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Die Prüfung

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Kurz nach ihrem Geburtstag machten Alanna und Gary einen Tagesritt in den Königswald. Jonathan sah zu, wie sie davonritten. Er wusste, was Alanna mit seinem Vetter zu besprechen hatte. Er war nervös. Wie mochte sich wohl Alanna fühlen, für die so viel mehr auf dem Spiel stand?

»Was du auch immer auf dem Herzen haben magst, du sagst es mir am besten gleich und bringst es hinter dich«, meinte Gary, nachdem sie eine Stunde lang schweigend geritten waren. »Es muss ja ziemlich wichtig sein.«

Alanna wischte die winzigen Schweißtröpfchen weg, die auf ihrer Oberlippe standen. »Das ist es«, gab sie zu. »Gary, ist dir – ist dir jemals der Gedanke gekommen, ich könnte ein anderer sein als der, der ich zu sein scheine?«

Er zuckte die Achseln. »Schon seit ich dich kennenlernte, weiß ich, dass dich ein großes Geheimnis umgibt«, antwortete er. »Ich dachte mir immer, früher oder später würdest du es mir verraten.«

Alanna machte einen tiefen Atemzug. »Ich bin ein Mädchen«, sagte sie ohne Umschweife. »Ich – in Wirklichkeit heiße ich Alanna. Ich komme von Trebond, und Lord Thom ist wirklich mein Zwillingsbruder.«

Gary zügelte abrupt sein Pferd und starrte sie an. »Mach keine Witze!«

Alanna, die auf Moonlights Nacken hinuntergesehen hatte, hob den Kopf. »Ich mache keine Witze. Das ist die Wahrheit!«

»Wo sind dann deine Brüste?«, erkundigte er sich.

Alanna wurde rot. »Den schnüre ich mit einem Korsett flach.«

»Aber wenn du badest ...« Gary brach ab und pfiff. »Keiner von uns hat dich jemals baden sehen! Und schwimmen auch nicht!«

»Stimmt.«

Gary zupfte gedankenverloren an seinem Oberlippenbart. »Wer weiß es sonst noch?«

Alanna schluckte. Er schien nicht wütend zu sein.

»Jonathan. Georg und Frau Cooper. Coram, mein Bruder Thom. Die Heilerin in Trebond. Trusty.« Sie streichelte den Kater, der in seinem an Moonlights Sattel hängenden Korb mitritt.

Ein paar Augenblicke lang waren nur die Vögel und die Waldtiere zu hören. Garys Gesicht offenbarte nichts, aber so, wie sie ihn kannte, setzte er wohl gerade all die Bruchstücke zusammen, die ihm in all den Jahren Rätsel aufgegeben hatten. Plötzlich überzog ein breites Grinsen sein Gesicht und um seine Augen bildeten sich Lachfältchen. »Ich freue mich schon darauf zu sehen, was die für Gesichter machen werden!«, rief er und brach in Gelächter aus.

»Wer zum Beispiel?«, fragte Alanna. Dass Gary die Angelegenheit so lustig fand, verwirrte sie. Zwar hatte Jonathan genau das vorhergesehen, aber sie hatte ihm nicht glauben wollen.

»Alle miteinander!«, japste der Ritter und wischte sich Tränen aus den Augen. »Alle miteinander!«

Er lachte immer noch, als sie sich wieder in Bewegung setzten. Abgesehen von ihrer Liebesbeziehung zu Jonathan erzählte sie ihm alles.

Er war begeistert, hielt das Ganze für einen Riesenspaß und war glücklich daran teilzuhaben.

