Der Verwalter Catfield
»Ich habe Hartford schon gejagt, Mylord. Ich wollte, dass er für seine Schandtat büßt.«
Liebste?« Vitus konnte nicht glauben, was seine Augen sahen. Das Ehebett war leer, als wäre es nie benutzt worden. Die Decke war glattgezogen, die Kissen lagen an ihrem Platz. Nochmals leuchtete er, als könne er dadurch das Bild vertreiben und Nina herbeizaubern.
Doch es änderte sich nichts. Sie war nicht da.
Er versuchte, das ungute Gefühl, das in ihm aufkeimte, nicht zu beachten und sagte sich, dass es sicher eine einfache Erklärung gäbe. Aber welche? Noch niemals hatte es eine Nacht gegeben, in der Nina nicht in dem gemeinsamen Bett geschlafen hätte – die Kinder immer in unmittelbarer Nähe.
Die Kinder!
Er lief in die benachbarten Räume und schaute nach. Nein, sie waren wie vom Erdboden verschwunden. Auch Hartford, der eine der angrenzenden Kammern bewohnte, schien fort zu sein.
Da stimmte doch etwas nicht!
Er hastete hinunter in den Küchentrakt, wo er den Zwerg am Gesindetisch sitzend antraf. »Enano!«, rief er. »Nina und die Kinder sind fort!«
»Wiewo?« Der Winzling, der sich vor dem Zubettgehen noch rasch aus Mrs.Melroses Speisekammer bedient hatte, legte den gebratenen Hähnchenschenkel beiseite.
»Nina und die Kinder sind fort! Sie sind nicht oben in ihren Gemächern!«
»Wiewo?«, wiederholte der Zwerg, und unerklärlicherweise sagte er weiter nichts, aber dicke Tränen liefen ihm über die Wangen.
»Was ist, warum weinst du?«
»Nix für ungut, dassich flössel, Örl. Kann nix dafür. Hab mir’s schon gedacht, ’s is was Schlimmes passiert, spür’s im Hintergeschirr.«
»Was soll passiert sein? Was weißt du?« Vitus rannte um den Tisch und stieß dabei einen Schemel um.
»Nix, ich weiß nix, spür’s nur im Hintergeschirr.«
»Blitz und Donner, was geht hier vor?« In der Tür stand Mrs.Melrose, die Nachtmütze auf dem Kopf, das Schlafgewand zerknittert und bis zu den schwammigen Knien hochgerutscht. Ihr gewaltiger Busen wogte. »Oh, da ist ja mein kleiner Prinz! Mein Schätzelein! Wieso sagst du mir nicht, dass du zurück bist, ich hätte doch …«
»Genug!« Vitus ging dazwischen. »Wisst Ihr, wo Lady Nina und die Kinder sind?«
Mrs.Melrose besann sich. Es fiel ihr schwer, den Blick von ihrem vergötterten Zwerg abzuwenden. Hinter ihr im Türrahmen erschienen weitere Gestalten. Mägde und Knechte, die verschlafen blickten. Sie stemmte die Arme in die Hüften. »Ja, wisst Ihr denn nicht, was geschehen ist, Mylord?«
»Sonst würde ich nicht fragen.«
»Ja, ja, natürlich. Verzeiht. Mylady und die Kinder wohnen seit Tagen im Haus des Gutsverwalters.«
»Gott sei Dank!« Vitus fühlte grenzenlose Erleichterung. Doch schon im nächsten Augenblick drängten sich ihm weitere Fragen auf. »Warum wohnt Lady Nina dort? Es muss dafür einen Grund geben! Welchen?«
»Nun, äh, Mylord, das ist eine längere Geschichte.«
»Dann will ich sie nicht hören.« Vitus drängte es nach draußen. Er lief hinüber zum Gutshaus, so schnell ihn seine Beine trugen.
Catfield wachte davon auf, dass jemand dröhnend den Türklopfer betätigte. Seit seiner Zeit als Seemann und Offizier hatte er einen leichten Schlaf, und es hätte weit weniger Lärms bedurft, ihn aus seinen Träumen zu reißen. Ein kurzer Blick hinüber zu seiner Frau sagte ihm, dass sie nichts mitbekommen hatte. Wenn Anne einmal schlief, konnten neben ihr Häuser einstürzen, ohne dass sie es hörte. Aber vielleicht war das ganz gut so. Man konnte nie wissen, wer nachts vor der Tür stand.
