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Schamanin der Bazhir

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Einen Augenblick lang starrte ihn Alanna nur an. Schließlich lächelte sie gequält. »Du scherzt natürlich.«

»Ich habe noch nie etwas ernster gemeint.«

Alanna schüttelte den Kopf. »Ich denke, das solltest du mir erklären.«

»Gewisse Stämme leben mit dem König im Norden schon seit zwei Generationen im Krieg«, begann Mukhtab. »Der Preis war hoch, und zwar für beide Seiten. Auch herrscht zwischen denen unseres Volkes, die euren König akzeptieren, und jenen, die dies nicht tun, Bitterkeit. Und am Ende muss der nordische König siegen.«

»Woher weißt du das?«, wollte Alanna wissen.

»Jeder Stimme ist eine kleine prophetische Gabe verliehen«, war die Antwort. »Euer König wird siegen, wenn wir den Kampf fortführen, denn die Waage neigt sich diesmal zu seinen Gunsten. Nach der Niederlage würde man mein Volk – vielmehr unser Volk – aus der Wüste vertreiben, die uns Mutter und Vater ist. All jene Dinge, die uns ermöglichen Krieg gegen den König und unsere Feinde, die Männer von den Hügeln, zu führen, nähme man uns fort. Die Stämme würden zerstreut werden; wir wären kein Volk mehr.

Wenn jedoch Prinz Jonathan das Amt der Stimme der Stämme übernimmt, so wird er eines Tages König – ein Bazhir-König . Er würde uns kennen, wie wir uns selbst kennen. Da gegen die Stimme der Stämme keiner Krieg führen darf, würden die Stämme, die ihr ›Abtrünnige‹ nennt, Frieden schließen und die Stimme könnte sie ohne Blutvergießen Tortall zuführen.

Wir müssen den König im Norden anerkennen, es gibt keinen anderen Weg. Doch können wir es auf eine Art und Weise tun, die uns nie vergessen lässt, wer wir sind. Prinz Jonathan ist der Schlüssel. Wenn ich sterbe, wird er die Stimme werden und mein Volk ist gerettet.«

Alanna nagte an ihrem Daumen herum und überlegte. »Vielleicht hat Jon keine Lust«, sagte sie schließlich. »Diese Aufgabe scheint mir eine Menge Kummer mit sich zu bringen.«

Ali Mukhtab lächelte. »Jonathan wurde geboren, um zu regieren, so wie du geboren wurdest, um deinen eigenen Weg zu gehen. Wenn es eine bessere Art und Weise gibt, über seine Untertanen zu herrschen, wird er sie wählen. Ich habe ihn jahrelang im Auge behalten. Eine derartige Macht wird er nicht verschmähen.« Er griff in sein Gewand und holte einen dicken, mit Wachs versiegelten Umschlag hervor. »Würdest du ihm dies und die Schriftrollen, in denen unsere Geschichte festgehalten ist, schicken und ihn entscheiden lassen?«

Alanna nahm den Brief. Mukhtab hatte recht. Diesen Entschluss musste Jon selbst treffen. »Ich werde dafür sorgen, dass er beides erhält.«

 

Coram schüttelte den Kopf, während er seine Reitstiefel anzog. »Es gefällt mir nicht, dich ausgerechnet jetzt allein zu lassen«, protestierte er zum zwanzigsten Mal. »Dieser Akhnan Ibn Nazzir würde dich am liebsten den Wölfen zum Fraß vorwerfen, damit er dich nicht mehr sehen muss, und du schickst mich zurück nach Corus.«

»Je früher du losreitest, desto schneller bist du wieder da, um auf mich aufzupassen«, sagte Alanna ungerührt. »Die Angelegenheit ist wichtig.«

»Und dass ich dich vor diesem alten Bussard beschütze, ist nicht wichtig?«, erkundigte sich Coram. »Du sagtest, Mukhtab will mir einen Mann mitgeben?«

»Ja. Er wartet schon bei dem Packpferd.«

Alanna grinste ihren Freund liebevoll an, während sie nach draußen gingen.

»Mir passiert schon nichts. Ich habe ja Trusty als Aufpasser.«

Coram warf dem vorausstolzierenden schwarzen Kater einen finsteren Blick zu. »Schöner Aufpasser, der!«, brummte er. Sie hielten überrascht an, als sie entdeckten, dass Hakim Fahrar bei den Pferden wartete. Der hoch gewachsene Bazhir verneigte sich.

»Ich soll mit dir reiten«, entgegnete er als Antwort auf die Frage, die in ihren Gesichtern geschrieben stand. »Die Stimme hat es so befohlen.«

Alanna umarmte Coram für einen Augenblick. »Bevor du dichs versiehst, bist du wieder da«, sagte sie. »Also geh!«

Sie sah zu, wie die beiden Männer davonritten. Das Packpferd trottete hinterher. Sie nestelte an ihrem Glutstein herum und blinzelte die Tränen weg.

Du bist nicht allein, bemerkte Trusty. Du hast ja noch mich.

Alanna hob den Kater hoch und drückte ihn fest an sich. Sie weinte nicht nur, weil sie sich verloren fühlte ohne Coram. Nein, ihr Diener ritt zu Jonathan, und sie musste hierbleiben.

