Die Stückmeister Mahon und Reffles
»Ballast, Sir, wir haben an den Schiffsballast gedacht.« – »Er besteht fast immer aus Steinen, Sand und Kanonenkugeln, Sir!« – »Wir sollten nachsehen, Sir, vielleicht finden wir ein paar Geschosse.«
Mahon, der neuernannte Stückmeister, stand bei den Backbord-Culverines und schrie mit Stentorstimme: »Klar bei Brooktauen, Taljen abschlagen!«
Reffles, ebenfalls neu ernannt zum Stückmeister, stand bei den Steuerbord-Culverines und brüllte dasselbe.
Beide Männer trieben ihre Geschützbedienungen zu äußerster Geschwindigkeit an, es ging um die Zeit, und es ging um die Ehre, welche Seite die schnellere war.
Die Matrosen waren mit Feuereifer bei der Sache, auch wenn sie die Übungen nach wie vor nur trocken absolvierten. Keinen einzigen scharfen Schuss hatte die Falcon bisher abgegeben.
»Kanonen richten!« – »Pfropfen raus!« – »Kartuschen rein!« – »Kugeln rein!« – »Kanonen ausrennen!« – Pulverladungen klar!« – Lunten klar!« … So ging es Schlag auf Schlag seit einer Stunde, eine überaus schweißtreibende Tätigkeit, bei der abwechselnd mal Mahon und mal Reffles mit seinen Matrosen die Nase vorn hatte und »Culverines feuerbereit, Sir!« melden konnte.
Taggart stand mit säuerlicher Miene auf dem Kommandantendeck, den Knotenmesser in der Hand, und stellte fest, dass die Prozedur vom Richten der Kanonen bis zur Meldung »feuerbereit!« ungefähr drei Minuten dauerte. Das war keine schlechte Zeit, aber was sie wirklich wert war, würde sich erst im Gefecht erweisen.
Mahon und Reffles befahlen eine Pause und baten um die Erlaubnis, das Kommandantendeck betreten zu dürfen.
»Erlaubnis erteilt!«, bellte Taggart. »Ich bin im Großen und Ganzen zufrieden mit dem Tempo, auch wenn ich schon schnellere Crews gesehen habe.«
»Mit Verlaub, Sir, wir sind nicht zufrieden«, entgegnete Mahon.
»Nein, Sir, das sind wir nicht«, sagte Reffles.
»Wie bitte?« Diese Reaktion kam für Taggart überraschend. Noch nie hatte er erlebt, dass Untergebene freiwillig ihre Leistung in Frage stellten. »Und darf man erfahren, warum?«
»Gewiss, Sir«, sagte Mahon. »Wir denken, die Drei-Minuten-Zeit ist erst dann von Wert, wenn sie unter Gefechtsbedingungen erzielt wird.«
»Ja, das denken wir«, bekräftigte Reffles.
Zu der Erkenntnis war Taggart auch schon gekommen. »Dann werdet eben etwas flinker, Gentlemen, damit wir sicher sein können, dass Eure Crews im Ernstfall schnell genug sind.«
»Das wäre möglich, Sir, aber nicht wirklichkeitsnah«, versetzte Mahon. »Wir müssten das Scharfschießen üben.«
Taggart schnaufte und ahnte, worauf das Gespräch hinauslief. »Wir haben sehr wenig Munition, Gentlemen.«
»Bei allem Respekt, Sir« – jetzt war wieder Reffles an der Reihe –, »nur beim scharfen Schuss entsteht ein Rückstoß bei den Kanonen, und nur dann legt sich das Schiff nach Feuerlee über.«
Mahon fiel ein: »Jawohl, Sir. Das bedeutet erschwerte Bedingungen für die Männer. Sie müssen die gewohnten Handgriffe bei starker Rollbewegung durchführen, eine Situation, die wir so nicht simulieren können.«
»Das weiß ich. Aber wir müssen mit den Kugeln knausern. Auch Euch dürfte bekannt sein, dass es ganz England an Kanonenkugeln mangelt, und meine Falcon macht da keine Ausnahme. Was nützt die eingespielteste Crew im Kampf, wenn ihr die Munition fehlt. Lieber schlecht geübt ohne Kugeln, als gut geübt mit Kugeln, die uns später fehlen. Ist das klar!«
»Aye, Sir. Aber wir haben uns da was überlegt«, sagte Mahon.
»Bei allen Stachelskorpionen, was ist denn jetzt noch?«, blaffte Taggart und sah, wie seine Stückmeister die Köpfe einzogen, dann aber Luft holten, um eifrig und im Wechsel ihre Überlegungen hervorzusprudeln: »Ballast, Sir, wir haben an den Schiffsballast gedacht.« – »Er besteht fast immer aus Steinen, Sand und Kanonenkugeln, Sir!« – »Wir sollten nachsehen, Sir, vielleicht finden wir ein paar Geschosse.«
»Sackerment!« Daran hätte Taggart zuallerletzt gedacht. Dennoch hatte die Idee etwas für sich. Eine ganze Menge sogar, wenn man bedachte, dass bei der Suche nichts zu verlieren war. »Ich bin einverstanden. Probiert Euer Glück, Männer, schnappt Euch Eure Crews und ab mit Euch nach unten.«
»Danke, Sir!«
Taggart dachte an den pestilenzialischen Gestank über der Bilge und grinste sein schiefes Grinsen. »Viel Spaß.«
»Warum bist du damit nicht früher zu mir gekommen?«, fragte Vitus vorwurfsvoll. Er befand sich in seinem Behandlungsraum tief unten im Schiff und betrachtete den herabhängenden Arm von Chock, einem Veteranen der Falcon.
»Hab mich’n bisschen gekabbelt, Sir.«
»Mit wem?«
»Kann mich nicht mehr erinnern, wer’s war, Sir.«
»Aha. Nun gut. Das lass mal den Captain nicht hören, dass du dich mit einem Kameraden geprügelt hast.«
»Prügeln wär zu viel gesagt, Sir, war nicht schlimm, die Sache, ’ne kleine Meinungsverschiedenheit, mehr nicht, wär sonst ja auch viel früher zu Euch gekommen.«
Vitus tastete die Schulter ab, wobei Chock vernehmbar die Luft durch die Zähne zog. »Du hast eine seltsame Logik, Chock.«
»Sir?«
»Lass gut sein. Wie ist es passiert?«
»Bin umgefallen, Sir, wollte mich mit dem Arm abstützen, und plötzlich hat’s ›knack‹ gemacht, und der Arm hing nebenbei.«
»Deine Schulter ist ausgerenkt. Zum Glück offenbar das Einzige, was dir bei deiner ›Kabbelei‹ passiert ist. Ich werde sie dir wieder einrenken. Gleich jetzt, damit keine Nerven und Gefäße Schaden erleiden. Leg dich der Länge nach auf den Boden, den Rücken nach unten, und bleibe ganz ruhig.«
Chock, ein kräftiger Kerl mit buschigen Brauen und stark behaarter Brust, folgte der Anweisung umgehend.