Sicherheitshalber ergriff er einen festen Knüppel und lief den Gang hinunter zur Tür. Bevor er öffnete, rief er: »Wer ist da?«
»Euer Herr!«
»Mylord?« Catfield schob den Türriegel zurück und machte auf. »Das ist aber eine Überraschung.«
»Wohnt Lady Nina mit den Kindern bei Euch im Gutshaus?«
»Aye, Sir.« Unwillkürlich verfiel Catfield in die Sprache der Königlichen Marine.
»Ich will zu ihnen.«
»Selbstverständlich, Sir.« Catfield versuchte, sich sein Zögern nicht anmerken zu lassen. Bevor Lady Nina die leeren Räume im anderen Teil des Gutshauses bezogen hatte, war viel geschehen. Zu viel nach seinem Geschmack. »Wenn Ihr gestattet, Sir, schicke ich meine Frau zu Ihrer Lordschaft hinüber, damit sie ihr die freudige Botschaft von Eurer Rückkunft übermittelt. Wenn Ihr so lange Platz nehmen wollt?« Er deutete auf einen hochlehnigen Stuhl.
»Danke.« Vitus fasste sich in Geduld, und während er wartete, kreisten seine Gedanken um die seltsame Reaktion des Zwergs. Warum hatte der Wicht geweint? Er spüre etwas »im Hintergeschirr« hatte er gesagt. Was mochte das sein?
Vitus wurde immer unruhiger. Er sprang auf und wanderte hin und her. Wie lange sollte das noch dauern? Es konnte doch nicht so schwierig sein, Nina zu wecken und zu ihm zu bringen!
»Mylord.« Anne, Catfields Frau, stand notdürftig bekleidet vor ihm. »Wenn Ihr mir bitte folgen wollt.«
»Was hat das nun wieder zu bedeuten?« Vitus wurde immer misstrauischer und sorgenvoller.
Anne schien seine Frage nicht gehört zu haben. Sie ging voran, führte ihn auf die andere Seite des Hauses und öffnete eine Tür am Ende des Gangs. Sie steckte den Kopf in den Raum und sagte: »Mylady, hier kommt der Herr.«
»Ja, Liebste, hier komme ich!«, rief er und schob Anne zur Seite, denn seine Geduld war erschöpft. »Endlich sehe ich dich wie …«
Abrupt blieb er stehen. »Liebste …?« Vor ihm saß eine kleine Gestalt an einem einfachen Tisch. Sie wirkte zerbrechlich und fremd, denn sie trug eine Klappe über dem linken Auge und den Arm in der Schlinge. Es war Nina. Sie lächelte scheu.
Langsam dämmerte ihm, warum Catfield so umständlich vorgegangen war: Er hatte Nina die Aufregung eines plötzlichen Wiedersehens ersparen wollen und ihren Ehemann zunächst nur angekündigt, bevor sie ihn leibhaftig zu Gesicht bekam. Braver Catfield!
»Liebste, ich habe mir solche Sorgen gemacht, als ich dich nicht im Schlafgemach vorfand! Kannst du mir sagen, was passiert ist?«
Nina vermied seinen Blick und schwieg. Nach einer Weile deutete sie auf ihr Gesicht.
»Ja, ich sehe die Klappe. Ist dein Auge verletzt? Und dein Arm auch? Warte, ich werde dich sofort untersuchen. Du hast recht, es ist unwichtig, wie das alles geschehen konnte, die Behandlung ist wichtiger.« Er bat Catfield, der in diesem Augenblick dazukam, ihm seine Kiepe mit den Arzneien und Instrumenten aus dem Schloss zu holen, und schickte Anne mit einem kurzen Dank fort.
»Nun sind wir allein, Liebste. Lass mal sehen.« Er wollte die Augenklappe abnehmen, aber Nina ließ es nicht zu. Sie flüsterte irgendetwas.
»Was sagst du?« Er beugte sich vor, um sie besser verstehen zu können.
