4
Krieg

Vor den Fenstern des Tanzenden Täubchens fiel in dicken Tropfen der Aprilregen vom Himmel, während Alanna den schmutzigen Zettel betrachtete, den ihr Georg übergeben hatte. Es wäre ihr lieber gewesen, dieser Zettel hätte nicht existiert.
»Besteht keine Möglichkeit, dass da ein Irrtum vorliegt?«, fragte sie ihren Freund.
»Nicht die geringste«, entgegnete er. »Ich habe ganz ähnlich lautende Berichte aus den Schlössern, in denen sich die Soldaten verborgen halten, und vom Obersten Schurken in der Hauptstadt Tusains erhalten. Herzog Hilam – König Ains Bruder – hält sich für einen Eroberer. Er mobilisiert das ganze Heer, und die vorderste Truppenspitze ist genau auf das Flusstal des Drell gerichtet. Da die Gebirgspässe offen sind ...« Er zuckte die Achseln. »Ich rechne damit, dass sie zwei Wochen brauchen, um zum rechten Flussufer vorzustoßen. Die dortige Festung wird einem Angriff kaum länger als eine Woche lang standhalten können.«
Alanna sah auf die winzige Karte. »Was für eine närrische Stelle, um einen Krieg auszutragen«, flüsterte sie. »Ringsherum sind Berge. Keiner von beiden wird Platz haben, sich zu rühren. Die Berge werden auch den Nachschub aufhalten und die Lieferung von Versorgungsmaterial erschweren. Und viele Schlachten werden im Fluss ausgetragen werden!« Sie faltete die Karte zusammen und steckte sie unters Hemd. »Danke, Georg.«
»Ich wollte, ich hätte bessere Neuigkeiten.« Der Dieb berührte sanft ihr Kinn und zwang sie, den Kopf zu heben. Alanna errötete. Seit Jons Geburtstag vor fast einem Jahr hatte Georg sie nicht mehr geküsst, aber er zeigte ihr durch kleine, sanfte Berührungen und zärtliche Blicke, dass er immer noch hinter ihr her war.
Jonathan hatte einen ähnlichen Gesichtsausdruck, wenn er Delia anschaute. Dass Georg ihr derartige Aufmerksamkeit schenkte, jagte ihr Angst ein.
»Ich muss gehen«, sagte sie und nahm ihren Umhang.
»Na gut.« Er öffnete ihr die Tür. »Lass mich wissen, was unternommen wird.«
Alanna konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Sei nicht albern. Das erfährst du vermutlich noch vor mir.« Sie eilte hinaus in die Regennacht.
Sie fand Myles von Olau in seinen Gemächern, wo er ein altes Dokument übersetzte. Trusty, der ihr zuvor erklärt hatte, er wolle lieber vor einem warmen Kamin ein bisschen dösen, anstatt mit ihr im Regen in der Stadt umherzulaufen, hatte sich vor dem Feuer des Ritters zusammengerollt. Jetzt begrüßte er Alanna, indem er auf ihre Schulter hüpfte.