 

Die Ritterprüfung. Sie versank tief und immer tiefer im Wasser, fast platzte ihr die Lunge. Sie kämpfte wie besessen, doch fand sie den Weg zur Oberfläche nicht. Sie öffnete den Mund, um zu schreien ... Sie fuhr aus dem Schlaf hoch. Den Mund hatte sie so fest zugepresst, dass ihr der Kiefer schmerzte. Es war ja nicht erlaubt, im Prüfungsraum zu schreien!

Trusty ließ sich von ihrer Brust herunterplumpsen und landete auf dem Boden. Sein Gewicht war es gewesen, das sie im Schlaf an diesen entsetzlichen Augenblick erinnert hatte. Gerade wollte sie ihn wütend beschimpfen, als sie sah, dass er das Fell sträubte. Sie blieb sich mucksmäuschenstill, bis sie ein Rascheln hörte und das leise Klappern von sanft gegeneinander schlagenden harten Gegenständen.

Vorsichtig holte Alanna ihre Kampfaxt aus dem Waffenständer und schlich lautlos zum Hinterausgang des Zelts hinaus. Als Schatten unter den anderen Schatten des Lagers umrundete sie mit Trusty auf den Fersen das Zelt.

Eine zusammengekauerte Gestalt malte vorne vor dem Zelteingang Zeichen in den Sand. Sofort begriff sie, wer es war, und sie ahnte, was er im Sinn hatte. Sie hob ihre Axt, schleuderte sie zu Akhnan Ibn Nazzirs Füßen in den Sand und ging mit großen Schritten auf ihn zu, während das violette Feuer ihrer Gabe die Szene in purpurfarbenes, taghelles Licht tauchte.

»Dämon, ich beschwöre dich, tu mir nichts zuleide!«, kreischte der alte Mann. »Im Namen Mithros’...«

»Sei still!«, fauchte Alanna. Die Dorfbewohner kamen mit Schwertern und Speeren bewaffnet aus ihren Zelten gestürzt. »Jetzt hast du alle aufgeweckt!«

Ibn Nazzir keuchte vor Wut, als er sie endlich erkannte. »Ich werde dich verstoßen!«, schrie er. »Ich werde unseren Stamm von dir befreien und dich wieder in das Dunkel schicken, wo du hingehörst!«

Alanna wurde übel, als sie die Zeichnung betrachtete, an der Ibn Nazzir gearbeitet hatte. Man nannte sie »Tor zum Idramm«. Sie kannte dieses magische Symbol von Herzog Roger, der sie und Jonathan in der Zauberkunst unterwiesen hatte, als sie noch jünger gewesen waren.

»Es gibt viele verschiedene Kreaturen in unserer Welt«, hatte der Herzog von Conté erklärt. »Nennt sie Dämonen, Erscheinungen, Geister – jedenfalls sind sie unendlich vielfältig. Manche dienen der Macht, die wir das Gute nennen, manche der, die wir als das Böse bezeichnen. Ein Tor zum Idramm ruft aus einem gewissen Umkreis all diese Wesen herbei. Die Folgen« – er hatte seine breiten Schultern gezuckt  – »sind verheerend. Nur Narren bedienen sich dieses Tores, ohne es zuvor einzugrenzen.«

Die Zeichnung war fast fertig. Alanna schauderte. Irgendwelche eingrenzenden Symbole waren nicht verwendet worden.

»Du dummer, unwissender, böser alter Mann!«, rief sie und wischte die magischen Zeichen mit dem bloßen Fuß aus. »Du hättest das ganze Dorf ausrotten können! Oder war dir das egal, solange du nur mich ebenfalls erwischtest?«

Ali Mukhtab war vor die versammelte Menge getreten. »Er hat ein Tor zum Idramm vor mein Zelt gemalt!«, erklärte ihm Alanna aufgeregt.

Die Stimme erbleichte. »Bist du verrückt geworden?«, herrschte er Akhnan Ibn Nazzir an. »Wie kannst du es wagen, Magie anzuwenden, die du nicht versteht?«

»Sie verdirbt die Leute!«, jammerte der Schamane. »Dich hat sie auch verdorben, Ali Mukhtab. Ich wollte lediglich die Wüste befreien von ihrem bösen ...«

»Du hättest die Wüste von uns allen befreit!«, zischte Mukhtab wütend. »Geh in dein Zelt, Schamane, und bleib dort, bis ich eine angemessene Bestrafung für dich gefunden habe!«

Als der alte Mann floh, drehte sich Mukhtab zu Alanna um. »Du hast uns alle gerettet«, erklärte er ihr.

Alanna deutete auf den schläfrig blinzelnden Trusty. »Danke meinem Kater!«, sagte sie. »Er hat mich aufgeweckt.«

 

Als sie am nächsten Morgen aufstand, warteten Ishak, Kara und Kourrem schon. Sie wetteiferten untereinander, für wen Trusty wohl am lautesten schnurrte. »Ihr verwöhnt ihn«, schimpfte Alanna, während sie sich anzog. »Und ich muss anschließend mit einem verwöhnten Kater leben.«

»Die Männer des Stammes glauben nicht, dass er ein Kater ist«, berichtete Ishak. »Manche halten ihn für einen Gott, manche für einen Dämon.«

»Er ist weder das eine noch das andere«, informierte ihn Alanna. Sie hob Blitz auf. »Kann mir einer von euch zeigen, wo ich den Schmied finde?«

Der Schmied war Gammal, ihr großer Freund aus Persopolis. Er freute sich, dass er Gelegenheit bekam ihr einen Dienst zu erweisen. Er starrte Kara und Kourrem an, bis sie zurückwichen und ihm Platz machten, dann reichte er Ishak den Blasebalg. »Benutz ihn richtig, mein Junge!«, riet er, als er sich umdrehte, um seine Zange zu holen. Ishak sah Alanna entgeistert an. »Das habe ich noch nie gemacht«, flüsterte er.