»Natürlich weise ich dich ein, wenn du das Zeremonienbad nimmst. Ich wäre beleidigt, wenn du einen anderen bätest«, erklärte er ihr, als sie mittags rasteten und aßen. »Moment mal! Dein Knappe – hast du dir schon einen ausgesucht?«

Alanna schüttelte den Kopf. »Ich habe es mit deinem Vater besprochen, und er meinte ebenfalls, es sei reine Zeitverschwendung, dass ich mir einen Knappen nehme, wo ich doch vorhabe mich gleich nach dem Mittwinterfest auf den Weg zu machen.«

»Gleich nachdem du ihnen gesagt hast, wer du bist, meinst du wohl?«

Alanna nickte. »Ich könnte sowieso keinen Knappen mitnehmen, auch wenn die Wahrheit nicht herauskäme.«

Gary zog eine Augenbraue hoch. »Du glaubst doch wohl nicht, dass sie froh sind dich loszuwerden, sobald sie die Wahrheit erfahren?«

»Meinst du nicht?«

Gary machte sich nichts vor. »Der eine oder andere«, sagte er schließlich. »Diejenigen, die dich nicht gut kennen, höchstwahrscheinlich schon. Aber deine Freunde? Ich glaube, du beurteilst sie zu streng.« Er sprang auf und packte mit ihr zusammen die Satteltaschen wieder voll. »Ich kann es kaum erwarten!«

Jon war erleichtert und etwas eifersüchtig, als er an diesem Abend Alanna und Gary lächelnd und unbefangen beim Abendessen sah. Sofort erzählten sie ihm, was passiert war. Somit hatten die drei etwas, worüber sie in diesem langen Sommer heimlich reden – und lachen – konnten. Diese Gespräche taten Alanna gut. Da sie so daran gewöhnt war, ihre Maskerade als eine Sache auf Leben und Tod zu betrachten, hatte sie nie gelernt, darüber zu lachen. Gary, Jonathan und Georg brachten es ihr bei, und so kam sie durch ihre Freunde zu neuen Einsichten über das, was sie getan hatte, und auch über die Menschen, die ihr am nächsten standen. Dadurch verlor der Gedanke daran, die Wahrheit sagen zu müssen, etwas von seinem Schrecken.

Für alle, die Alanna kannten, schien sie sich in den Monaten zwischen ihrem achtzehnten Geburtstag und dem Mittwinterfest zu verändern. Noch immer war sie im Unterricht aufmerksam, erledigte gewissenhaft ihre Pflichten, aber es war offensichtlich, dass sie mit den Gedanken anderswo war. Oft schlich sie sich verkleidet in die Stadt und ging zum Tempel der Großen Muttergöttin, um sich zu besinnen. Es gab vieles, worüber sie nachdenken musste – Jon, Georg, Thom, Herzog Roger, den richtigen Zeitpunkt, um dem König und der Königin die Wahrheit zu sagen –, vor allem aber war sie mit den Gedanken bei der eisernen Tür des Prüfungsraumes. Warum sie diese Tür so fürchtete, wusste sie nicht so recht. Sie wusste nur, dass sie zum ersten Mal in ihrem Leben am liebsten die Zeit angehalten hätte. Sogar der Gedanke, dass sie die Prüfung ja vielleicht überstand und dann auf Abenteuersuche gehen konnte, machte ihr keine Freude mehr. Sie hatte den Palast und die Menschen dort lieben gelernt und wusste, dass sie sie vermissen würde. Tatsächlich war sie gar nicht mehr so sicher, ob sie überhaupt weggehen wollte.

»Dann bleib doch da«, riet Myles, als sie es erwähnte. »Die meisten jungen Ritter kämpfen im Dienst des Königreichs, sobald sie ihren Schild erlangt haben. Sicher werden Herzog Gareth und Seine Majestät überglücklich sein, dich hierbehalten zu können.«

Alanna schüttelte den Kopf. Das Einzige, worauf sie sich noch freute, war die Erleichterung, die sie verspüren würde, wenn sie allen die Wahrheit sagte.

Sie stand auf und umarmte ihren Freund mit dem zotteligen Haar. »Ich hab dich lieb, Myles«, flüsterte sie und blinzelte die Tränen weg. »Ich komme oft wieder. Das verspreche ich.«

Myles tätschelte ihr sanft den Rücken und gab ihr sein Taschentuch. »Ich weiß«, meinte er tröstend. »Viel weiß ich ja vielleicht nicht, aber das weiß ich.«

 

Georg sah zu, wie sie in seinen Zimmern unentwegt hin und her ging. An seinen haselnussbraunen Augen konnte man nicht ablesen, was er dachte. »So wirst du nur müde«, sagte er. »Wie willst du denn die ganze Nacht wach bleiben, wenn du dich am Nachmittag schon so erschöpft?«