Sobald Myles Alanna sah, legte er seine Übersetzung beiseite. »Was ist passiert?«
Alanna zog die zusammengefaltete Karte unter ihrem Hemd hervor. Sie ließ Myles nicht aus den Augen, während sie das Papier auseinanderfaltete. »Ihr habt einige Freunde in der Stadt«, entgegnete sie leise. »Einen jungen Dieb namens Marek. Einen alten Fälscher, den man den Gelehrten nennt.« Sie lächelte. »Die beiden sagen, Ihr wärt ein guter Saufkumpan. Das hätte ich ihnen auch sagen können.« Myles öffnete den Mund, um zu sprechen, doch Alanna schüttelte den Kopf. »Ich verlange nicht von Euch, dass Ihr es zugebt. Ich sage Euch lediglich, dass ich Marek, den Gelehrten und ihre Kameraden kenne. Ich bin mit dem Mann befreundet, der über sie regiert.«
»Mit diesem Dieb höchstpersönlich?«, flüsterte Myles. »Wie kommt denn das?«
»Es ist eine lange Geschichte, aber ich kenne ihn und die anderen schon seit Jahren. Letzten Sommer sagte ich Georg, dem Dieb, es gelinge uns nicht, verlässliche Informationen aus Tusain zu erhalten. Er bot seine Hilfe an.« Alanna reichte ihrem Freund die Karte. »Das gab er mir heute. Die kleinen roten Pfeile stehen für die Tusainer Legionen...«
Myles zählte. »Zwanzig Stück.« Er stieß einen Pfiff aus. »Wenn man pro Legion hundert Mann rechnet, dann sind es also zweitausend Infanteristen.«
»Die blauen Pfeile sind Einheiten. Sie bestehen aus jeweils zehn Rittern.«
»Also insgesamt hundertfünfzig.« Myles schaute auf die Karte und rieb sich müde die Stirn. »Und in diesen Schlössern und Städten haben sie Quartier bezogen?«
Alanna nickte. »Schaut Euch an, was sie eingekreist haben.«
»Das Flusstal des Drell.« Myles warf Alanna einen Blick zu. »Inwieweit vertraust du ihm?«
»Ich würde ihm mein Leben anvertrauen. Und das von Jon.«
Myles erhob sich. »Das muss ich unverzüglich Herzog Gareth und dem König zeigen. Ich versichere dir, dass dein Name und der deiner Informanten nicht zur Sprache kommen werden.«
»Noch eins, Myles. Georg sagte, die Gebirgspässe, die von Tusain aus ins Drelltal führen, seien offen.«
»Dann haben wir sehr wenig Zeit und vorbereitet sind wir auch nicht.« Myles schüttelte sein struppiges Haupt. »Gareth und ich haben versucht, den König davon zu überzeugen, dass Hilam etwas Derartiges im Schilde führt. Hätten wir nur mit König Ain zu tun, gäbe es keine Schwierigkeiten. Er ist es zufrieden, mit seinen Frauen in seinen Lustgärten zu wandeln. Aber Hilam...« Myles stockte.
»Hat Pläne?«, ergänzte Alanna.
Die Nachricht, die Myles überbrachte, hatte augenblicklich Auswirkungen auf den Palast. Jeder Edle von hohem Stand wurde zum Kriegssaal beordert, wo man sich den ganzen nächsten Tag bis spät in die Nacht hinein beriet. Boten und Brieftauben verließen scharenweise den Palast, und die Korridore summten geradezu von all den Klatschgeschichten. Alanna konnte lediglich warten. Jonathan nahm an den Beratungen teil, nicht aber sein Knappe.
Sie war in ihren Zimmern und las, als der Prinz am nächsten Tag spätnachts wiederkam. Er schüttelte den Kopf, als sie auf einen Stuhl deutete. »Ich muss ins Bett«, sagte er. »Ich wollte dich nur wissen lassen, dass es Krieg geben wird. Vater hat den Musterungsbefehl ausgegeben. Die Vortruppe – und das sind wir – reitet in fünf Tagen.«
Alanna bekam Herzklopfen. Es fühlte sich nicht angenehm an. Ob es ihr nun gefiel oder nicht, sie würde an ihrer ersten Schlacht teilnehmen, noch bevor sie sechzehn war. »Wer führt das Kommando?«, fragte sie Jon, der ganz erschöpft war.
»Onkel Gareth«, entgegnete er. »Geh jetzt ins Bett. Du wirst deinen Schlaf noch brauchen.«
Waffen und Vorräte wurden zusammengetragen, Männer aus den umliegenden Städten wurden ausstaffiert, und schon bald war die Vortruppe bereit. Drei Tage nachdem der Musterungsbefehl ausgerufen worden war, formierte sich das Heer auf dem weitläufigen, grasbewachsenen Hügel zwischen dem Palast und dem Tempelbezirk, wo der König und Herzog Gareth es inspizieren wollten. Alanna, die gleich hinter Jonathan stand, betrachtete die Reihen der Männer, als Herzog Gareth gerade in eine andere Richtung schaute. Dafür, dass wir unvorbereitet waren, haben wir unsere Sache recht gut gemacht, dachte sie stolz, als plötzlich das Wiehern eines Pferdes durch die Frühlingsluft drang.