Als Gammal wiederkam, betätigte Alanna eifrig den Blasebalg und brachte das Schmiedefeuer zur Weißglut. Der kräftige Bazhir schüttelte den Kopf, nahm das lang abgebrochene Stück von Blitzs Klinge mit der Zange auf und schob es ins Feuer, bis es ihm heiß genug erschien. Alanna meinte ein hässliches Summen zu hören, doch Gammal lenkte sie ab, indem er mit dröhnender Stimme fragte: »Wo hast du gelernt mit dem Blasebalg umzugehen, Frau-die-wie-ein-Mann-reitet?«

»Bei den Waffenschmieden des Königs«, schrie sie, um das Tosen des Feuers und das pfeifende Geräusch des Blasebalgs zu übertönen. »Wir standen mit Tusain im Krieg. Ich hatte eine schlimme Wunde am Arm und war kampfunfähig, also ging ich zu ihnen, um mir die Zeit zu vertreiben.«

»Könntest du dein Schwert selbst flicken?«, wollte der Schmied wissen. Selbst er musste lauter reden, um den Krach zu übertönen.

Alanna schüttelte den Kopf. »Ein gewöhnliches Schwert schon«, rief sie. »Aber keins, das so gut gemacht ist wie dieses.«

Gammal zog die Klinge aus der Esse, Alanna ließ den Blasebalg los. Jetzt, ohne das pfeifende Geräusch, hörte sie deutlich das Summen, das von Blitzs abgetrennter Klinge ausging. »Gammal, nicht...«, begann sie, doch in diesem Moment schlug der Schmied zu. Die Explosion, die ertönte, als sein Hammer auf das glühende Metall traf, warf sie alle zu Boden. Als sich Alanna wieder hochrappelte, war das Schmiedefeuer erloschen, mitten durch den Amboss lief ein Riss, und Gammal lag ohnmächtig am Boden. Mit dem Wasser, das Kourrem holte, brachte sie ihn schnell wieder zu sich. Der Bazhir grinste.

Das war ein Fehler, kommentierte Trusty aus sicherer Entfernung. Sieh dir mal die Klinge an.

Blitz lag immer noch auf dem Amboss. Nach einem Weilchen berührte Alanna ihr Schwert; die abgebrochene Klinge war so kalt wie die Esse. »Es hätte nicht mit dem Hammer bearbeitet werden dürfen«, erklang da überraschend Ali Mukhtabs Stimme. Alanna wirbelte erschrocken herum, denn sie hatte nicht gehört, wie er hinter sie getreten war. »Du musst eine andere Methode finden, es zu reparieren, Alanna von Trebond.« Er lächelte kurz, dass seine weißen Zähne blitzten. »Die Leute dieses Stammes führten ein sehr ruhiges Leben, bevor du kamst«, bemerkte er. Dann drehte er sich um und ging davon.

Alanna starrte finster hinterher, bis sie merkte, dass Kara, Ishak und Kourrem kicherten.

»Er hat recht«, sagte Kara. »Aber wir sind froh, dass du gekommen bist.«

Seufzend ließ Alanna die abgebrochene Klinge wieder in die Scheide gleiten und schnallte das Heft fest. Sie musste eine andere Methode finden Blitz zu reparieren. Das Schmieden von Waffen hatte man ihr im Zauberunterricht nicht beigebracht. Aber wo bekam sie in der Zwischenzeit ein anderes Schwert her? Ohne Blitz in der Hand fühlte sie sich hilflos.

»Die drei haben guten Grund, sich zu freuen, dass du zu uns gekommen bist«, sagte Gammal leise. Alanna sah sich rasch nach ihren Gefährten um. Sie standen ein Stück entfernt und versuchten, Trusty für einen bunten Ball zu interessieren. »Vorher hatten sie einen schlechten Stand im Stamm. Komm mit in mein Zelt, dann gibt dir meine Frau etwas Kühles zu trinken!«, fügte er hinzu. »Die drei da können eine Weile auf deinen Kater und sich selbst aufpassen.«

Nachdenklich am Daumen kauend folgte Alanna dem Schmied in sein Heim. Gammals Frau, die sie hinter dem Schleier mit unruhigem Blick beäugte, bediente sie. »Warum?« , fragte Alanna schließlich. »Die drei sind doch intelligent, aufgeweckt, flink – ich mag sie. Warum waren sie so schlecht angesehen hier im Stamm?«

Gammal zündete sich eine Pfeife an und paffte gedankenverloren, bevor er antwortete: »Ishak, der Junge, behauptete, er sähe Bilder im Feuer, als er gerade sechs Jahre alt war«, antwortete er.