Alanna strich sich mit der Hand über das schweißnasse Gesicht. »Ich glaube nicht, dass ich jemals im Leben solche Angst hatte, Georg.«

»Nicht einmal, als du gegen die Ysandir gekämpft hast? Oder als du beim Eislaufen fast ertrunken bist?« Sie schüttelte den Kopf und nestelte an dem Glutstein herum, der an einer Kette um ihren Hals hing. »Nicht, als du Dain gegenübergestanden hast oder als dich die Tusainer Ritter angriffen?«

»Nein. Verstehst du denn nicht? Gegen die konnte ich kämpfen. Mit etwas umzugehen, was ich nicht sehen kann, mit etwas, worüber ich nichts weiß ...« Alanna beförderte Trusty auf ihre Schulter, ging hinüber zum Fenster und starrte hinaus auf die Stadt. »Ich kann gar nichts tun; ich kann es nur geschehen lassen. Das ist nicht meine Art und Weise Dinge anzugehen. Das müsstest du doch besser wissen als jeder andere.«

»Da.« Der Dieb drückte ihr ein Glas Branntwein in die Hand und nahm einen Schluck aus dem Glas, das er sich selbst vollgeschenkt hatte. »Diese Flasche habe ich mir für eine besondere Gelegenheit aufgehoben. Und was könnte eine bessere Gelegenheit sein als deine Ritterprüfung heute Nacht? Trink aus, Kleine.«

Alanna gehorchte. »Das schmeckt ja phantastisch«, lobte sie. »Normalerweise trinke ich das Zeug nur, damit ich einen klaren Kopf kriege, aber der schmeckt wirklich gut. Du hast die Flasche doch nicht geklaut, oder?«, erkundigte sie sich misstrauisch wie eh und je.

Trusty sprang von ihrer Schulter, als Georg in Gelächter ausbrach. »Würde ich dir oder Jon etwas Geklautes anbieten?« , fragte er. »Nein, antworte mir nicht. Schau, da ist die Steuermarke. Klar und deutlich. Jahrgänge wie dieser hier sind besser als Gold und besser bewacht sind sie auch.«

Alanna gähnte. »Nicht, dass ich dir misstraue, Georg.« Sie gähnte noch einmal und noch ein zweites Mal. »Ich bin so müde ...« Sie sah ihren Freund aus kleinen Augen. »Du ... du hast ein Schlafmittel hineingetan!«, beschuldigte sie ihn.

Georg fing sie auf, als sie zu Boden sank. Ihre Augenlider flatterten und schlossen sich dann. »Hast du wirklich gedacht, ich würde es zulassen, dass du dich so lange quälst, bis du krank wirst, wo doch so eine wichtige Nacht vor dir liegt?«, fragte er leise. Georg hob sie hoch, trug sie in sein Schlafzimmer und legte sie vorsichtig auf sein Bett.

»Du wusstest Bescheid«, meinte er, zu Trusty gewandt, als dieser neben Alanna hüpfte. »Warum hast du sie nicht gewarnt, dass ich ihren Branntwein etwas gewürzt habe?«

Der Kater zuckte mit dem Schwanz. Deck sie gut zu, riet er Georg.

Sie friert leicht.

Der Dieb lachte und gehorchte, bevor er nach unten ging und sich zu Gary, Raoul und Jonathan gesellte.

 

Kurz nach Sonnenuntergang brachte Georg Alanna in den Palast zurück, wo ihr jetzt also das Mittwinter-Ritual und die Prüfung bevorstanden. Sie hatte gerade noch genug Zeit sich zu sorgen, ob sie auch alles richtig machte. Sie aß nur wenig; hätte Myles sie nicht zu jedem Bissen genötigt, hätte sie gar nichts gegessen. Dann zog sie die weißen Kleider an, die sie im Prüfungsraum tragen würde. Kurz nachdem die achte Stunde ausgerufen worden war, kamen Jonathan und Gary, um sie ins Bad zu geleiten.