Herzog Gareths Brauner, ein mächtiges, gutmütiges Tier, bäumte sich auf, rollte mit den Augen und wieherte. Der Herzog mühte sich, den Wallach unter Kontrolle zu bekommen, als plötzlich sein Sattel zur Seite glitt. Gefährlich nahe bei den in die Luft dreschenden Hufen seines Pferdes stürzte Gareth von Naxen zu Boden.
»Haltet Stellung!«, brüllte Jonathan, als sich ein Dutzend Männer in Bewegung setzten. König Roald hatte schon die Zügel des Braunen ergriffen, und seine Diener kümmerten sich um den Gestürzten. Energisch hielt Jon Gary zurück, der trotzdem zu seinem Vater reiten wollte. »Haltet Stellung, sagte ich!«
Der Knappe funkelte seinen Vetter wütend an, und einen Augenblick lang hatte Alanna Angst, Gary wolle sich auf Jon stürzen. Der Prinz setzte sich jedoch über die drohende Haltung des anderen hinweg und fügte leise hinzu: »Was kannst du denn für ihn tun, abgesehen von dem, was schon getan wird? Wir sind ein Heer, Gary – also lass uns versuchen, uns dementsprechend zu benehmen!«
Einen Augenblick lang hielt die Spannung zwischen den beiden an. Dann nickte Herzog Gareths Sohn grimmig und kehrte auf seinen Platz in der Reihe der Ritter zurück.
Schon stand Herzog Baird, der Oberste Palastheiler, neben Garys Vater. Herzog Gareth war bleich. Er biss sich auf die Lippen und litt ganz offensichtlich unter Schmerzen. Alannas Hände hielten verkrampft die Zügel, bis Moonlight nervös zu tänzeln begann. Herzog Gareths linkes Bein lag eigenartig abgewinkelt da. Als sie kurz danach hörte, das Bein des Herzogs sei an drei Stellen gebrochen und der König wolle einen neuen Oberbefehlshaber bestimmen, verstärkte sich ihr ungutes Gefühl. Das Ganze war ihr zu glatt gelaufen, und sie fasste den Entschluss, auf die Verkündung des neuen Oberbefehlshabers zu verzichten und stattdessen bei den Ställen vorbeizuschauen.
Sie gab Moonlight einen Apfel und pfiff eine kurze Melodie. Aus dem Heuschober erklang ein Geräusch; dann kam ihr alter Freund Stefan mit einer Decke in der Hand die Leiter heruntergeklettert.
»Hab mir gedacht, dass du rüberkommst«, brummte der Pferdeknecht. »Du hast wohl’nen Riecher für krumme Dinger, wasz«
Alanna lächelte gezwungen. »Woher willst du denn wissen, dass ich nicht nur deshalb gekommen bin, weil ich mein Pferd streicheln will?«
»Dann hättest du nicht nach mir gepfiffen«, meinte der spitzbäuchige Pferdeknecht. »Aber vielleicht willst du ja mal wieder mit mir schwatzen, wie schon so oft. Oder aber du willst wissen, wieso dieser Gaul seinen Herrn abgeschmissen hat, wo er doch sonst noch braver ist als deiner.«
»Ja, deshalb bin ich hier«, gab Alanna zu.
Stefan faltete seine Decke auseinander. »Vielleicht hab ich Unrecht. Vielleicht lag’s aber auch daran.« Er zeigte ihr eine große, stachlige Klette, die im Gewebe der Decke hing. Alanna hatte Mühe sie zu lösen. »Dort, wo das Ding steckte, ist das arme Vieh ganz zerkratzt«, fuhr Stefan fort. »Und wer hat bloß den Sattel seiner Gnaden so locker gegürtet? Hier rennen so viele neue Männer fürs Heer herum, dass ich nicht mehr alles sehe, was ich sehen müsste.«
»Dann wurde Herzog Gareths Pferd also nicht von einem der üblichen Pferdeknechte gesattelt?«
Stefan schüttelte den Kopf. »Es war ein Neuer. Und vielleicht hat er Angst gehabt, dass es ihm an den Kragen geht, als Herzog Gareth abgeworfen wurde. Vielleicht aber auch nicht. Jedenfalls ist er weg.«
Alanna dachte nach und gab Stefan die Decke zurück. »Danke, dass du das für mich aufgehoben hast«, sagte sie schließlich.