»Natürlich«, sagte Alanna verdutzt. »Er sagte mir ja selbst, dass er die Gabe hat. Für einen Jungen seines Alters erhielt er bisher nicht sonderlich viel Unterweisung.«

Diese Bemerkung wischte Gammal mit einer Handbewegung weg. »Über Kourrems Bett hingen Feuerbälle in leuchtenden Farben, und sie spielte damit. Kara schleudert Gegenstände durch die Gegend, ohne sie zu berühren, wenn sie wütend ist. Der Schamane sagt, die drei seien verflucht. Ishak wurde von seiner Familie dem Großvater übergeben, damit er ihn unterrichtet, aber die Mädchen wurden von ihren Eltern verstoßen, sobald sie sich selbst versorgen konnten.«

Alanna konnte nicht glauben, dass sie richtig gehört hatte. »Aber all diese Zeichen deuten doch darauf hin, dass die drei die Gabe – also Zauberkraft – besitzen«, flüsterte sie. »Und Ibn Nazzir behauptet, sie seien verflucht?«

Gammal nickte. »Manche vom Stamm sind der Meinung, der Schamane müsse sich irren. Sie kümmern sich um die drei, geben ihnen Kleidung und zu essen. Halef Seif ist einer davon.«

»Und du bist wahrscheinlich auch einer davon«, vermutete Alanna.

Gammal senkte zustimmend den Kopf. Alanna grübelte währenddessen über ein weiteres Problem nach. »Heißt das, dass die Mädchen nie unterrichtet wurden? Sie wissen nicht, wie sie mit ihrer Kraft umzugehen haben?« Gammal schüttelte den Kopf. »Große Gnädige Mutter«, meinte Alanna. »Ich würde lieber in einer Schlangengrube leben als in einem Dorf zusammen mit zwei Mädchen, die nicht wissen, wie sie ihre Zauberkraft unter Kontrolle halten können! Ist sich denn keiner bewusst, wie gefährlich das ist? Sie müssen aber gelernt haben ihre Magie zu einem gewissen Grad zu kontrollieren, sonst wäre von euch keiner mehr da. Sind euch denn keine eigenartigen Dinge aufgefallen, wenn einer von den dreien wütend war oder krank?«

Gammal nickte gelassen. »Einmal kam ein Blitz vom Himmel gefahren und hätte um ein Haar den Schamanen getroffen«, sagte er. »Und andauernd gibt es starke Winde und seltsame Stürme. Zu solchen Zeiten befiehlt uns der Schamane, sie zu töten, doch das lässt Halef Seif nicht zu. Die Stimme ebenso wenig. Also leben sie hier, bis sich das Gleichgewicht zu ihren Gunsten eingependelt hat.«

Bald darauf verabschiedete sich Alanna. Die Bazhir waren scheinbar gern bereit Dinge einfach auf sich zukommen zu lassen. Das erschien ihr seltsam, weil dieses Volk doch sonst so tatkräftig war. War ihnen denn nicht klar, dass man die Dinge nur ändern konnte, indem man handelte? Als sie versuchte Ali Mukhtab zu schildern, wie sehr sie das Ganze irritierte, war er belustigt.

»Wir glauben an das erhabene Gleichgewicht«, erklärte er. »Irgendwann pendelt sich alles selbst ein. Das Gleichgewicht verschiebt sich – es lässt sich nicht vorherbestimmen. Weißt du, es ist wie die Wüste. Der Sand ist ständig in Bewegung, doch bleibt die Wüste dieselbe. Der Mensch kann die Wüste nicht ändern und der Mensch kann keinen Einfluss nehmen auf das Gleichgewicht.«

Alanna schüttelte gereizt den Kopf. »Es ist nicht meine Art, darauf zu warten, dass die Dinge irgendwann passieren«, murrte sie. »Hätte ich gewartet, bis sich das Gleichgewicht einpendelt, dann wäre ich jetzt die Frau irgendeines Edlen und würde nichts kennen außer meinem Zuhause und meinen Ländereien.«

»Vielleicht bist du ein Werkzeug dieses Gleichgewichts«, schlug Mukhtab vor. »Durch deine Anwesenheit sorgst du dafür, dass sich die Waagschalen heben oder senken.«

»Das ist Unsinn«, entgegnete Alanna und spielte mit dem Glutstein an ihrem Hals.

 

Tagelang dachte Alanna über ihre neuen Freunde nach. Sie waren nicht bitter oder schwermütig wegen ihres Schicksals und an ihren endlosen Fragen konnte man ablesen, wie willig sie waren dazuzulernen. Um ihres eigenen Seelenfriedens willen hätte sie versucht, die drei selbst zu unterrichten, aber in derartigen Dingen waren die Gebräuche der Bazhir überaus streng. Unterricht in der Magie erteilte immer der Schamane. Nur in diesem Stamm, wo sich der Schamane der geringfügigen Zauberkraft, die er selber besaß, nicht sicher war, wurde niemand unterrichtet. Wenn sie gegen die Gebräuche der Bazhir verstieß, würde nicht einmal Ali Mukhtab sie in Schutz nehmen.

Kourrems wehmütiger Blick schnitt ihr ins Herz. Ishak versuchte unentwegt ihr die Zauberkunststücke zu zeigen, die er beherrschte. Und Kara war Kara – ängstlich bemüht zu gefallen und eher auf ein knappes Wort oder eine Ohrfeige gefasst als auf Alannas schroffen Dank. Seit dem Tag, an dem Alanna am Hof ihr Geheimnis offenbart hatte, war auch sie so etwas wie eine Geächtete gewesen. Ein derartiges Leben wünschte sie den drei Jugendlichen, die ihr wie Schatten folgten, auf keinen Fall. Zwar war ihr eigenes Exil hier im Süden freiwillig, doch über den Empfang, den man ihr bereiten würde, falls sie zu früh in den Palast zurückkehrte, machte sie sich keine Illusionen.