Während Alanna in dem ungeheizten Wasser plantschte, warteten ihre Freunde daneben in einem Raum und unterhielten sich leise.

»Ich wollte, es wäre schon vorbei«, meinte Jonathan und lauschte, was Alanna machte.

Gary warf Jonathan einen Blick zu und schenkte ihm ein Glas Wein ein. »Beruhige dich. Wir haben die Prüfung ja auch überlebt.«

»Knapp.« Jonathan stürzte sein Glas hinunter.

»Vielleicht war es ja knapp, aber überlebt haben wir. Sie wird es auch überleben. Und denk dran: Man hat uns gesagt, dass der Zauber des Zimmers durch gar nichts beeinflusst werden kann. Wenn sie die Prüfung übersteht, kann keiner sagen, sie habe ihren Schild nicht verdient, ob sie nun ein Mädchen ist oder nicht.«

Alanna kam abgetrocknet und angezogen aus dem Bad. Wie Gary bemerkte, war sie ein wenig blass, doch ansonsten war sie ruhig.

»Bist du bereit für die Einweisung?«, fragte er sie förmlich.

Alanna fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. Jetzt ging es los. »Ich bin bereit«, flüsterte sie.

»Wenn du die Ritterprüfung überlebst«, sprach Jonathan in den Worten, die das Ritual erforderte, »wirst du Ritter des Königreichs. Du wirst den Eid ablegen, jene zu beschützen, die schwächer sind als du, deinem Oberherrn zu gehorchen, auf eine Art und Weise zu leben, die deinem Königreich und deinen Göttern zur Ehre gereicht.«

»Den Ritterstand zu tragen ist eine bedeutende Angelegenheit«, fuhr Gary fort. »Es bedeutet, dass du dich über keinen Hilferuf hinwegsetzen darfst. Es bedeutet, dass sich Reich und Arm, Jung und Alt, Mann und Frau um Hilfe an dich wenden dürfen, und du kannst es keinem abschlagen.«

»Du bist verpflichtet das Gesetz zu unterstützen«, sagte Jonathan. »Du darfst den Blick nicht vom Unrecht abwenden. Du darfst keinem helfen das Gesetz des Landes zu brechen, und zu allen Zeiten und in jedem Fall musst du einen Gesetzesbruch verhindern.«

»Du bist deiner Ehre und deinem Wort verpflichtet«, erinnerte Gary sie. »Verhalte dich so, dass du dich nicht zu schämen brauchst, wenn du dem Dunkelgott gegenübertrittst.«

»Du hast die Gesetze gelernt, die für einen Ritter gelten«, fuhr Jonathan fort. »Bewahre sie in deinem Herzen. Benutze sie als Rat, wenn die Dinge am hoffnungslosesten scheinen. Sie werden dich nicht im Stich lassen, wenn du sie mit Menschlichkeit und mit Güte auslegst. Ein Ritter ist gütig. Seine höchste Pflicht ist es, verständnisvoll zu sein.«

Alanna hörte aufmerksam zu. Nichts davon war neu, doch heute Abend war es bedeutungsvoller als jemals zuvor. Heute Nacht würde sie vor dem Prüfungsraum Wache halten  – ihr erster Schritt, um endlich zu beweisen, dass sie einen Ritterschild verdiente. Und morgen?

Über morgen denke ich morgen nach, sagte sie sich entschlossen.

Gary und Jon brachten sie zu der Kapelle, in der die Prüfung stattfand, und erinnerten sie nur noch daran, sie dürfe von jetzt ab bis zu dem Zeitpunkt, an dem sie am nächsten Tag den Raum verlassen würde, keinen einzigen Laut von sich geben. Gary schlug ihr auf die Schulter; Jonathan küsste sie auf die Wange. Dann waren sie fort, sie war allein in der Kapelle und sah die schwere eiserne Tür an, die in den Raum führte. Vor vier Jahren hatte sie hier neben Jonathan gekniet, hatte sein Gesicht betrachtet und sich gefragt, woran er dachte. Nun war sie an der Reihe und sie wusste immer noch nichts über seine Gedanken in jener Nacht. Hatte er Herzklopfen gehabt so wie sie jetzt? Hatte er Angst gehabt? Es war schwer, nicht sprechen zu dürfen. Nur nachdenken durfte sie, sonst nichts.

