Tasse Tee entgegen.
»Also haben deine Küken das Ritual begonnen.« Alanna verzog das Gesicht, als sie ihre Heilertasche öffnete. Umar Komms Bezeichnung für ihre Lehrlinge war inzwischen im ganzen Stamm bekannt. »Wie fühlst du dich dabei?«, erkundigte sich Ali Mukhtab.
»Als müsste ich die komplette Ritterprüfung noch einmal durchstehen«, gestand sie, während sie nach seinem Puls tastete. »Wie hast du geschlafen?«
»Erwartest du von mir, dass ich sage: ›Wie ein neugeborenes Kind‹?« Seine Augen funkelten schelmisch. Selbst dem blindesten Stammesmitglied fiel inzwischen auf, wie sehr er an Gewicht verloren hatte und wie grau seine Haut war.
»Ich erwarte von dir, dass du mir das Vertrauen erweist mich nicht zu belügen.« Sie legte beide Hände auf seinen Arm, holte tief Luft und machte sich bereit, noch einmal die Schmerzen zurückzudrängen. Jedes Mal wurde es schwieriger, für sie und für ihn.
Als sie ihn losließ, schwankte sie rückwärts und wäre gefallen, hätte Farda sie nicht aufgefangen. Sie fühlte sich schwindlig, ihr war übel. So ging es ihr jetzt jedes Mal, wenn sie den Zauber sprach, was sie dreimal täglich tat. Sie nahm das Tuch, das ihr Farda reichte, und wischte sich die Stirn. Schon sanken Mukhtabs Augenlider herunter.
»Wie lange muss Jonathan noch lernen?«, krächzte sie. Ihre Stimme war ebenso kraftlos wie ihr übriger Körper. »Wann wird er bereit sein?«
Sie musste ihr Ohr an den Mund des sterbenden Mannes legen, um zu hören, was er sagte. »Bei Neumond. In vierzehn Tagen.«
»Was ist, wenn er versagt?« Der Gedanke war entsetzlich. Wenn Jon versagte, musste er sterben und Ali Mukhtab ... Die Stimme rang sich ein Lächeln ab. »Dann werde ich meinen Tod erwarten. Alanna...«
»Ja?«
»Auch Akhnan Ibn Nazzir überlebte den Schamanenritus. Deine Küken werden es gut machen.«
Das Licht des Vollmonds tauchte den Wüstensand in ein gespenstisches Weiß. Ein passender Rahmen für eine Initiation, nehme ich an, überlegte Alanna, als Umar Komm die Liste der Götter verlas, denen die Bazhir Ehre erwiesen. Umringt von Zauberfeuern, die in Alannas Violett und in Umar Komms Blaugrün glühten, knieten die Mädchen im Sand. Ihre beiden Lehrlinge wirkten müde, aber ruhig. Alanna war stolz auf sie. Die beiden werden gut sein für den Stamm, sagte sie sich. Sogar, wenn sie ihre Gesichtsschleier anbehalten wollen.
Umar Komm endete mit seiner Verlesung der Namen der Götter und nickte Alanna zu. Sie streckte die Hände nach den Mädchen aus, wobei ihr bewusst war, dass all jene zuschauten, die in den letzten Tagen beim Stamm des Blutigen Falken eingetroffen waren. Zwischen Alanna und ihren Lehrlingen lag klar und deutlich der Feuerkreis. »Wenn ihr reinen Herzens und starken Willens seid, so kommt!«, forderte sie sie mit den Worten auf, die sie am selben Tag von Umar Komm und den anderen Schamanen gelernt hatte.
Kara erhob sich. Einen Augenblick lang wankte sie, als sie sah, dass die magischen Flammen höher loderten als sie selbst groß war. Dann nahm ihr Mund einen entschlossenen Zug an, und sie durchschritt den Ring. Kourrem folgte, ohne zu zögern. Alanna und Umar ließen Lichterwände aufsteigen und wieder forderte Alanna die Lehrlinge auf: »Wenn ihr tun wollt, was die Götter von euch verlangen, so kommt!« Gemeinsam durchschritten die Mädchen das Licht. Für einen kurzen Moment wurde Kara langsamer, blieb fast stehen, doch dann traten beide auf der anderen Seite hervor. Nun schufen Alanna und Umar Komm vor den Füßen der Mädchen einen tiefen Graben in der Erde. Zum dritten Mal befahl Alanna: »Wenn ihr eure Pflicht tun wollt für euer Volk und euren Stamm, so kommt!«
Diese Aufgabe war die schwerste, denn sie erforderte ein Höchstmaß an Willenskraft. Nur wenige Zauberer erhoben sich vom Boden, denn es kostete zu viel Energie, auch nur eine kleine Strecke auf diese Art und Weise zurückzulegen. Ausgelaugt wie sie war von der Anstrengung, Ali Mukhtab am Leben zu halten, hatte Alanna ihre Zweifel, ob sie selbst es geschafft hätte.
Kourrem zögerte und bemühte sich ihren Willen zu stärken. Es war ihr verboten, Garn zu benutzen oder Steine zu bewegen, um den Graben zu füllen. Sie musste hinüberfliegen. Kara biss sich auf die Unterlippe, trat vor und schwebte sehr langsam über den Graben hinweg. Fast war sie auf der anderen Seite angelangt, als Kourrem angeflogen kam und sie einholte. Am Ziel stürzten beide erschöpft zu Boden. Erst als Kourrem von Umar Komm und Kara von Alanna aufgehoben wurde, rührten sie sich wieder.
»Nun seid ihr Schamaninnen der Bazhir«, sagte Alanna.
»Willkommen in unserer Bruderschaft.« Umar Komm lächelte sie an.