»Wir machen es nach der Art, die schon Hippokrates empfahl, es kann dir also gar nichts passieren.«
»Aye, Sir.« Chock war anzusehen, dass der Name Hippokrates ihm nichts sagte.
Vitus trat neben ihn und wollte die Behandlung beginnen, wurde aber von einem Klopfen unterbrochen. Ärgerlich blickte er zur Tür. »Ja?«
»Verzeihung, Sir, ich bin Mahon, der Stückmeister.«
»Und, was gibt’s?«
»Laut Decksplan, Sir, befindet sich in diesem Raum eine Luke, die nach unten in den Bilgenraum führt. Wir müssten die Bilgenbretter mal lösen, um zu sehen, ob sich im Ballast die eine oder andere Kanonenkugel findet.«
»Was? Wie?« Vitus wurde immer ungehaltener, doch Mahon beschwichtigte ihn und erklärte genau die Hintergründe seiner Absicht. Schließlich hatte Vitus verstanden. »Schön und gut, das könnt Ihr alles später machen, ich bin mitten in einer Behandlung, wie Ihr seht. Und nun stört mich nicht länger.«
»Aye, aye, Sir!« Mahon machte, dass er hinauskam, und Vitus trat abermals neben Chock. Er umfasste mit beiden Händen die Hand des verletzten Arms und hob ihn leicht an. Chock trat vor Qual der Schweiß auf die Stirn, aber Vitus achtete nicht darauf. Wer sich prügeln konnte, konnte auch Schmerzen ertragen. Dann stemmte er seinen Fuß in die Achselhöhle und zog gleichzeitig an dem Arm – kraftvoll und stetig. Chock stöhnte lauter, doch kurz danach gab es ein dumpfes Geräusch, ein Zeichen dafür, dass der Oberarmkopf in die Pfanne zurückgehebelt worden war. »Kannst du den Arm wieder bewegen?«
Chock biss die Zähne zusammen und versuchte es. Es ging. »Aye, Sir.«
»Schön.« Vitus half Chock auf die Beine. »Du wirst den Arm fürs Erste in einem Dreieckstuch tragen müssen, bis er wieder voll einsatzfähig ist.«
»Wie lange muss denn das sein, Sir?«
»Das werden wir sehen.« Vitus kannte die genaue Antwort nicht und nahm sich vor, bei Gelegenheit im Werk De morbis nachzublättern. »In jedem Fall kannst du noch keinen vollen Dienst versehen. Lass dir von Mister McQuarrie oder von Mister Dorsey eine leichte Arbeit zuweisen.«
»Aye, aye, Sir.«
Vitus war drauf und dran, Chock zu entlassen, entschloss sich dann aber doch, ihm die Fragen zu stellen, die er in den vergangenen Tagen schon an viele von Chocks Kameraden gerichtet hatte. »Fühlst du dich sonst ganz gesund, Chock?«
»Aye, Sir.«
»Was ist mit den Verrichtungen im Garten?«
»Mit den Verrichtungen …? Ach so, alles in Ordnung, Sir.«
»Kein Dünnschiss?«
»Nein, Sir.«
»Keine Schmerzen beim Wasserlassen?«
»Nein, Sir.«
»Keine Juckstellen, keine Krätze?«
»Nein, Sir.«
Es gab noch eine Reihe weiterer Fragen, aber Chock beantwortete alle zufriedenstellend, und Vitus entschied, es damit bewenden zu lassen. Die Inaugenscheinnahme verborgener Körperteile mochte für heute entfallen. »Gut, Chock, dann melde dich wieder an Deck.«
»Aye, aye, Sir.«
Chock war fort, und Vitus griff zum Buch De morbis, um bei Hippokrates nachzuschlagen und zu erfahren, wie lange ein ausgerenkter Arm in der Regel Schonung brauchte. Er blätterte hin und her, doch dann fiel ihm ein, was Mahon gewollt hatte, und er blickte hinunter auf die Bodenplanken zu seinen Füßen. Richtig, da gab es eine Luke. Ohne weiter zu überlegen, nahm er eine Laterne und leuchtete die Stelle ab. Die Luke hatte einen eingelassenen Griff. Er zog daran, und der Deckel klappte nach oben auf. Es gab ein schauerliches Geräusch in den Scharnieren und ein jämmerliches Wimmern obendrein. Irgendetwas kam ihm daran seltsam vor. Versuchsweise schloss er den Deckel wieder, und es herrschte Ruhe. Ruhe? Nein, das Wimmern war nach wie vor da. Er öffnete abermals den Deckel, und das Wimmern verstärkte sich.
Es war ein Geräusch, das ihm bekannt vorkam.
Wo hatte er es schon einmal gehört?
Richtig, es war hier gewesen, hier im Behandlungsraum, und genau wie heute hatte er im Werk De morbis geblättert. Er hatte gedacht, es wäre eine Katze, daran erinnerte er sich genau, und er hatte außerdem gewünscht, sie möge eine gute Jägerin sein.
Diesmal ließ Vitus den Deckel offen. Ein widerlicher, die Atemwege einschnürender Gestank drang von unten herauf. Fast hätte er sein Vorhaben aufgegeben, aber das fortwährende Wimmern hinderte ihn daran. Er band sich ein Tuch vor den Mund, ergriff die Laterne und begann den Abstieg in die Katakomben des Schiffs.
Mit den Füßen tastend, erreichte er einen glitschigen Boden, der aus durchweichten Hölzern bestand. Er wollte sich aufrichten, aber es gelang nur halb. Die Raumhöhe – sofern von »Raum« die Rede sein konnte – betrug höchstens fünf Fuß. Er verharrte. Das Wimmern hatte aufgehört.
War das Ganze nur Einbildung gewesen?
Vitus hätte es nur zu gern geglaubt, aber nun setzte das Klagen wieder ein. Es kam von der Backbordseite, und mit jedem Schritt, den er in diese Richtung setzte, wurde es stärker. Er landete vor einer Tür mit einem starken Schloss. Das war verwunderlich. Was war hier unten so wichtig, dass es mit einem starken Schloss gesichert werden musste?
Er rüttelte an dem Schloss.
Das Wimmern erstarb.