Fast eine Woche lang grübelte sie darüber nach. Nebenbei lernte sie ihren neuen Stamm besser kennen, traf an Halef Seifs Seite mit den anderen Männern zusammen, diskutierte über den ständigen Krieg gegen die Männer von den Hügeln und die Notwendigkeit, neue Weideplätze für die vielen Schafe und Ziegen zu finden. In Begleitung von Kara lernte sie auch ein paar Frauen kennen. Mit den jungen Männern ging sie auf Jagd, bei Ali Mukhtab erfuhr sie von der ereignisreichen Geschichte der Bazhir.

Alanna überlegte immer noch, was sie tun könnte, als sie eines Abends ins Zelt des Häuptlings gerufen wurde. Auch Ali Mukhtab war da, er thronte auf Kissen und rauchte seine lange Pfeife. Zu seiner Seite saß mit strenger Miene Halef Seif. Über zwei knienden, gefesselten Männern stand Gammal; andere Männer des Stammes sahen zu.

Alanna zögerte am Zelteingang. Sie setzte Trusty, der auf ihrer linken Schulter hockte, besser zurecht. »Du hast mich rufen lassen?«, fragte sie Halef. Außer den beiden knienden Männern drehten sich alle zu ihr um und starrten sie an.

Der Häuptling winkte sie heran. »Diese beiden kamen gestern zu unseren Brüdern vom Stamm des Schlafenden Löwen«, erklärte er. »Sie versuchten sich als Wüstenbewohner auszugeben, doch es ist offensichtlich, dass sie aus dem Norden stammen.«

Alanna trat vor und versuchte, die Gesichter der Gefangenen zu sehen. Beide hielten den Kopf gesenkt. »Die Männer vom Stamm des Schlafenden Löwen müssten doch sicher in der Lage sein mit Spionen fertig zu werden«, sagte Alanna. Sie wusste immer noch nicht, warum man sie gerufen hatte. »Oder wollten sie, dass sie der Stimme vorgeführt werden?«

»Diese Männer erkundigten sich nach dir, Alanna von Trebond«, entgegnete Ali Mukhtab.

Trusty hopste von ihrer Schulter, tapste zu einem der knienden Männer hinüber und stupste ihm träge ins Gesicht. Verdutzt sah der Mann auf.

»Langfinger!«, rief Alanna überrascht. »Was im Namen der Mutter hast denn du hier zu suchen?«

Der zweite Mann, den sie in den Tagen am Hof des Schurken nur flüchtig kennengelernt hatte, hob ebenfalls den Kopf. Der Dieb, den Alanna schon jahrelang unter dem Namen Langfinger kannte, zog eine Grimasse.

»Er sagte, du dürftest nicht erfahren, dass wir hier sind«, knurrte er. »Wir sollten rauskriegen, was aus dir geworden ist und ob es dir auch gut geht.«

»Zweifellos wirst du uns eine Erklärung abgeben, sobald es dir möglich ist, Alanna«, bemerkte Halef freundlich.

Mit rotem Kopf drehte sie sich zu ihm um. »Der Herr über diese Männer ist einer meiner ältesten und besten Freunde.«

»Wer mag ihr Herr sein, dass er heimlich Spione schickt anstatt Boten, die offen und ehrlich zugeben, weshalb sie hier sind?«

Alanna seufzte. »Er ist der Herrscher am Hof der Schurken – der König der Diebe von Tortall. Würdest du ihn kennen, so wüsstest du, dass er lieber Spione ausschickt als Boten.« Sie wandte sich wieder Langfinger zu. »Sag mir, weshalb lässt er nach mir Ausschau halten? Er muss doch wissen, dass es mir gut geht.«

Langfinger schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht der Mann, um seiner Majestät Fragen zu stellen«, teilte er Alanna mit. »Vor allem nicht in letzter Zeit, wo er so gereizt ist. Wir wussten schon, dass man uns schnappen würde, aber...« Er zuckte die Achseln. »Es war um einiges besser, als in Corus rumzuhängen, solange Georg miese Laune hat.«

Alanna lächelte. »Ich habe Georg noch nie schlecht gelaunt erlebt, aber er ist auch so schon ziemlich beeindruckend. Halef Seif, Ali Mukhtab: Ihr dürft diese Männer nicht verantwortlich machen für die Befehle ihres Herrn. Sich Georg, dem König der Diebe, zu widersetzen – tja, wenn man ein Dieb ist, dann tut man das einfach nicht.«

Ali Mukhtab nahm die Pfeife aus dem Mund und sagte: »Ich habe von diesem Georg Cooper gehört. Wie du sagst, er ist ein Mann, dem man besser nicht in die Quere kommt.«

»Sicher haben die beiden Männer nichts gesehen, von dem die Bazhir nicht wollen, dass sie es sehen«, sagte Alanna.