Nach einer Weile begannen ihre Gedanken zu wandern. Coram war zwei Abende zuvor eingetroffen. Sie waren die halbe Nacht aufgeblieben und er hatte ihr seinen letzten Bericht als Verwalter von Trebond gegeben. Jetzt oblag dem jungen Ormen die zweifelhafte Freude, diesen Posten auszufüllen, und Alannas alter Freund freute sich darauf, mit ihr auf Reisen zu gehen. Sie war stolz, dass ihr erster Lehrer so beeindruckt war von dem, was sie in den vier Jahren geleistet hatte. Alanna wies sein Lob zurück und erklärte, sofern sie ihre Sache gut gemacht habe, läge das nur daran, dass er so ein guter Lehrer gewesen sei. Die restliche Nacht hatten sie über Karten gebrütet und entschieden, wohin sie sich auf ihrer Abenteuersuche aufmachen wollten. Alanna lächelte ein bisschen traurig vor sich hin.

Komisch, dachte sie. Es gab Zeiten, da konnte ich es kaum erwarten, wegzukommen von hier. Und nun, da es so weit ist, will ich gar nicht mehr weg. Warum kann ich nicht glücklich sein – oder warum kann ich mich nicht wenigstens entscheiden?

Wo war Thom? Er hatte vorgehabt bis zum Mittwinterfest im Palast zu sein, aber bis jetzt war er noch nicht eingetroffen. War er auf der Jagd nach einem irgendeinem alten Zauberspruch und hatte sie vergessen? In mancher Hinsicht erinnerte er sie an ihren Vater, der einen Großteil seines Lebens seinen hochgeistigen Träumen gewidmet hatte.

Sie ließ ihre Gedanken schweifen. Als sie den Glutstein berührte, musste sie an die dunkle Nacht denken, in der sie die Große Muttergöttin getroffen hatte. Warum hatte sie ihr den Stein geschenkt? War es eine Waffe oder war es ein Andenken?

Sie dachte an Jonathan. Es wäre gar nicht so schlecht, ihn zu heiraten. Irgendwann einmal, überlegte sie sich. Doch das war unmöglich; er musste eine Ehe schließen, die Tortall diente. Und ganz bestimmt wollte sie nicht jetzt heiraten; sie hatte noch so viel vor!

Herzog Roger. Viele eigenartige Dinge waren im Lauf der Jahre geschehen, und ständig hatte sie sich gefragt, was er im Schild führen mochte. Und doch war sie ihrem Verdacht nie sehr weit nachgegangen – warum nicht? War sie ganz einfach eifersüchtig auf Jonathans schillernden Verwandten und auf die Macht, die er über andere hatte? Oder hatte sie wirkliche Gründe für ihre Vermutung, er habe mit dem Prinzen nichts Gutes im Sinn? Die Göttin hatte sie auf eine schwer deutbare Art und Weise vor ihm zu warnen versucht. Wollten die Götter, dass sie Roger herausforderte?

Wie denn?, dachte sie rebellisch. Ich habe keine Beweise gegen ihn und keine Möglichkeit, welche zu finden. Ich verlöre alles – Ehre, guten Ruf, Freunde, vielleicht sogar mein Leben – wenn ich Roger ohne hieb- und stichfeste Beweise beschuldigte. Ich hoffe, die Götter halten mich nicht für so leichtsinnig – oder so naiv.

Plötzlich blinzelte sie. Licht berührte die hoch gelegenen Fenster der Kapelle, und Priester in dunklen Roben kamen hereingeschritten. Einer berührte ihre Schulter und deutete auf die schwere Eisentür. Es war Zeit für die Prüfung.

Steif erhob sich Alanna. Ihre Knie schmerzten so, dass sie zusammenzuckte. Wo war die Nacht geblieben? Sie rieb sich die Schultern, zog eine Grimasse und folgte dem schweigenden Priester zum vorderen Teil der Kapelle. Sie richtete ihr Augenmerk auf die Männer, die die Tür entriegelten, bis sie nichts anderes mehr sah. Ihr Herz klopfte wie wild, ihr Mund war trocken, und sie merkte nicht, dass sich die Kapelle hinter ihr mit ihren Freunden füllte.