»Ist da drinnen jemand?«, rief er. Als er keine Antwort bekam, rüttelte er wieder an dem Schloss. Vergeblich. Wenn er wissen wollte, was oder wer sich hinter der Tür verbarg, musste er den Schlüssel für das Schloss haben. Zu diesem Zweck konnte er sich an McQuarrie oder Dorsey wenden, doch auf dem Schiff herrschte so viel Betrieb, dass er die Herren nicht behelligen wollte. Außerdem war keineswegs klar, ob sie den Schlüssel besaßen.
Vitus kletterte zurück in seinen Behandlungsraum, nahm eine Bügelsäge, einen Knochenmeißel und einen Hammer und erschien wenig später wieder vor der Tür. Von einem Wimmern oder Klagen war kein Deut mehr zu vernehmen. Doch er ließ sich nicht beirren. Nachdem die Säge sich als unbrauchbar erwiesen hatte, weil ihre Zähne zu weich waren, brach er mit ein paar kräftigen Schlägen das Schloss aus der Verankerung. Es fiel scheppernd zu Boden, und die Tür schwang knarrend nach innen auf.
Vitus gab ihr einen Stoß, so dass sie sich ganz öffnete. Er hielt die Lampe in den Raum und sah – nichts. Nichts außer einem Kübel, etwas Stroh und einem Bündel Lumpen am Boden. Er trat näher. Von irgendwoher musste das Wimmern kommen, und er war sicher, dass er kurz vor der Lösung des Rätsels stand.
Das Bündel Lumpen am Boden regte sich.
Die Bewegung kam so plötzlich, dass Vitus erschrak und einen Schritt zurückwich. Doch er fasste sich schnell. Stoff bewegte sich nicht von allein, irgendeine Kraft musste dafür gesorgt haben. Wahrscheinlich ein Muskel. Der Muskel eines Tiers. Oder der Muskel eines Menschen.
Eines Menschen?
War es möglich, dass ein Mensch in diesem stinkenden, widerwärtigen Abgrund vor sich hinvegetierte? Er beugte sich hinunter und leuchtete mit der Laterne das Bündel Stoff ab. Der Stoff war einmal rot gewesen, rot und schwarz. Nein, das Schwarze war kein Stoff, es waren – Haare.
»Kannst du mich hören?«, rief Vitus. »Wer hat dich hier eingeschlossen? Wie lange steckst du schon in diesem Loch?«
Die Antwort blieb aus, und Vitus schalt sich ob seiner vielen Fragen, denn dieser Mensch hatte sicher andere Sorgen, als seinen Wissensdurst zu stillen. »Ich helfe dir.« Er stellte die Laterne ab, kniete nieder und hob den Kopf des Menschen an, bis dieser in seiner Armbeuge lag. Dann drehte er den Kopf behutsam zu sich, damit er das Gesicht sehen konnte.
Was er sah, war kein Gesicht.
Was er sah, war ein mit Haut überspannter Totenschädel, aus dem ihn zwei Augen wie Fremdkörper anstarrten.
Er hatte schon vieles erlebt, aber nie zuvor war ihm ein so grauenerregender Anblick begegnet.
»Mein Name ist Vitus von Collincourt«, sagte er rauh, »ich bin Schiffsarzt und Cirurgicus hier an Bord. Dein Leiden ist zu Ende. Wenn du mich verstehen kannst, sage irgendetwas, oder gib mir ein Zeichen.«
Kaum merklich senkten sich die Augenlider.
»Gut. Dein Leiden ist zu Ende«, wiederholte Vitus. »Ich trage dich nach oben. Nie wieder sollst du lebendig begraben sein.«
Er hob das Bündel Mensch auf und trug es gebückt zur Luke, wo er es mit einiger Anstrengung nach oben durch die Öffnung stemmte. Nachdem er selbst hinaufgeklettert war, trug er seinen Fund zum Operationstisch, um ihn zu untersuchen. Er hatte sich noch keine Gedanken gemacht, ob es sich bei dem Menschen um einen Mann, eine Frau oder ein Kind handelte, doch nun löste sich ein Zipfel des roten Stoffs, und ein schwarzes krauses Dreieck zwischen den Beinen sagte ihm, dass er es mit einer Frau zu tun hatte.
Das bedeutete, die Untersuchung würde schwierig werden. Der Anstand gebot, dass er sich nur den Kopf, die Schultern, die Arme und den unteren Teil der Beine ansehen durfte. Aber es gab noch eine andere Schwierigkeit: Mahon und seine Männer. Sie mussten jeden Augenblick hereinkommen, um den Ballast des Schiffs nach Kugeln zu durchsuchen. Das würde Unruhe, Lärm und neugierige Fragen mit sich bringen.
Was konnte er dagegen unternehmen? Nichts, die Suche nach den Kugeln musste sein, Befehl des Kapitäns. Aber er konnte die Frau nach oben in Doktor Halls Kammer tragen, wo die Luft ohnehin besser war. Dort konnte er sie mit der gebotenen Zurückhaltung untersuchen und erste Schritte zu ihrer Genesung einleiten. Alles andere würde sich finden.
Abermals hob er die Frau hoch und trug sie hinauf in die oberen Decks, wobei er überlegte, was er antworten sollte, wenn ihn jemand fragte, was er da habe. Aber es begegnete ihm niemand, und wenig später öffnete er schwer atmend mit einer Hand die Tür zur Kammer, wo er seine Last in einer der freien Kojen ablegte.
»So, das wär geschafft. Willst du einen Becher Wasser?«
Die Frau antwortete nicht, aber ihre Augen sahen ihn an. Er hätte nicht zu sagen vermocht, warum, aber irgendwie kam ihm ihr Blick hochmütig vor, was natürlich Unsinn war. Er holte einen Becher und einen Krug, goss Wasser ein und nahm den Kopf der Frau in seine Armbeuge, so wie er es schon einmal getan hatte. Er flößte ihr ein paar Tropfen ein und beobachtete, wie sie mit geschlossenen Augen trank. Als sie fertig war, sah sie ihn wieder an.
»Du wirst bald wieder unter den Lebenden weilen«, sagte er. Wie ist dein Name?«
Die Frau antwortete nicht.
»Ich bin Vitus von Collincourt, aber alle nennen mich nur Cirurgicus oder Sir.«
Die Frau schwieg.