»Wünschst du, dass sie freigelassen werden?«, fragte Halef Seif die Stimme. Ali Mukhtab nickte. Gammal kniete sich nieder, um die Stricke zu durchtrennen, mit denen die Gefangenen gebunden waren. »Hört her!«, befahl ihnen Halef streng. »Abgesehen davon, dass man euch ein bisschen grob behandelt hat, kehrt ihr wohlbehalten und unversehrt zu eurem König der Diebe zurück. Die nächsten Spione werde ich ihm mit aufgeschlitzten Nasenflügeln schicken.« Er nickte Gammal zu. »Gib ihnen zu essen und schick sie auf den Weg! Sorge dafür, dass sie ein gutes Stück Richtung Norden sind, bevor du zu uns zurückkehrst!«

»Sagt Georg, dass es mir gut geht und dass ich glücklich bin«, fügte Alanna hinzu, als sich Langfinger und sein Kumpan unbeholfen erhoben. »Ich muss lediglich für eine Weile mein eigenes Leben führen.«

Langfinger nickte. »Ich werd’s ihm sagen, aber ich bezweifle, dass es ihm gefallen wird.«

Sein Kumpan sah sich nach den Bazhir um. »Möglicherweise hat er keine andere Wahl«, bemerkte er trocken. Eilig führte man sie aus dem Zelt; die Krieger folgten ihnen nach. Alanna bemerkte, dass Halef Seif und Ali Mukhtab sie musterten. Auf eine Geste des Häuptlings hin setzte sie sich. Halef zog seinen Pfeifenständer zu sich heran und nahm ebenfalls Platz, während ein junger Stammesangehöriger, der geblieben war, allen Wein einschenkte.

»Hast du noch mehr solche Freunde, die hier auftauchen und nach dir suchen werden, Alanna?«, wollte Ali Mukhtab wissen.

Sie schüttelte den Kopf. »Georg ist eine Nummer für sich.«

»Wie kam es dazu, dass du mit einem solchen Mann bekannt wurdest?« Die Stimme gab Halef Feuer aus seiner Pfeife.

»Wir begegneten uns ganz zu Anfang, als ich gerade als Junge verkleidet in Corus eintraf«, entgegnete sie. »Er wurde mein Freund ...«

»Damit er im Palast seinen Diebereien nachgehen konnte«, unterstellte Halef trocken.

»Absolut nicht. Dabei hätte ich ihn niemals unterstützt. Aber er brachte mir bei, wie man mit dem Messer kämpft, wie man an einer Mauer emporklettert, auch ohne Leiter ...« Sie lächelte. »Alle möglichen nützlichen Dinge. Und Moonlight hat er mir ebenfalls besorgt.«

Ali Mukhtab sah sie scharf an. »Er muss dir nahestehen, dieser...«

»Georg Cooper«, ergänzte sie. »Nach Prinz Jonathan ist er der beste Freund, den ich habe.«

»Dieser Freund riskiert eine ganze Menge, wenn er Boten nach Süden schickt, damit sie dich suchen.«

Alanna rief rot an. »Georg macht sich eben Sorgen um mich«, murmelte sie.

Georg liebt dich, miaute Trusty.

»Sei still!«, fauchte sie, als sie sah, dass die beiden Männer ihren Kater beobachteten. Manchmal konnten die Menschen Trusty verstehen. Sie wollte nicht, dass es ausgerechnet jetzt so war. Fast wäre sie über ihren Burnus gestolpert, als sie sich erhob. »Wenn das alles ist...«

»Für den Augenblick ja«, nickte der Häuptling und verbarg nur schlecht sein Lächeln hinter der vorgehaltenen Hand.

 

Der Zwischenfall war bald vergessen. Kurz darauf entschloss sich Alanna, Ibn Nazzir auf die Sache mit Kara, Kourrem und Ishak anzusprechen. Sie hatte sich seit Tagen kein Wortgefecht mehr mit dem Schamanen geliefert und hoffte, dass seine Wut inzwischen ein wenig verraucht war. Sie legte ihre Waffen und den kühlen Burnus ab, zog nur einen ärmellosen Waffenrock und Kniehosen an, damit der alte Mann deutlich sehen konnte, dass sie unbewaffnet war, und ging gegen Mittag zu seinem Zelt.

Wie immer kam Trusty mit. Als kohlrabenschwarzer, fauchender Schatten tapste er hinter ihr her. Du unternimmst einen vollkommen nutzlosen Gang, warnte er, als sie sich dem Heim des Schamanen näherten. Er wird herumkreischen, dich beschimpfen und vermutlich wird er sich an einem Zauberspruch versuchen, von dem er keine Ahnung hat.

»Ich muss es zumindest versuchen«, meinte Alanna, als sie auf den freien Platz vor dem Zelt trat, das dem Stamm als Tempel und dem Schamanen als Unterkunft diente. Sie blieb ein gutes Stück vor dem geschlossenen Zelteingang stehen. Die Hände hielt sie weit ausgebreitet, damit jeder sehen konnte, dass sie leer waren. »Akhnan Ibn Nazzir! Ich komme in Frieden zu dir, mit offenen ...«

Vor ihr explodierte der Boden. Sie und Trusty wurden niedergeworfen; Sand und Erde prasselten auf sie herab. Hab ich dir doch gesagt, bemerkte Trusty empört und begann sich sauber zu lecken.