Der Pferdeknecht zuckte die Achseln. »Mir war klar, dass du fragen würdest«, sagte er schließlich. »Aber sieh dich vor. Wir Schurken wissen, was mit denen passiert, die zu viele Fragen stellen. Übrigens, hast du gehört, wer an Herzog Gareths Stelle das Kommando führt?«
Alanna schüttelte den Kopf.
»Seine Gnaden, der Herzog von Conté.« Stefan kaute auf einem Strohhalm. Dabei ließ er Alanna nicht aus den Augen. »Müsste interessant werden mit ’nem Zauberer als General, oder was meinst du?«
»Ja, ganz sicher«, sagte Alanna trocken und ignorierte das komische Gefühl, das sie in ihrem Magen spürte. Sie drehte sich um und wollte gehen.
»Knappe Alan«, meinte Stefan noch. »Du solltest vielleicht mal ’nen Blick in die Kleine Bibliothek werfen. Du hast nämlich Besuch.«
Sofort ging Alanna mit der stachligen Klette in der Hand in den Palast. Zu ihrer Überraschung wartete ein mit Kapuze bekleideter Mönch in der Kleinen Bibliothek. Da die Nachricht von Stefan gekommen war, hatte sie einen anderen erwartet.
»Entschuldigt«, begann sie. Der »Mönch« schob seine Kapuze zurück, hielt einen Finger vor den Mund und grinste. Gereizt knallte Alanna die Tür zu und verriegelte sie.
»Bist du total verrückt?«, flüsterte sie Georg heiser zu. »Du wirst es nicht glauben, aber ein paar von den Männern des Obersten Richters kennen dein Gesicht.«
»Sorgst du dich um mich?«, lachte der Dieb. »Ich bin gerührt.«
»Verrückt bist du«, fauchte Alanna. »Wie auch immer: Da du schon mal hier bist – weshalb bist du eigentlich her?«
»Ich dachte, du hättest vielleicht keine Gelegenheit mehr, in die Stadt zu kommen, bevor du losreitest, und ich wollte noch mit dir reden. Aber du wolltest mich etwas fragen.«
Alanna zeigte ihm die Klette. »Das hat Stefan in Herzog Gareths Satteldecke gefunden. Er sagte, ein neuer Mann habe das Pferd des Herzogs gesattelt und sei dann verschwunden.«
»Und du vermutest, dass da nicht alles mit rechten Dingen zugegangen ist«, half Georg nach.
»Klar. Aber das Ganze kommt mir so unsinnig vor. Warum sollte sich Tusain die Mühe machen, Herzog Gareth daran zu hindern, das Heer anzuführen? Das wird uns nicht davon zurückhalten, übermorgen auszurücken.«
Georg schüttelte den Kopf. »Du denkst wie ein Krieger. Denk mal wie ein Intrigant. Vielleicht liegen die Gründe für Herzog Gareths Sturz direkt vor deiner Nase.«
»Direkt vor meiner Nase?«, fragte Alanna.
»Wer zieht einen Nutzen daraus?«, erkundigte sich Georg. »Lass mal den Krieg beiseite. Denk stattdessen mal an Macht. Wer erlangt denn durch den ›Unfall‹ Seiner Gnaden am meisten Macht?«
Keiner, wollte Alanna eben sagen, als ihr einfiel, wen König Roald an Herzog Gareths Stelle zum Oberbefehlshaber ernannt hatte.
Plötzlich wurde ihr schlecht, und sie wankte.
»Das ist kein Befehlshaber, dem du auf dem Schlachtfeld vertrauen wirst, was?«, fragte der Dieb leise.