Vitus zuckte mit den Schultern. Wenn er es recht bedachte, interessierte ihn der Name der Frau viel weniger als ihr Gesundheitszustand. Mit den Augen des Arztes musterte er Zoll für Zoll ihren Kopf. Er sah verwahrlost aus. Die schwarzen Haare waren ein schmutziges, schmieriges, verfilztes Gewirr, das zu einer Behausung von Läusen und Asseln geworden war. Die Augen, die ihn noch immer unverwandt ansahen, waren eisgrau – und strahlten eine Lebendigkeit aus, die nicht zu der übrigen Verfassung der Frau passte. Die Jochbeine standen stark hervor und wiesen Zeichen von Einblutungen auf. Die wächserne Farbe der Haut wurde unterbrochen von Flechten und Schrunden. Immerhin, die Nase schien unversehrt zu sein, obwohl sie von der Natur mit einer leichten Krümmung versehen worden war. Die Lippen waren schmal, spröde und rissig. Vitus spreizte sie auseinander und untersuchte die Zähne. Von den oberen Schneidezähnen fehlte der linke, er war kurz über dem Zahnhals abgebrochen, vielleicht auch herausgeschlagen worden. Von den unteren Schneidezähnen fehlten zwei. »Zeig mir deine Zunge.«
Die Frau tat, als gäbe es ihn nicht.
»Ich möchte deine Zunge sehen.«
Die Frau drehte den Kopf zur Seite.
Vitus wurde energisch, er packte das Kinn der Frau und drehte ihren Kopf wieder zu sich. »Hör gut zu, Lady Unbekannt, du zeigst dich ziemlich störrisch. Warum, weiß ich nicht, dein Zustand jedenfalls gibt dir keinerlei Anlass dazu. Ich werde dir jetzt etwas in aller Deutlichkeit sagen: Du könntest das starrsinnigste, hochnäsigste, verkommenste, niederträchtigste, wertloseste, gemeinste Stück Mensch auf dieser Welt sein, es würde mich nicht interessieren. Ich würde dich dennoch untersuchen, und ich würde dir dennoch helfen, weil ich Arzt bin. Ich bin Arzt aus Leidenschaft. Also mach keine Faxen, sperr den Mund auf, damit ich deine Zunge sehen kann.«
»Mierda!«
»Oh, du kannst auf einmal sprechen! Habe ich da ein Wort gehört? Das spanische Wort für Scheiße? Oder heißt du am Ende Mierda?«
Die Frau sagte nichts, aber ihre Augen sprühten vor Zorn.
»Nun, vielleicht verrätst du mir irgendwann deinen richtigen Namen, Leben scheint jedenfalls genug in dir zu stecken«, sagte Vitus auf Spanisch. Er zwängte der Frau die Zähne auseinander und betrachtete die Zunge und den Rachenraum. »Das sieht ganz zufriedenstellend aus. Soll ich weiter spanisch sprechen? Wäre dir das lieber?«
Die Frau antwortete nicht, aber das kannte Vitus bereits. »Ich will deine Schultern und deine Arme untersuchen, am liebsten auch deinen Oberkörper, um zu sehen, ob du irgendwelche Frakturen oder Prellungen hast. Nein, keine Angst, ich komme dir nicht zu nahe. Was ist das denn?«
Vitus zog ein Stück Papier zwischen den Falten des verschmutzten Kleiderstoffs hervor, und die Frau wollte danach greifen. Es war die erste Bewegung, die sie machte.
»Keine Angst, ich nehme dir nichts weg.« Vitus betrachtete die Zeichnung auf dem Papier und erkannte zwei Köpfe. Einer stellte zweifellos seine Patientin dar, bei dem anderen handelte es sich um einen Männerkopf. Vitus meinte, die Gesichtszüge schon einmal gesehen zu haben, brachte aber keinen Namen damit in Verbindung. Er legte die Zeichnung beiseite und beschäftigte sich mit den Händen und den Füßen der Frau. Die Nägel waren schmutzig und sehr lang, sie machten den Eindruck, als wären sie über Monate hinweg nicht geschnitten worden. Dann sah er der Frau abschließend unter die Arme. Die Härchen in den Achseln schienen – im Gegensatz zum Haupthaar – keinen Bewohnern Quartier zu bieten. »So weit scheint alles in Ordnung zu sein. Bleibt die Frage, ob du Schmerzen, Jucken, Stechen oder sonstige Beschwerden im Unterleib spürst. Wie steht es damit?«
Die Frau versuchte wieder, nach dem Papier mit den Köpfen zu greifen. Vitus gab es ihr. »Wenn du mir schon die Antwort schuldig bleibst, hoffe ich, dass du an dem genannten Ort ohne Probleme bist. In diesem Fall brauchst du nur einen Zuber mit Wasser, Seife und eine Schere. Und natürlich kräftigende Nahrung, allerdings in wohldosierter Form, weil du sonst alles gleich wieder von dir gibst.«
Er ging zu seiner Kiepe und entnahm ihr eine Schere. »Als Erstes werde ich dir die Haare abschneiden. Es ist die einzige Möglichkeit, rasch und wirksam das Ungeziefer loszuwerden.«
Die Augen der Frau weiteten sich vor Schreck. »No! No!«
»Es muss sein. Hast du in meinem Behandlungsraum den Tisch mit den Haltegurten gesehen? Wenn du dich wehrst, werde ich dich nach unten tragen und dort festschnallen. Du kannst es dir aussuchen. Also?«
Die Frau schien nachzugeben, sie schloss die Augen wieder. Vitus machte ein paar große Schnitte mit der Schere, was nicht sehr gekonnt aussah, aber wirksam war. Nach kaum zwei Minuten standen der Frau nur noch Stoppeln auf dem Kopf. Sie sah überraschend männlich aus. »So, Lady Unbekannt, ich lasse dich einen Augenblick allein. Bin gleich wieder da.«
Vitus strebte zum Bug des Schiffs, wo er den Zwerg bei der Feuerstelle traf. »Hallo, Zwerg, wie geht’s?«
»Wui, wui, recht knäbbig, un wie strömt’s selbst?«
»Danke.« Vitus erzählte von der Frau, denn er wusste, dass Enano schweigen konnte, besonders, wenn man ihn ausdrücklich darum bat. »Ich will, dass der Captain der Erste ist, der von der Frau erfährt, jedenfalls soll er das glauben. Verstehst du das?«
»Wui, wui.«
»Gut, du Wicht. Du weißt doch, dass ich in Doktor Halls Kammer einen Zuber habe, den ich hin und wieder zum Baden benutze. Ich will, dass die Frau sich säubert, deshalb brauche ich heißes Wasser, am besten gleich mehrere Eimer voll.«
»Wiewo, alle Welt will heißen Plempel.«
»Wie meinst du das?«
»Nix, nix, Örl. Kannst den Plempel haben.«
Der Winzling besorgte vier Holzeimer, die er mit Vitus’ Hilfe aus dem großen Kessel befüllte. »Wui, wui, ’s wird die Schickse lenzen, wennse im Plempel sitzt, komm, ich helf dir karrieren.«
Gemeinsam trugen sie die Eimer nach achtern. Vor Doktor Halls Kammer sagte Vitus: »Danke, Zwerg, du bist ein guter Freund.«
»Gickgack, Blausinn!« Der Winzling stieß die Tür auf und watschelte mit den Eimern hinein. »Glatten Schein, schöne Schickse, Enano is der Name, sollst plempeln, hat der Örl gesacht. Nu, nu, mach zu!«
Die Augen der Unbekannten weiteten sich vor Schreck angesichts des buckligen Gnoms und seines mit rotwelschen Brocken durchsetzten Spanisch, doch schien er etwas an sich zu haben, das sie gleich darauf beruhigte.