Alanna stand auf. Sie gab sich Mühe nicht die Beherrschung zu verlieren und klopfte sich ab. »Das war dumm!«, rief sie. »Ein Unschuldiger hätte verletzt werden können! Ich kam zu dir, um Frieden zu schließen ...«

»Du wirst uns nur Krieg und Hungersnot bringen!«, erklang gedämpft Ibn Nazzirs schrille Stimme aus dem Zelt. »Du verdirbst Halef Seif mit Wollust und mit deinem unflätigen Geschwätz hast du die Stimme der Stämme verhext!«

»Männer und Frauen können Freunde sein, auch ohne Wollust!«, schrie Alanna zurück. »Der Einzige, der hier verhext ist, bist du! Verhext durch deine Eifersucht und deine Dummheit!« Sie brach ab und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Sie bebte vor Zorn. Sie hatte nie viel Nachsicht mit Dummköpfen gehabt, und das bisschen, das sie hatte, kam ihr gerade abhanden.

Immer noch weigerte sich der alte Mann herauszukommen, obwohl ihr Wortwechsel das ganze Dorf herbeigelockt hatte.

»Du trägst ein Dämonenauge um den Hals!«

Alanna hob die Hand an die Kehle und berührte den Glutstein. »Das ist kein Dämonenauge!«, schrie sie wutentbrannt. »Es ist ein Andenken, das mir die Große Muttergöttin eigenhändig überreicht hat!« Die Zuhörer wichen in ehrfürchtigem Schrecken zurück. Die Muttergöttin war hier ebenso bekannt und verehrt wie im Norden. Keiner von ihnen hätte ihren Namen ohne triftigen Grund in den Mund genommen. Diejenigen, die sich bisher auf die Seite des Schamanen geschlagen hatten, begannen sich zu fragen, ob sie nicht einen schwerwiegenden Irrtum begangen hatten.

»Ich verlange eine Entschuldigung für diese Beleidigung meiner Göttin!«, schrie Alanna mit heiserer Stimme. »Und zwar sofort! Komm heraus und entschuldige dich!«

So, dachte sie zufrieden und wippte auf den Fußballen vor und zurück. Jetzt habe ich es diesem alten Feigling gezeigt.

Trusty wandte sich mit nach vorn gerichteten Ohren dem Zelt des Schamanen zu. Plötzlich begann sein Schwanz zu zucken. Er wird sich nicht entschuldigen, warnte er, als sich der Zelteingang bewegte. Er wird...

Aber Alanna spürte es ebenso wie ihr Kater. Sie hatte gerade noch Zeit, Schutzwände aufzubauen, bevor eine gelbe Flamme aus dem Zelt geschleudert wurde und sie und Trusty umhüllte. Sie zuckte zusammen, als die Flamme auftraf, und konzentrierte sich auf ihren eigenen Zauberspruch. Voller Wut – bei der Unwissenheit und der mangelnden Kontrolle des Schamanen hätte ein Zuschauer verletzt oder getötet werden können – packte sie den letzten Rest des Feuers und schleuderte ihn zurück. Blitzschnell schoss die winzige Flamme ins Zelt des Schamanen und jagte den alten Mann nach draußen, bevor sie verlöschte.

Alanna starrte Ibn Nazzir an. Sie überlegte in Windeseile. Er trug das Kristallschwert; der Anblick jagte ihr Angstschauer den Rücken hinunter. Was nicht nur daran lag, dass es sie an Herzog Roger von Conté erinnerte, nein, sie wusste auch, dass der Schamane einst ein Reiter gewesen war und zweifellos mit einem Schwert umzugehen verstand. Falls sie sich nicht täuschte, war sie ihm mehr als ebenbürtig, was die Zauberkunst anging, aber seine Fähigkeiten als Schwertfechter waren eine gefährliche Unbekannte. Zumal sie unbewaffnet war.

»Du beleidigst die Göttin, die mir gnädig ist«, sagte sie, als er seine Aufmerksamkeit auf sie richtete. »Du hast mich nun schon zweimal ohne faire Vorwarnung angegriffen, obwohl ich dich überhaupt nicht herausgefordert hatte. Ich war mehr als geduldig mit dir. Sag mir den Grund, warum ich nicht dein Leben fordern soll, wie es mein Recht ist als Mitglied des Stammes.«

Akhnan Ibn Nazzir zog das Kristallschwert und stürzte sich mit einem Schrei auf sie.

Alanna duckte sich weg und wich aus, ohne das wütende Gebrüll zu hören, das die Stammesangehörigen bei dem ehrlosen Betragen ihres Schamanen anstimmten. Auch Ibn Nazzir, dem Wahnsinn nahe, hörte nichts. Sein Mund war zu einem irren Grinsen verzogen, als er, die tödliche Waffe mit beiden Händen schwingend, Alanna erneut angriff.

Sie duckte sich. Blitzschnell bewegte sie sich auf der fest gestampften Erde. Jedes Mal wenn das Kristallschwert neben ihr herunterfuhr, hörte sie es summen. Ihr wurde ein wenig übel von dem Geräusch, es war, als sei Herzog Roger in der Nähe und dirigierte das Schwert in seinem Bemühen, ihr Leben zu beenden. Mit leeren Händen, voll auf jede Bewegung des Schamanen konzentriert, wich sie flink nach hierhin und dorthin aus und brachte sich mit tänzelnden Schritten außer Reichweite, wenn er auf sie einhieb.

Ibn Nazzir war nicht der Gegner, der Herzog Roger gewesen war. Seine Hiebe waren oft ziellos, dazu hielt er nur schlecht das Gleichgewicht. Und langsam war er auch. Das Schwert war es, was Alanna fürchtete. Sie hatte das Gefühl, der alte Mann wäre mit einem gewöhnlichen Schwert in der Hand um einiges weniger gut gewesen. Sie packte den Glutstein und flüsterte einen Zauberspruch, um eine Schutzwand aufzubauen.