Lautlos öffnete sich die Tür zum Prüfungsraum. Alanna musste schwer schlucken, sie straffte die Schultern und ging hinein. Rasch schlossen die Priester die Tür hinter ihr und ließen sie, wie sie so oft geträumt hatte, in völliger Finsternis zurück.

Sie blinzelte und wartete, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnten. Eigenartigerweise war da ein Licht, obwohl es weder Fackeln noch Fenster gab. Es war gespenstisch, aber es war da. Hoffnung flackerte in ihr auf. Vielleicht würde ihr gar nichts zustoßen.

Sie befand sich in einem kleinen steinernen Raum, der bar jeglicher Möbel oder sonstiger Einrichtung war. Es gab weder Türen noch Fenster, durch die einer hätte hereinkommen können, und langsam fragte sich Alanna, ob das Ganze ein Scherz sein sollte, als sie von einer eisigen Windböe auf die Knie gestoßen wurde. Alanna schlang die Arme um den Körper. Ihre Zähne klapperten und ihre Kleider boten nicht den geringsten Schutz. Ich wollte, ich hätte mich wärmer angezogen, dachte sie und kämpfte gegen die Panik an, die sie immer dann überfiel, wenn sie fror.

Jedes Mal, wenn sie sich erheben wollte, warf der peitschende Sturm sie wieder zu Boden. Ihre Hände und Füße wurden taub vor Kälte. Sie wollte sich bewegen und mit den Armen gegen den Körper schlagen, damit ihr wärmer wurde, doch der Wind presste sie auf die Erde und machte jede Bewegung unmöglich. Sie kämpfte mit aller Kraft, biss auf die Unterlippe und vergaß sogar ihre Angst. Wichtig war nur noch, am Leben zu bleiben.

Plötzlich hörte sie Stimmen. Ebenso abrupt, wie der Wind aufgekommen war, legte er sich wieder.

Die Stimmen wurden lauter, riefen um Hilfe und flehten Alanna an, sie vor dem Dunkelgott zu retten. Sie erkannte die Stimmen – da schrien ihr Vater, der Mächtige Thor, Jungen, die am Schwitzfieber gestorben waren, Männer, die im Kampf gegen Tusain den Tod gefunden hatten. Tränen liefen ihr über die Wangen – sie wollte helfen, doch sie wusste nicht, wie. All diese Toten gehörten nun dem Dunkelgott. Sie war hilflos, so weh ihr das auch tat.

Die Stimmen verstummten.

Alanna stand langsam auf. Sie zitterte.

Was kam als Nächstes?

Etwas schnalzte in der Ecke hinter ihr. Alanna fuhr herum und biss sich rasch in die zusammengeballte Hand, um ihren Schrei zu ersticken – sie durfte nicht schreien! Aber wie sollte sie schweigen, wo doch eine Spinne, so groß wie ein Pferd, auf sie zugekrochen kam? Sie hasste Spinnen!

Sie wich in die Ecke zurück und biss die Zähne aufeinander, bis sie schmerzten. Die Spinne kam immer näher und schnalzte hungrig. Sie streifte Alanna mit einem langen, haarigen Vorderbein ...

Und dann ertrank Alanna, so wie sie mit fünf fast ertrunken wäre und ein zweites Mal letzten Winter, als einer das Eis auf dem Teich mit Salz bestreut hatte. Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, ob diese dünne Stelle im Eis für sie bestimmt gewesen war. Sie konnte nicht vergessen, dass Alex auch damals wieder dabei gewesen war. Er war es auch gewesen, der sie zum Eislaufen herausgefordert hatte. Was einem für eigenartige Gedanken kommen, wenn man ertrinkt, überlegte sie, während sie sich an die Oberfläche kämpfte. Langsam versiegte ihre Kraft. Selbst die Entdeckung, dass es ihr nicht gelang, die Oberfläche zu erreichen, rief lediglich eine matte Bestürzung in ihr hervor.