Das Fischmündchen redete weiter: »Kommst aus der Krax, wie? Nu prassel dir die Plauz schön. Enano is gleich wieder wech. Wie war noch der werte Name?«
»Isabella.«
»Wui, wui, is’n schöner Name für’n schönes Pupperl, ›Isabella von Kastilien hat zwei Brüste, weiß wie Lilien‹, so heißt’s wohl. Nu plempel schön, wenn noch was is, sachste Bescheid.«
Der Zwerg hüpfte hinaus.
Vitus sah ihm staunend hinterher. Dann füllte er das Wasser in den Zuber. »Ich freue mich, dass du etwas, äh, zugänglicher zu werden scheinst, Isabella. Du hast gehört, was der Zwerg gesagt hat. Bade ausgiebig und reinige dich. Fühlst du dich dazu schon in der Lage? Ja? Nein? Keine Antwort ist auch eine Antwort, ich nehme dein Schweigen als Bejahung. In meiner Kiepe findest du Seife und ein paar Kleider. Sie werden dir zu groß sein, aber sie sind sauber. Krempel die Hosenbeine und die Hemdsärmel hoch, dann wird es schon gehen. Ich lasse dich jetzt allein. Ich muss zu Captain Taggart und melden, dass ich dich gefunden habe.«
»No!« Der Ausruf Isabellas war fast ein Schrei.
»Nein?« Vitus wunderte sich. »Was kannst du dagegen haben, wenn ich zum Captain gehe?«
»No, por favor!« Isabella hob flehend die Hände.
Vitus, der schon halb in der Tür gestanden hatte, kam noch einmal zurück. »Du musst mir schon einen guten Grund nennen, damit ich dem Captain dein Auftauchen verschweige.«
Isabellas Hände verkrampften sich, zitterten plötzlich, begannen zu flattern. Sie schienen Ausdruck eines inneren Kampfs zu sein. »Más tarde! Por favor …«
»Nun gut, ich weiß nicht, warum ich es tue, aber ich verspreche es.«
Schulterzuckend verließ Vitus Doktor Halls Kammer.
Taggart stand hoch oben auf dem Kommandantendeck und war seinem Schöpfer gleich doppelt dankbar. Zum einen, weil der Schmerz in seinen Knien sich heute ertragen ließ, zum anderen, weil prachtvolles Wetter herrschte. Der freie Blick über die graugrüne See und die sich im ewigen Gleichklang auftürmenden Wellen, der stampfende Bug, der die Wogen durchteilte, der Wind, der die Segel blähte und die Takelage zum Singen brachte, Mahons und Reffles’ Männer, die an Backbord und Steuerbord die Kanonen richteten und Kugeln zum Probeschießen herbeischafften, die emsige Betriebsamkeit, die allerorten herrschte – das alles beseelte ihn mit Glück.
»Ein Mann auf Kommandantendeck, Sir?«
Taggart sah zum Niedergang und entdeckte Vitus. »Genehmigt, kommt herauf, Cirurgicus.«
»Danke, Sir.« Vitus stellte sich neben Taggart und genoss wie dieser die herrliche Aussicht. »Wie ich sehe, scheint sich die Suche im Ballast des Schiffs gelohnt zu haben, oder woher kommen die Kugeln dort unten?«
Taggart schnaufte. »Ganze siebenundzwanzig Stück haben Mahon und Reffles mit ihren Männern aufgetrieben, und von den siebenundzwanzig passen nur zwölf in unsere langen Culverines. Immerhin, ich habe die Freiwache angewiesen weiterzusuchen und die Erlaubnis erteilt, dass alles, was gefunden wird, auch verschossen werden darf.« Taggarts schiefe Gesichtshälfte produzierte ein Grinsen. »Mahon und Reffles sind mir dafür fast um den Hals gefallen. Sie konnten sich gerade noch beherrschen, der Disziplin sei Dank. Überhaupt ist die Disziplin an Bord recht ordentlich geworden, fast schon so straff wie früher, aber man soll den Tag nicht vor dem Abend loben.« Taggart verstummte, weil er eigentlich nichts von langen Reden hielt und sich schon schwafelig vorkam.
»Das hört sich gut an, Sir. Und was sagen Eure Knie zu alledem?«
»Sie verhalten sich ruhig, Cirurgicus. Oder sagen wir: ziemlich ruhig. Denn ein bisschen zwicken sie schon noch.«
Vitus freute sich. »Die Hanfabsätze haben sich also bewährt. Schön wäre, wenn ich Euch in diesem Zustand Brennnesselsaft zur regelmäßigen Einnahme verordnen könnte, aber ich habe nur Brennnesseltee. Wenn Ihr ein Übriges tun wollt, Sir, solltet Ihr weniger stehen und dafür mehr gehen. Ich schlage vor, fünf Schritte auf, fünf Schritte ab. Bewegung ist das A und O für Eure Knie. Ihr merkt es sicher auch beim Aufstehen: Zunächst sind die Beschwerden da, aber nach einiger Zeit habt Ihr Euch eingelaufen, und die Schmerzen klingen ab, richtig?«
»Richtig, richtig, Cirurgicus … He, Mahon, he, Reffles! Macht Euren Männern Beine, bald ist Weihnachten, und ich warte noch immer auf Feuerbereitschaft! … Aber das mit dem Gehen kommt nicht in Frage. Abgelehnt! Wenn ich hier oben herumliefe wie ein aufgescheuchtes Huhn, bekäme ich nichts mit. Ich muss sehen, was an Bord passiert, sonst könnte ich mich gleich in die Koje legen.«
»Aye, Sir.«
»Ich würde zum Beispiel nicht mitkriegen, ob Mahon oder Reffles mit ihren Crews in der Lage sind, das Übungsziel dahinten zu treffen.«
Vitus schaute in die angegebene Richtung und erkannte ein floßähnliches Gebilde mit aufgeriggtem Mast und Segel. »Das ist aber sehr weit entfernt, Sir!«
»Fast fünfhundert Yards, Cirurgicus. Mal mehr, mal weniger, je nach Wellen und Wind. Wir schleppen das Ziel an einer Leine mit, damit es nicht abtreibt. Aber die Leine kann jederzeit brechen, weil die Entfernung so groß ist, wie Ihr schon richtig bemerktet.«
»Aber warum die große Distanz, Sir?«
Taggart schien zu überlegen, wie er es am besten ausdrücken sollte. Dann sagte er: »Wir müssen den Vorteil unserer langen Culverines nutzen, Cirurgicus. Sie sind ungewöhnlich weittragend, und wenn sie treffen, halten wir uns damit die stärksten Gegner vom Leibe. Stellt Euch vor, uns gelänge das nicht, und es käme zum Enterkampf. Fünfzig oder hundert oder noch mehr der verdammten spanischen Seesoldaten würden sich dann auf unsere Decks ergießen und unsere paar Männer im Handumdrehen abschlachten. Ihr seht also, wir tun gut daran, uns nicht nur auf unsere Schnelligkeit zu verlassen, sondern auch auf unsere weitreichenden, eisernen Grüße.« Taggart schnaufte. Er fand, er hatte schon wieder zu viel geredet.