Violettes Feuer tauchte aus dem Nichts auf und wirbelte auf Ibn Nazzir zu, um ihn einzukreisen. Kreischend schlug er mit dem Schwert um sich, bis die Feuerwand wieder verschwand. Nun griff er von Neuem an. Alanna machte einen Satz, trat nach ihm und warf ihn so zu Boden. Blitzschnell rollte sie sich ab, stürzte sich auf ihn und rang mit ihm um das Schwert. Das Summen war jetzt lauter, es übertönte alle anderen Geräusche. Unsichtbare Finger packten nach ihrer Kehle, gerade als sie sah, dass sich der Schamane langsam grau verfärbte.

»Hör auf!«, schrie sie in dem Versuch, sich Gehör zu verschaffen. So gut sie konnte, griff sie mit ihrem Bewusstsein nach den unsichtbaren Fingern, um sie von sich wegzuhalten. »Du bist nicht stark genug! Du verbrauchst deine eigene Lebenskraft!«

Da warf er sie auf den Rücken. Alanna klammerte sich am Heft des Schwertes fest, denn auf diese kurze Entfernung konnte er nicht daneben treffen, falls er die Klinge freibekam. Sie rangen miteinander, Schweißtropfen fielen von seinem Gesicht auf das ihre herunter. Er wurde grauer, um seinen Mund und die Nasenflügel zogen sich blaue Linien. Alles wurde schwarz. Die Wolke, die Alanna plötzlich umhüllte, schnitt ihr alle Luft und jegliches Gefühl ab. Sie wehrte sich verbissen, wobei sie auf Kraftreserven zurückgriff, die sie in jahrelanger Arbeit im Geheimen angesammelt hatte. Tatsächlich verdrängte ihr eigenes, violettes Feuer nach und nach die Schwärze. Wo es auf die Kristallklinge traf, funkelte und loderte es. Aus der Ferne hörte sie einen Schrei.

Die Schwärze war verschwunden. Akhnan Ibn Nazzir brach über ihr zusammen. Seine weit aufgerissenen Augen starrten blicklos ins Nichts. Er war tot.

Gammal und Halef zerrten den toten Schamanen weg von ihr. Ishak half ihr auf die Beine; dabei taumelte sie vor Erschöpfung. Kara und Kourrem kamen herbeigehastet, um sie von beiden Seiten zu stützen. Ali Mukhtab, der Ibn Nazzir untersuchte, sah verwundert auf. »Er trägt keinerlei Spuren des Kampfes und doch ist er tot. Woran starb er?«

Alanna rieb sich die Augen. Sie hatte einen Großteil ihrer Körper- und Zauberkraft verbraucht. Im Augenblick wollte sie nur noch eines – in ihr Zelt gehen und sich hinlegen. »Er hat Macht benutzt, über die er nicht verfügte«, krächzte sie schließlich. »Er war kein sonderlich guter Zauberer. Er hat seine eigene Lebenskraft angezapft, weil er mich tot sehen wollte.« Verblüfft entdeckte sie, dass ihre rechte Hand das Kristallschwert hielt. »Hätte er durchgehalten, er hätte möglicherweise gewonnen«, fügte sie bitter hinzu. »Es tut mir leid, dass ich euch solche Schwierigkeiten gebracht habe.« Sie schickte sich an davonzugehen.

»Einen Augenblick noch.« Halefs Stimme war freundlich, aber bestimmt. Sie schaute zurück. Er deutete auf das Zelt des Schamanen. »Hier ist nun dein Zuhause.«

Alanna klammerte sich mit ihrer freien Hand an Kourrems Schulter fest. »Ich verstehe nicht.«

Ali Mukhtab erhob sich und trat neben den Häuptling. »Halef Seif hat recht. Du hast den alten Schamanen getötet. Nun musst du seinen Platz einnehmen, bis du einen neuen ausgebildet hast oder bis ein anderer Schamane dich tötet.«

Das war zu viel. »Ihr seid verrückt!«, rief Alanna. Ihre Stimme brach vor Müdigkeit. »Ich bin keine ... Ich bin eine Ritterin! Ich habe niemals Magie gelehrt...«

»Würdest du wollen, dass wir den Schamanen der Männer von den Hügeln schutzlos ausgeliefert sind?«, fragte Halef ruhig. Alanna schwieg, denn ihr fielen die Geschichten ein, die ihr die Bazhir über die Zauberer aus den Hügeln erzählt hatten. »So lautet das Gesetz. So will es unser Brauch.« Halef öffnete den Eingang zum Zelt des Schamanen. »Hier ist nun dein Zuhause, Frau-die-wie-ein-Mann-reitet.«

Einen Augenblick lang trafen Alannas funkelnde violette Augen auf die der Stimme und des Häuptlings. Sie wollte nicht an einen Ort gebunden sein! Sie war auf der Suche nach Abenteuern! Eine neue Welle der Erschöpfung überkam sie und sie wandte den Blick ab. Trusty saß erwartungsvoll vor dem offenen Eingang.

»Mir ist egal, ob das hier ein Zelt ist oder die Hütte eines Totengräbers«, seufzte sie. »Ich will mich bloß hinlegen.«

Von Kara und Kourrem gestützt und mit dem Kristallschwert fest in der Hand, betrat sie das Zelt des Schamanen.