Nein, dachte sie. Ich werde nicht schreien. Wenn es sein muss, dann sterbe ich, aber schreien werde ich nicht.

Das Meer war verschwunden. Alanna kniete auf dem Boden, machte tiefe Atemzüge, mühte sich, sich so leise wie möglich zu verhalten, und überlegte, was wohl jetzt auf sie zukam. Ihre Haut und ihre Kleider waren vollkommen trocken.

Nichts geschah. Alanna wartete. Sie krümmte sich fast vor Angst, denn vermutlich war das, was dieser teuflische Ort als Nächstes für sie bereithielt, noch schlimmer als alles, was bisher geschehen war. Schließlich begann sie, auf und ab zu gehen und sich die Arme zu reiben. Ihr war noch immer schrecklich kalt. Kälte, ihr Unvermögen, den Toten zu helfen, Spinnen, Ertrinken: das Gemach ließ sie all das, was sie am meisten fürchtete, in lebhaften Farben durchleben. Ging es darum bei dieser Prüfung? Sollten die zukünftigen Ritter gezwungen werden ihren Ängsten gegenüberzutreten?

Sie nieste und hob den Kopf. Die Luft summte vor Macht und auf einer der steinernen Wände breitete sich ein fahler Fleck aus. Er war voller Farben und Formen, doch sie fügten sich nicht zusammen. Alanna kniff die Augen zusammen, damit das Bild scharf wurde, doch es blieb verschwommen. Etwas sagte ihr, es sei wichtig – ja, sogar lebensnotwendig –, dass sie dieses Bild klar sah, koste es, was es wolle. Sie versuchte krampfhaft, durch den Dunst hindurchzusehen, und streckte die Hände zur Wand aus. Sie trafen auf etwas Festes, das sich anfühlte wie ein Tuch. Das war der Grund, weshalb sie das Bild nur so verschwommen sah. Alanna knirschte mit den Zähnen und packte nach der unsichtbaren Substanz. Sie spürte, wie feine Fäden ihre Handflächen zerschnitten, als sie versuchte ein Loch hineinzureißen, durch das sie sehen konnte. Schweißtropfen liefen ihr über die Wangen, und sie vergaß, wie kalt es war, während ihre Finger eine unsichtbare Öffnung fanden. Sie zerrte so sehr, dass sich ihre Armmuskeln verkrampften.

Die Barriere vor ihr – sie hatte keine Ahnung, ob sie wirklich oder magisch war – gab nach, und Alanna stürzte nach vorn und auf die Knie. Das Bild an der Wand war nun klar zu sehen. Zu klar.

Roger stand triumphierend lächelnd neben Jonathans Bett, und auf diesem Bett lag der Prinz. Seine Hände waren über der Brust gekreuzt; auf dem Kopf trug er eine Krone. Er war weißer als Marmor, so fahl wie der Tod. Lautlos lachend nahm Roger die Krone von Jonathans Kopf und setzte sie selber auf.

Alanna stürzte sich auf das Bild und öffnete den Mund, um zu schreien. Erst im letzten Augenblick fiel ihr ein, dass sie schweigen musste, und sie biss sich auf die Lippen. Im Geist schrie sie weiterhin Nein!, während sie sich die Fäuste an der unsichtbaren Mauer, die sie von Herzog Roger trennte, wund schlug. Schließlich stürzte sie zu Boden, und Tränen strömten über ihre Wangen.

Nein!, dachte sie und ballte die verschrammten und blutigen Hände. Es wird nicht passieren! Ich lasse es nicht zu! Niemals werde ich Jonathan sterben lassen!

Langsam öffnete sich die Tür des Raumes. Mit aufgeschürften und blutigen Händen und mit einem Mund, der zu einem dünnen Strich geworden war, stolperte sie hinaus. Jon und Myles kamen herbeigeeilt, um sie aus der Kapelle zu führen. Trusty und Coram folgten. Bevor die Männer sie zu Bett brachten, rieb ihr der Prinz Heilsalbe auf die Hände und umwickelte sie mit Binden.