»Wann beginnt denn das Probeschießen, Sir?«
»Es hätte eigentlich schon längst im Gange sein sollen, aber Mahon und Reffles haben mir gesagt, die gefundenen Kugeln wären allesamt verrostet, sie müssten gereinigt und geschliffen und was weiß ich noch alles werden, bevor sie eingesetzt werden können. Fassen wir uns also in Geduld.«
»Aye, Sir, fassen wir uns in Geduld.«
Odder hatte sich fest vorgenommen, dass heute der Tag sein sollte, an dem die Frau ihm verriet, wer sie war. Er fand das wichtig, denn immer, wenn er an sie dachte, spürte er, dass ihm ihr Name fehlte. Mit Namen war es seltsam. Er hatte einmal eine Frau gekannt, die Bridget hieß, und Bridget war sehr hässlich gewesen. Fortan hatte er immer, wenn dieser Name fiel, ein unansehnliches Gesicht vor Augen gehabt – bis er eines Tages einer Frau begegnete, die ebenfalls Bridget hieß und berückend hübsch aussah. Da war etwas Komisches passiert, denn von dem Tag an verband er nur angenehme Gedanken mit diesem Namen. Eine Frau konnte also einen Namen schön machen … Ob die Frau im Versteck wohl auch ihren Namen schön machen konnte? Bestimmt konnte sie das.
Sie musste ihn nur verraten.
Da niemand besser als Odder wusste, dass Alkohol geschwätzig machte, hatte er gleich zwei Kannen Wein dabei, als er sich auf den Weg zu der Frau machte. Er hatte auch etwas Essbares in der Tasche, aber eigentlich nur der Form halber, denn Nahrung löste die Zunge nicht.
Als er mit seiner Last in die Tiefen des Schiffs hinuntergekraxelt war, musste er erst einmal verschnaufen, denn er war nicht mehr der Stärkste, und zwei Kannen Wein hatten ihr Gewicht. Er stand vor der Tür und blinzelte im trüben Schein der ebenfalls mitgeführten Laterne. »Is die Tür nu auf oder nich?«, fragte er sich, um dann selbst die Antwort zu finden: »Ich glaub, sie is auf, aber’s kann eigentlich nich sein, hatt sie doch zugesperrt, ja doch, zu war sie, un nu is sie auf.«
Er schluckte vor Aufregung, und dabei merkte er, dass er nur Speichel im Mund hatte und dass dieser Zustand geändert werden musste. Er trank einen kräftigen Schluck aus einer der Kannen und fühlte sich gleich besser. Auch das Denken fiel ihm leichter. »Wenn die Tür auf is, is die Frau wech«, sagte er. »Abgehauen, verduftet, über alle Berge. Oder die Tür is auf, un die Frau is nich wech, weil se noch da is, weil se auf mich gewartet hat, weil ich ihr’n Bild gemalt hab, dass wir zusammengehörn. Aber wer hat die Tür aufgemacht, das kann die Frau nich gewesen sein, ’s muss von außen passiert sein, am besten, ich frach die Frau mal.«
Als Odder mit seinen Überlegungen so weit gediehen war, fiel ihm wieder ein, dass er den Namen der Frau nicht kannte. Es wurde wirklich höchste Zeit, ihren Namen zu erfahren, und es würde am besten sein, das Verlies jetzt gleich zu betreten.
»Achtung, ich komm. Hör mal, das mit der Tür is aber ’ne Sache. Nanu, du bist nich da? Komisch, dein Eimer is doch noch da un das Stroh un alles.« Odder trank einen weiteren Schluck und setzte sich erst einmal.
Langsam wurde ihm klar, dass die Frau tatsächlich fort war. Und was das für ihn bedeutete. Trennungsschmerz stieg in ihm hoch, Angst, Verzweiflung, Einsamkeit, und er tat das, was alle Säufer tun, die sich verlassen fühlen: Er trank einen kräftigen Schluck. Der Schluck war vielleicht ein wenig zu kräftig gewesen, denn Odder fiel um. Aber er behielt die Besinnung. Und weil das so war, trank er noch einen kräftigen Schluck. Und noch einen. »Nu geht’s«, sagte er, und weil sein Körper vom Alkohol so sehr geschwächt war, lehnte er sich an die Wand. Das war bequemer, und es trank sich auch leichter. »Ich seh dich, ich seh dich genau«, murmelte er. »Du hast mein Bild inner Hand, ’s is das Bild von dir un mir, un ich will jetzt deinen Namen wissen. Sach mir’n Buchstaben, mit dem er anfängt. B? Hastu B gesacht? Hihi, B wie Buchstabe, das is lustich. B … B … Is gut, Bridget, ich wusste, dass de so heißt, ich wusst’s schon beim ersten Mal.«
Odder nahm einen kräftigen Schluck. Es war bereits die zweite Kanne, die er sich an den Mund setzte. »Un nu bist du hier un heißt Bridget, oh, Bridget …«
Odder wollte noch mehr sagen, aber ein großer Schwindel erfasste ihn, und sein Herz klopfte plötzlich sehr unregelmäßig. Er wollte noch einen Schluck trinken, aber es war ihm nicht mehr vergönnt. Seine Organe hatten ihren Dienst eingestellt. Sein Körper hatte den Kampf gegen den Alkohol aufgegeben.
»B … Bridget …«
»Feuerbereitschaft hergestellt, Sir!«, meldete Mahon zum Kommandantendeck herauf. »Drei Culverines geladen und auf Übungsziel ausgerichtet.«
»Na endlich!«, bellte Taggart. »Wir versuchen es mit Einzelfeuer, für Salven fehlen uns die Kugeln! Lasst nach eigenem Ermessen feuern, Mahon.«
»Aye, aye, Sir.« Der Stückmeister eilte zurück zu seinen Männern.