Alanna zitterte. »Darüber muss ich erst mal nachdenken.«
Georg nickte. »Denk darüber nach, so viel du willst«, sagte er. »Und gib Acht, wo er Jonathan platziert und jene, die ihm treu ergeben sind.« Er fuhr ihr mit der Hand über das kupferfarbene Haar. »Ich wollte, ich müsste nicht hierbleiben und auf meine Leute aufpassen. Es gefällt mir nicht, dass ich dich ganz ohne Hilfe losschicken muss. Aber es lässt sich nicht ändern. Ich wäre ein toter Dieb, wenn ich meinen Leuten so lange den Rücken zukehren würde, wie du unterwegs sein wirst.«
Alanna lächelte ihn an und wünschte sich, er könnte tatsächlich mitkommen. Die Dinge waren immer klarer, wenn Georg in der Nähe war. »Ich werde es schon schaffen«, sagte sie gespielt selbstsicher. »Trusty ist ja dabei, und wenn es schwierig wird, habe ich Myles. Er ist so klug wie drei von uns zusammen.«
Georg lächelte auf sie hinunter. Er sah immer noch besorgt aus. »Das ist er. Damit müssen wir uns begnügen. Halt die Augen offen nach weiteren ›Unfällen‹.«
»Ich glaube nicht, dass er mir etwas antun will«, wandte Alanna ein. »Er will lediglich erfahren, was ich vor ihm verberge.«
»Ich glaube, dass er dich aus dem Weg schaffen will, bevor er seine Pläne weiterverfolgt.«
Alanna musste lachen. »Was hat er denn von mir zu befürchten? Nein, so misstrauisch wie du bin ich nicht, Georg. Das muss an deinem Beruf liegen.«
Georg spürte, dass sie das Thema wechseln wollte. Er zuckte die Achseln. »Möglich, dass ich meinen Beruf aufgebe, sobald Jon König wird.«
Alanna erstarrte. »Du machst Witze.«
Der hoch gewachsene Dieb ließ sich auf einen Stuhl sinken und sah sie durchdringend an. »Ich denke daran, ein ehrlicher Mann zu werden und mir eine Frau zu nehmen!«
Alanna schnaubte. »Ich glaube, ich hör nicht richtig!«
Er ließ sie nicht aus den Augen. »Die Dinge schauen anders aus, wenn man älter wird.«
Alanna setzte sich auf einen Tisch und baumelte mit den Beinen. »Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass du ein ehrlicher Bürger werden willst. Wem wirst du deine Ohrensammlung vermachen? Und was für ein Gewerbe könntest du betreiben? Juwelen verkaufen? Willst du all das zurückgeben, was du gestohlen hast – gegen Gebühr natürlich?«
»Ich hab’s nicht eilig. König Roald ist noch jung. Weißt du«, fuhr er fort, »ich warte, bis die Braut, dich ich mir ausgesucht habe, erwachsen wird. Mit’ner Bürgerstochter wäre mir nicht gedient, oder was meinst du? Ich brauche eine, die nichts auf Althergebrachtes gibt, die meine Vergangenheit kennt, die sich nicht darum kümmert, was sich gehört und was nicht. Eine, die keine spitzen Schreie ausstößt, wenn sie meine Schatztruhe aufmacht und die Sammlung findet, von der du eben sprachst.«
Alanna wischte sich die schweißnassen Handflächen an ihrem Waffenrock ab. Sie hatte das Gefühl, als wisse sie, worauf er hinauswollte, und es wäre ihr lieber gewesen, er hätte aufgehört. »Viel Glück, Georg. Ich glaube nicht, dass so eine Frau existiert.« Georg stand auf. Er fasste sie an den Schultern und zog sie vom Tisch. »Ich habe sie schon gefunden, und das weißt du auch genau.«
Alannas Augen sprühten, als sie zu ihm aufsah. »Du bildest dir ganz schön viel ein!«, fauchte sie. »Ich bin die Tochter eines Edlen...«
Er lachte leise. »Ist das wirklich ein Hinderungsgrund? Wenn du einen liebtest, würden dich dann dessen Herkunft und Wohlstand kümmern?«
»Gleich und Gleich gesellt sich gern«, flüsterte Alanna. Am liebsten wäre sie davongerannt, doch es gelang ihr nicht. Ein Zauberer war er ja keiner, aber mit was für einem Bann umwob er sie da?
»Es gibt wichtigere Dinge als Herkunft. Was nutzt dir denn ein Ehemann von edler Geburt, wenn du erst mal deinen Ritterschild hast?«
»Am meisten nützt es mir, wenn ich überhaupt keinen Ehemann habe. Ich beabsichtige nicht, zu heiraten, und ich beabsichtige ganz bestimmt nicht, mich zu verlieben.«
»Das sagst du jetzt. Ich habe Geduld, Kleine. Wenn es sein muss, warte ich jahrelang. Und ich werde dich nicht mehr darauf ansprechen. Ich wollte dich nur wissen lassen, dass du mich haben kannst, wenn du mich willst.« Er lächelte.