»Ich … ich bin so hässlich.«
»Es gibt nichts auf dieser Welt, was dich in meinen Augen hässlich machen könnte.« Behutsam löste er die Schnur der Klappe und musste an sich halten, um einen Ausruf des Entsetzens zu unterdrücken. Ninas Augenlider waren von entzündlicher violetter Farbe, nahezu geschlossen und angeschwollen wie ein Ball. Sie ließen sich kaum auseinanderziehen. Es war eine Verletzung, wie er sie schon häufiger gesehen hatte, doch bei Nina kam sie ihm viel schlimmer vor. Unsagbar schlimm. Bemüht, möglichst sachlich zu bleiben, sagte er: »Der Augapfel scheint intakt zu sein, allerdings dürfte die Hornhaut Schaden genommen haben.«
»Eure Kiepe, Sir.« Catfield war zurück und übergab den Tragekorb.
»Danke, Catfield, Ihr könnt gehen. Versucht, in dieser Nacht noch etwas Schlaf zu finden.«
»Aye, aye, Sir.« Catfield entfernte sich, und Vitus entnahm seiner Kiepe ein irdenes Gefäß mit einem unguentum, dessen Trägerstoff überwiegend aus Wachs bestand. Es enthielt ein Bleipflaster und dazu Alaun und Arnika. Er hielt Nina die Salbe hin und lächelte. »Erinnerst du dich noch daran, als wir vor vielen Jahren über Augenarzneien sprachen? Es war der Tag, an dem wir uns zum ersten Mal küssten. Mir ist, als wäre es gestern gewesen.«
Nina nickte. Ihre Lippen zuckten.
»Weine nicht, bitte.« Er beugte sich zu ihr hinab und küsste sie auf den Mund, gerade so, wie er es damals während des Gewitters getan hatte: sacht und zärtlich und beschützend. Es war der Kuss, nach dem er sich die ganzen Wochen gesehnt hatte, der Kuss, der alles, was war, vergessen ließ – zumindest für eine Weile.
Nina schwieg, als er seine Lippen von den ihren nahm.
»Jetzt sind wir wieder vereint«, sagte er und begann, unendlich vorsichtig die Salbe zu applizieren. Nina hielt still, doch an ihrem raschen Atem erkannte er, dass er ihr Schmerzen zufügte. Um sie abzulenken, sagte er: »Willst du mir nicht sagen, wie das passiert ist?«
»Nein.« Ihre Antwort kam schnell, fast zu schnell.
Er beruhigte sie, während er ein Wundkissen auf das verletzte Auge legte. »Du brauchst nicht darüber zu reden, wenn du nicht magst.«
»Ich … ritt aus und bin gestürzt.«
»Wann war das?«
»Es liegt Wochen zurück. Ein Zweig bohrte sich in mein Auge, und den Arm habe ich mir auch gebrochen.«
»Ein Unfall also«, stellte er fest und beschloss, nicht weiter zu fragen. »Zu dem Arm komme ich gleich noch. Wer hat ihn dir in die Schlinge gelegt?«
»Der alte Doktor Burns.«
»Burns, so, so. Was hat er dir für das Auge verschrieben?«
»Waschungen mit Kamillenwasser.«
»So, so«, wiederholte er. Und verschwieg, dass Waschungen mit Kamille bei einer derartigen Verletzung bei weitem nicht ausreichten. Er fixierte das Wundkissen und band die Augenklappe wieder darüber. »Nun zu deinem Arm.«
Er nahm die Schlinge ab und untersuchte Verband und Schiene. Drückte hier und prüfte da, stellte fest, dass es gottlob ein einfacher Bruch oberhalb des Handgelenks zu sein schien, und sagte schließlich: »Das hat der Arzt mit dem Gärtner gemein – er muss sich in Geduld fassen und auf die Wachstumskräfte der Natur bauen. Du bist noch jung, Liebste. Deine Knochen werden wieder zusammenwachsen, und du wirst den Arm und die Hand wieder wie vorher gebrauchen können.«
»Ja, Vitus.« Ninas gesundes Auge blickte traurig.
Er bemerkte es, und versicherte ihr noch einmal: »Nichts auf dieser Welt könnte dich in meinen Augen hässlich machen, Liebste.« Dann erschrak er. »Um Gottes willen, was bin ich für ein Rabenvater! Ich habe noch nicht einmal nach den Kindern gefragt. Wo sind sie eigentlich?«
»Sie schlafen schräg gegenüber, auch die kleine Jean. Nella ist bei ihnen und sagt mir Bescheid, wenn Jean sich wieder meldet. Ich … ich …«
»Ja, Liebste?« Liebevoll strich er ihr über das schwarze Haar.