Taggart steckte die Nase in den Wind. »Es braut sich was zusammen, Cirurgicus, die Dünung wird höher. Mahon wollte unter erschwerten Bedingungen üben, vielleicht werden sie bald schwerer sein, als ihm lieb ist.«
»Aye, Sir.«
»Bei allen Suppenschildkröten, ich höre nichts! Wird’s bald?«, brüllte Taggart zu den Crews hinunter.
»Feuer!« Das war Mahons Stimme.
Ein donnernder Schuss löste sich, die Falcon krängte leicht, und Taggart schaute wie gebannt auf das entfernte Ziel. »Komm schon, komm«, knurrte er.
»Daneben«, sagte Vitus bedauernd.
»Das weiß ich selbst!« Taggart schluckte seine Enttäuschung hinunter. »Weitermachen, Männer, ich will Treffer sehen!«
Der nächste Schuss ging ebenfalls vorbei.
Und der übernächste auch.
Taggart brauchte seine ganze Kraft, um nicht vor Ärger zu platzen. Äußerlich ruhig, rief er: »McQuarrie, wo seid Ihr?«
»Hier, Sir!« McQuarrie eilte herbei.
»Lasst halsen, alles, was Hände hat, an die Brassen. Jetzt ist Reffles mit seinen drei Crews dran. Reffles!«
»Aye, Sir! Feuerbereitschaft der Steuerbord-Culverines hergestellt.«
»Ausrichten, sobald McQuarrie das Manöver beendet hat. Nach eigenem Ermessen feuern!«
»Aye, aye, Sir!« Reffles verschwand.
Taggart stand da, zur Untätigkeit verdammt. Vitus wollte ihn etwas aufmuntern und sagte: »Bei der See ist es wirklich nicht einfach, Sir.«
»Pah! Wir können uns weder das Wetter noch den Feind aussuchen, oder meint Ihr, ich könnte zu den Dons sagen: ›Hört mal, Leute, die See geht ziemlich hoch, sollen wir nicht lieber warten, bis sie wieder glatt ist, damit meine Crews euch besser treffen können?‹«
»Natürlich nicht, Sir. Aber wir dürfen uns immer noch auf unsere Schnelligkeit verlassen.«
»Feuer!« Jetzt versuchte Reffles sein Glück, aber es war ihm nicht hold. Der Schuss ging daneben.
Der nächste traf das Übungsziel, stanzte aber nur ein Loch in das Segel.
Der dritte und letzte Schuss ging wieder daneben.
Taggart schäumte. Er steckte wahrhaft in der Klemme. Dies war eine Situation, die nur durch häufiges und scharfes Üben verbessert werden konnte – und dazu fehlte es ihm an Munition. »Mister McQuarrie, ich will, dass jeder Mann, der einigermaßen entbehrlich ist, sich zusätzlich auf die Suche nach Kugeln macht. Wir brauchen Kugeln für die langen Culverines, Kugeln, Kugeln, Kugeln – und wenn wir jeden Quadratfuß des Ballasts durchpflügen müssten!«
»Aye, aye, Sir!« McQuarrie eilte davon.
»Tja, Sir«, sagte Vitus, der an die neue Bewohnerin seiner Kammer denken musste, »auch ich muss fort, habe, äh, noch einige Dinge zu erledigen.«
Taggart knurrte nur.
Da er nicht wusste, was ihn erwartete, öffnete Vitus die Tür zu Doktor Halls Kammer sehr behutsam und fragte: »Darf ich hineinkommen?«
Die Antwort blieb aus.
»Nun gut, ich nehme an, du sitzt nicht mehr im Zuber.« Vitus trat ein und sah, dass dies tatsächlich nicht mehr der Fall war. Isabella saß auf ihrer Koje, nackt, wie Gott sie erschaffen hatte, die Beine hochgezogen und wütende Blicke um sich werfend. Der Grund dafür war offenbar der Zuber. Er lag auf der Seite und sein Inhalt hatte sich über den gesamten Boden der Kammer verteilt. Es bedurfte keiner großen Phantasie, um sich auszumalen, dass Isabella in dem Zuber gesessen hatte und durch die immer höher gehende See umgeworfen worden war.
Vitus lachte. »Wasser hat keine Balken! Ich hoffe, es ist dir nichts weiter passiert?«
»Culero!«
»Wie bitte, du sagst Arschloch zu mir? Das will ich überhört haben.« Vitus wurde ernst. »Ich verstehe, dass du unten im Schiff Schreckliches durchgemacht haben musst, aber das ist noch lange kein Grund, mich zu beschimpfen. Irgendwer muss dich dort eingesperrt haben. Irgendwer, der dir Böses wollte. Warum? Ich weiß es nicht. Willst du es mir sagen?«
Isabella schwieg.
Vitus sah sie an und bemerkte, dass ihr Kinn zu zittern begann. »Dir ist kalt, du klapperst mit den Zähnen, höchste Zeit, dass du etwas auf den Leib bekommst!« Er ging zu seiner Kiepe und entnahm ihr leinene Leibwäsche, eine einfache Hose aus Blautuch und ein weißes Hemd mit Knöpfen aus Holz. »Das dürfte alles zu groß für dich sein, aber – wie ich schon sagte – was zu lang ist, krempelst du einfach um. Hier, fang.«
Er warf ihr die Kleider zu und stellte mit Befriedigung fest, dass sie auf den Bewegungsreiz prompt reagierte und die Sachen auffing. »Zieh dich an, ich drehe mich derweil um.«
Er wandte ihr den Rücken zu und wartete. Als nichts geschah, wiederholte er: »Zieh die Sachen an, oder ich tue es!«
Endlich hörte er hinter sich ein Rascheln und Nesteln und dann den Ausruf: »Mierda!«
Noch immer von ihr abgewandt, sagte er: »Ich nehme an, deine Missfallensäußerung bezieht sich auf das Aussehen deiner neuen Kleider. Du solltest nicht undankbar sein. Lieber den Spatz in der Hand, als die Taube auf dem Dach. Más vale pájaro en mano que ciento volando.«
»Mierda!«
»Du bist ziemlich kratzbürstig.« Vitus drehte sich um – und musste abermals lachen. Seine Besucherin saß auf der Koje und schien in den viel zu großen Kleidern zu ertrinken.