Alanna versuchte, ihn zurückzustoßen. Sie hatte Herzklopfen, und schwummrig war ihr auch. Sie musste ihn unbedingt bremsen. »Können wir Freunde bleiben wie vorher auch?«
»Freunde werden wir bleiben, gute Freunde, hoffe ich. Gib es zu, Kleine – du würdest mich ziemlich vermissen, wäre ich nicht mehr da.«
Alanna machte den Fehler, in seine heiteren Augen hinaufzusehen. Da lag das Problem, da, in seinem Gesicht. Dem, was sie darin sah, war sie absolut noch nicht gewachsen. Erschreckt senkte sie die Augen wieder. »Ich ... ich werde nicht zulassen, dass deshalb unsere Freundschaft zerbricht«, flüsterte sie.
»Und ich werde nicht mehr davon sprechen, bevor du mich darum bittest. Schau mich an, Alanna.«
Alanna sah auf. Georg zog sie eng an sich und küsste sie. Seine Lippen waren warm und tröstlich. Alanna hatte das letzte Mal nicht vergessen und sie hatte bemerkt, dass sie seine Küsse mochte. Sie entspannte sich und ließ es zu, dass er sie fest an sich drückte.
Georg schob sie weg. Zwei rote Flecken brannten auf seinen Wangen. »Das geht zu weit«, sagte er mit rauer Stimme. »Ich ... ich wollte nur, dass du weißt, wie es um mich steht, bevor du in den Krieg ziehst.«
Alanna errötete. »Du hast eine komische Art dich zu verabschieden.«
Er zog spöttisch eine Augenbraue hoch. »So? Im ganzen Königreich verabschieden sich Liebende auf ebendiese Art und Weise.« Er küsste sie noch einmal, ging zur Tür und zog seine Kapuze über den Kopf.
»Georg?«, rief sie leise, als er den Riegel öffnete. »Ich komme wieder, und wir bleiben Freunde.«
Er nickte und verschwand. Abgesehen von dem lockeren Sattel und der Klette gab es jetzt noch etwas anderes, worüber sie nachdenken musste.
Am nächsten Tag beraumte Roger eine Sitzung seiner Truppenführer an. Diesmal nahm auch Alanna teil. Sie war erleichtert, als sie erfuhr, dass Gary und Raoul zu den Rittern in Jonathans persönlicher Einheit gehörten. Noch erleichterter war sie darüber, dass Alex und Geoffrey bei Roger in der Festung sein würden. Sie vertrug sich wieder mit Alex, aber ihr »Duell« hatte sie nie vergessen.
Als sie allerdings sah, wo Herzog Roger Jonathans Truppe stationieren wollte, war ihr nicht so wohl.
Roger von Conté stand vor einer großen Detailkarte des Drelltals. In der Mitte der Karte, dort, wo die Felder, die den Fluss säumten, am breitesten waren, drängten sich am rechten Ufer die blauen Kreuze, die für die Tusainer Truppenlager standen.
»Wie ihr sehen könnt«, erklärte ihnen Roger und deutete auf die Kreuze, »hat der Feind gegenüber der Festung am anderen Ufer Position bezogen.« Roger deutete auf das Viereck, das die Festung bezeichnete. »Den größten Teil des Heeres werde ich hier in der Festung und in der näheren Umgebung stationieren. Lord Imrah von Leganns Truppe bezieht über der Festung bis zur Flussbiegung unter den Drellfällen Stellung. Unterhalb der Festung hält Graf Hamrath von Königsbucht das Ufer bis hinab zu den Stromschnellen am Ende des Tales. Da die Klippen und Stromschnellen zu dieser Jahreszeit unüberwindbar sind, erwarten wir kaum Schwierigkeiten für Hamraths Männer.