Mit Augenlidern, die schon schwer wurden, sah Alanna Jonathan an. »Es wird nicht geschehen, Jon. Ich verspreche es.«

Er strich ihr das schweißnasse Haar aus der Stirn. »Ich weiß«, flüsterte er. »Schlaf jetzt. Es ist vorbei.«

»Vorbei ist es nicht«, wollte sie sagen, aber sie war zu müde. Ihre Augen schlossen sich, und sie schlief tief und traumlos. Sie hatte weder gesprochen noch geschrien.

Die bei Sonnenuntergang stattfindende Zeremonie, bei der sie zum Ritter geschlagen wurde, war kurz. Die wirkliche Zeremonie, die Prüfung, war vorbei, und der Rest war nur eine Formsache. Alanna kniete vor dem König, legte den Treueeid ab und gelobte ihn und Tortall ihr Leben lang zu verteidigen. Der König berührte Alannas Schultern und Kopf mit dem Schwert und sagte mit leiser Stimme: »Ich ernenne dich, Sir Alan, zum Ritter des Königreichs Tortall. Diene ehrenwert und gut.«

Alanna stand auf. Es war komisch. Abgesehen davon, dass sie müde und durcheinander war, fühlte sie sich noch genauso wie zuvor, aber jetzt war sie ein Ritter.

Ein schlanker, rotbärtiger Mann trat aus der Menge und winkte Coram zu sich her. Thom lächelte seine verdutzte Zwillingsschwester an. »Eure Majestäten«, sagte er höflich und verbeugte sich vor König und Königin. »Ich bin Thom, Lord von Trebond und Meister des Erleuchteten Mithran-Ordens. Als Bruder Sir Alans bitte ich um die Erlaubnis, ihm seinen Schild überreichen zu dürfen.« Er wies auf den großen, lederumhüllten Gegenstand, den Coram trug.

Der König neigte den Kopf und beherrschte sich, diesen auffällig jungen Meister ebenso unverhohlen anzustarren, wie es sein Hof tat. »Es sei Euch gewährt, Lord Thom.«

Thom entfernte die Hülle und legte einen schwarzen Turm auf rotem Grund – das Wappen Trebonds – frei. Alanna nahm den Schild auf den linken Arm. Er war leicht und gleichzeitig stabil, und sie konnte den schützenden Zauber spüren, der ihn umgab. Sie verneigte sich vor ihrem Bruder, vor König und Königin und sah sich dann erschrocken um. Alle jubelten ihr zu! Errötend schüttelte sie den Kopf. Natürlich hatten alle gejubelt, als Jonathan zum Ritter geschlagen worden war, doch das war etwas anderes. Jonathan war der Thronerbe, und ein Thronerbe, der zudem noch Ritter war, besaß viel mehr Macht als ein Thronerbe, der kein Ritter war. Sie aber hatte einen Platz in ihren Herzen gefunden und man jubelte ihr zu, weil man sie liebte. Thom begleitete sie, als sie zu ihrem Zimmer ging, um den Schild wegzubringen. Feierlich begrüßte er Trusty, während Alanna den Schild auf ihr Bett legte, um ihn zu betrachten. »Ich dachte schon, du würdest gar nicht kommen«, sagte sie und berührte den Schild mit ihrer verbundenen Hand. »Er ist wunderschön.«

»Ich wurde aufgehalten, weil ich das hier heimlich erledigen wollte. Schau her.« Lächelnd bewegte er die Hand über den Schild hinweg. Alanna starrte, als der schwarze Turm verblasste, und an seine Stelle eine große, goldene, auf den Hinterbeinen stehende Katze trat.

»Was ist das?«, fragte sie, als die Katze verschwand und der Turm wieder auftauchte. Thom half ihr, die Hülle wieder überzustreifen und den Schild in ihrem Ankleideraum zu ihren anderen Waffen zu hängen.

»Eine zum Sprung bereite Löwin natürlich. Für den Augenblick, wenn du offenbarst, wer du in Wirklichkeit bist. Lass uns zum Abendessen gehen; ich bin am Verhungern.«

Alanna ging voraus zur Banketthalle. Eine zum Sprung bereite Löwin, dachte sie. Nicht schlecht.