»Idiota!«
Er achtete nicht auf sie und krempelte ihr die Ärmel ein Stück weiter hoch. Sie hatte sich die Fingernägel gereinigt und geschnitten. Er sah es mit Wohlgefallen. »So mag es gehen. Aber was machen wir jetzt mit dir? Hierbleiben kannst du jedenfalls nicht. Ich werde mit dem Captain sprechen, ob für dich noch irgendwo eine Kammer frei ist. Ich muss sowieso mit ihm reden.«
»No, no!«
»Hör mal, Isabella, kannst du noch etwas anderes sagen, außer ›Scheiße‹, ›Arschloch‹, ›Idiot‹ und ›nein‹?«
Isabella schwieg. Demonstrativ schaute sie an Vitus vorbei und aus dem Fenster.
»Das wird mir jetzt zu dumm.« Vitus wandte sich zur Tür. »Ich rede jetzt mit dem Captain, was mit dir geschehen soll.«
»No!« Isabella wollte aufspringen und ihn aufhalten, aber sie war noch so entkräftet, dass sie der Länge nach auf die Decksplanken schlug.
»Um Gottes willen, ist dir etwas passiert?« Vitus eilte zurück und hob sie auf. »Bist du verletzt? Lass mal sehen. Gottlob, nein. Was ist nur in dich gefahren? Immer, wenn ich zum Captain will, reagierst du völlig überspannt. Das musst du mir erklären.« Er legte sie in die Koje zurück.
Eine Weile verging.
»Ich warte«, sagte Vitus.
Wieder verging eine Weile.
Vitus stand auf und ging zur Tür.
»No, no!«
»Herrgott im Himmel, jetzt ist aber Schluss!« Vitus fiel ein, dass Isabella aller Wahrscheinlichkeit nach Spanierin war, deshalb fuhr er auf Spanisch fort: »Wenn du mir irgendetwas zu sagen hast, sage es jetzt. Es ist deine letzte Chance, sonst gehe ich zum Captain.«
»Du … du sprichst meine Sprache gut«, sagte Isabella stockend.
Endlich hatte sie einen Satz herausgebracht! »Ich bin in Spanien aufgewachsen, ich spreche deine Sprache so gut wie du.« Vitus wollte es dabei belassen, doch weil er noch immer verstimmt war, fügte er hinzu: »Vielleicht sogar besser als du, denn ich verbrachte meine Jugend im Kloster Campodios und studierte die Artes liberales.«
Isabella schwieg.
»Sprichst du kein Englisch?«
»Ich hasse alle Engländer!«
»Dafür muss es einen Grund geben.«
Wieder verging eine Weile. Vitus wartete, diesmal geduldiger, denn er hatte das Gefühl, das Eis sei gebrochen.
»Ich heiße Isabella del Pilar y Ribera.«
»Aha, nun gut.« Vitus setzte sich Isabella gegenüber und schaute ihr prüfend in die Augen. Sie hielt seinem Blick stand. Er stellte fest, dass erneut ein Funke Hochmut in ihnen glomm. Mit einiger Phantasie, dachte er, lässt sich erahnen, wie du in besseren Tagen ausgesehen hast. Herrisch, stolz, unnahbar. Nicht wenig davon ist auch heute noch zu spüren. Und dennoch: Die Vorstellung, dass du als junge Adlige aus dem Haus Pilar y Ribera ausgerechnet in den dreckigsten Bilgenraum von Taggarts Falcon verschlagen wurdest, fällt schwer.
Er beschloss, die Frau auf die Probe zu stellen. »Es gibt eine berühmte spanische Adelsfamilie, die mit der deinen verwandt ist. Weißt du, welche ich meine?«
»Meine Familie ist mit den edelsten Geschlechtern Spaniens verwandt, aber ich vermute, du meinst die Guzmáns.«
Vitus horchte auf. »In der Tat, die meine ich.«
»Ich bin eine Nichte des siebten Herzogs von Medina Sidonia, Alonso Pérez de Guzmán El Bueno!«
Die Behauptung kam so selbstsicher, dass sie wahrscheinlich stimmte. Aber Vitus fand, dass sie ein wenig zu selbstsicher daherkam, deshalb sagte er: »Das mag sein. Allerdings siehst du im Moment kaum danach aus.«
»Einen Wundschneider der englischen Marine hatte ich mir auch anders vorgestellt.«
»Lassen wir das Geplänkel. Warum hasst du alle Engländer?«
Isabella schwieg.
»Oder wäre es der Señorita genehmer, wenn ich fragen würde: Warum hasst Ihr alle Engländer?«
»Du tätest gut daran, mich meinem Stand gemäß anzusprechen – auch wenn ich dir zu einem gewissen Dank verpflichtet bin.«
Aha, dachte Vitus, kaum ist die Dame dem Schlimmsten entronnen, trägt sie die Nase schon wieder hoch. Sie muss zäh sein wie Leder, sonst würde es ihr nicht schon wieder so gutgehen. Das Bad scheint ihr wohlgetan zu haben. Sie sieht etwas rosiger aus. Eigentlich sogar recht anziehend, wenn man von den schmalen Lippen absieht. Nun, das mag sich ändern, wenn sie nicht mehr so mager ist. Ich muss noch etwas für ihre Haut tun. Die Flechten und Unreinheiten sind rauh und trocken, sie müssten also mit feuchter Arznei behandelt werden, so sagen es die alten Meisterärzte. Am besten mit Molke. Aber ich habe natürlich keine. Wieso ärgere ich mich eigentlich ständig über sie? Ich will mich nicht ärgern. Sie ist nicht mehr als ein eingebildetes junges Ding. Höchstens zwanzig Jahre alt. Wahrscheinlich ihr ganzes bisheriges Leben verzogen und verhätschelt und in einem goldenen Käfig aufgewachsen. Hat noch nie im Leben etwas geleistet und bildet sich sonst was ein. »Vielleicht sollten wir es doch beim Du belassen«, sagte er laut. »Und sozusagen auf gleicher Ebene miteinander sprechen. Ich stamme aus einem normannischen Geschlecht, bin Vitus von Collincourt, Earl of Worthing.«
»Pah!«
»Du brauchst mir nicht zu glauben. Ebenso, wie du mir nicht sagen musst, warum du alle Engländer hasst. Ich gehe jetzt zum Captain …«
»No, no, por favor!« Isabella rang die Hände.
Vitus schüttelte den Kopf. »Du bist eine seltsame junge Frau, mal hochmütig, mal verzweifelt und bemitleidenswert. Ich werde aus dir nicht schlau. Aber beruhige dich. Ich gehe nur zum Captain, um mit ihm das Abendessen einzunehmen. Für heute will ich deine Anwesenheit an Bord verschweigen. Du brauchst Schlaf und gesunde Kost, damit du wieder auf die Beine kommst. Das ist zunächst das Allerwichtigste. Ich werde Enano bitten, dass er dir etwas bringt. Und nun entschuldige mich.«