An den Wasserfällen selbst« – Rogers Finger fuhr wieder nach Norden bis zum oberen Ende des Tales, – »ergibt sich eine interessante Situation. Dort ist der Fluss flach und breit; trotzdem ist die Strömung recht stark. Ein Feind, der wirklich entschlossen ist, könnte eine Überquerung aber möglicherweise schaffen, obwohl am rechten Flussufer auf Grund der Klippen kein Platz für ein ordentliches Lager bleibt. Die Angreifer dürften bei ihrer Überquerung natürlich von keinem der oberhalb der Festung platzierten Späher gesehen werden, doch in einer nebligen Nacht und wenn sie sich schlau anstellen, bestünde tatsächlich eine gewisse Gefahr. Ich habe beschlossen, Prinz Jonathan und seine Ritter gleich unterhalb von den Wasserfällen zu stationieren. Falls es nötig werden sollte, ist Imrah von Legann in Reichweite; zusätzlich werde ich dem Prinzen die gegenwärtige Infanteriegarnison aus der Drellfestung schicken. Es sind mutige Männer, auch wenn sie im Moment ein wenig kampfesmüde sind. Eigentlich müssten wir jede Bewegung des Feindes sehen, lange bevor er versucht den Fluss zu überqueren, deshalb finde ich, dass diese Stelle für meinen jungen Vetter einen ausgezeichneten Befehlsstand abgibt, an dem er keinen unnötigen Gefahren ausgesetzt ist.«
Alanna, die hinter Jons Stuhl stand, sah, wie der Prinz vor Wut erstarrte. Rasch warf sie dem König einen Blick zu, doch der nickte zustimmend. Herzog Gareth hatte geplant Jon bei sich in der Festung zu behalten, damit der Prinz aus allernächster Nähe mitbekam, wie man einen Krieg führte. Aber das hielt Roger offensichtlich für unnötig. Herzog von Conté fuhr fort: »Da mein Vetter zum ersten Mal eine Truppe befehligt, wird ihm Sir Myles als Berater zugeteilt. Wir – mein Onkel und ich – hoffen, der Prinz möge auf diesen Mann, der so viel Weisheit besitzt, gut hören.«
»Und sehr wenig Kampferfahrung«, hörte Alanna Myles in seinen Bart brummen.
»Ich habe noch eines hinzuzufügen«, sagte der König und erhob sich. »Bis wir die moralische Seite der Frage, ob wir auf das rechte Flussufer des Drell, das bis zu den Zeiten unserer ehrwürdigen Väter Tusain gehörte, Anspruch erheben wollen, geklärt haben, erteile ich euch den königlichen Befehl, lediglich das linke Flussufer zu verteidigen. Ich verbiete euch, den Fluss zu überqueren, sei es nun, um den Feind zu verfolgen, sei es, um ihn anzugreifen.«
Die Truppenführer wurden unruhig und begannen zu murmeln. Sie durften den Fluss nicht überqueren? Sie durften die Tusainer nicht hinter ihre Grenze zurücktreiben? Die Stimme des Königs fuhr durch den Raum wie eine Peitsche. »Wir kämpfen nur um das linke Ufer! Sorgt dafür!«
Alle standen auf und verneigten sich, als der König den Raum verließ. Als sich die Tür schloss, seufzte Hamrath von Königsbucht: »So, Jungs, ruht euch aus. Das wird ein langer Sommer werden.« Er sah Herzog Roger an: »Euer Gnaden?«
»Das ist alles«, erklärte Roger. »Wir reiten morgen, eine Stunde nach Morgengrauen.«
Zwölf Tage lang ritten sie ostwärts. Als sie schließlich den Pass erreichten, der ins Flusstal des Drell hinunterführte, zügelte Jon sein Pferd Darkness und ließ die lange Reihe der Soldaten an sich vorüberziehen. »Schau, Alan!«
Unter ihnen erhob sich der Drellfluss. Auf der anderen Seite des Flusses schwärmten Tausende von Männern in Tusainer Uniform. Sie bezogen gerade ihr Hauptlager. Alanna folgte Jons ausgestrecktem Finger flussaufwärts, bis sie durch die Bäume einen weiß-silbernen Schimmer sah.
»Die Drellfälle«, erklärte ihr Jon. »Unser neues Zuhause.«
Trusty, der in einer an Moonlights Sattelhorn hängenden Schale saß, verkündete lauthals, sein altes Zuhause sei ihm lieber gewesen. Alanna streichelte ihren staubigen Kater. Sie musste ihm Recht geben. Sie hatte ein unangenehmes Gefühl, was diese neue »Heimat« betraf – ein ausgesprochen unangenehmes Gefühl.