»Ich fühle mich nicht wohl.«
»Natürlich. Aber das wird sich geben, jetzt bin ich ja wieder da.« Plötzlich merkte er, wie müde er war. »Sag, gibt es in diesen kargen Räumen irgendwo ein Bett für dich und mich? Ich schlage vor, wir gehen schlafen, am Tag wird alles besser aussehen.«
»Hoffentlich hast du recht.«
»Natürlich habe ich recht.« Vitus gab sich überzeugter, als er war. Er half Nina auf die Beine, und sie gingen in ein Nebenzimmer, wo sich eine einfache, mit einer Strohmatratze versehene Lagerstatt befand.
»Ich weiß nicht, ob ich schlafen kann«, sagte Nina. »Es war alles so viel in letzter Zeit.«
»Wir werden es gemeinsam schaffen, Liebste.« Er versuchte einen Scherz: »Im gemeinsamen Einschlafen haben wir doch einige Übung, nicht wahr?«
Nina lachte nicht, doch wenigstens lächelte sie flüchtig. Ohne sich zu entkleiden, schlüpfte sie unter die Decke, und Vitus legte sich neben sie. Er drehte sich zu ihr, streichelte sanft ihr Gesicht und flüsterte: »Träume süß, mein Mädchen, ich bin wieder da und wache über dich, träume nur süß.«
Kurz darauf schlief sie tatsächlich ein, er selbst aber blieb noch lange wach, gefangen im Karussell seiner Gedanken. Schließlich musste er doch eingenickt sein, denn er schreckte auf, als Nina sich irgendwann erhob, um die kleine Jean im Nebenzimmer zu stillen.
Die erste Nacht mit ihr hatte er sich anders vorgestellt.
Am Morgen des 3. September lachte die Sonne, alles Düstere der vergangenen Stunden schien vergessen. Zu Vitus’ Erleichterung erklärte Nina sich einverstanden, mit den Kindern und Nella wieder ins Schloss zu ziehen, und gegen zehn Uhr saßen alle einträchtig im Grünen Salon und nahmen ein verspätetes Morgenmahl ein. Da Hartford verschwunden war, hatte Mary das Servieren übernommen. Ihr freundliches Gesicht ließ die hochmütigen Züge des Dieners leicht vergessen.
»Morgenstund hat Gold im Mund!«, rief der Magister, während er mit vollen Backen eine Eierspeise vertilgte. »Aurora musis amica! Das könnt ihr euch gleich merken, ihr Rangen! Der frühe Vogel fängt den Wurm! Und des Morgens studiert es sich am besten! Was macht eigentlich der alte Doktor Burns? Wenn ich mich nicht irre, versucht er, euch die Sprache der alten Römer näherzubringen?«
»Doktor Burns kommt heute im Laufe des Tages, um sich meinen Arm anzusehen«, antwortete Nina für die Kinder. »Er meinte, das sei wichtiger als Vokabeln und Deklinationen.«
»Oh!« Der kleine Gelehrte verschluckte sich fast. »Da bin ich wohl ins Fettnäpfchen getreten, liebe Nina? Aber nichts für ungut, die Sache mit deinem Arm wird sich schon wieder einrenken, äh, ich meine, er ist ja schon gerichtet, was ich sagen will, ist, dass er bald verheilt sein wird.«
Die Kinder kicherten.
Nina lächelte.
Der Magister wurde rot. »Vielleicht sollte ich als Mann der Paragraphen nicht so viel über Medizinisches reden. Schuster, bleib bei deinem Leisten.«
»Er hat es schon wieder gesagt!«, brüllte Odo. »Schuster, bleib bei deinem Leisten! Er ist so lange weg gewesen, und nun hat er es schon wieder gesagt!«
»Ja, das hat er!«, krähte Carlos.
»Schreit nicht so«, sagte Nella. »Und macht den Mund zu beim Kauen.«
Vitus sagte nichts. Er war glücklich, wieder zu Hause zu sein, die kleinen Kabbeleien am Tisch hörten sich wie Musik für ihn an.
Der Magister tupfte sich mit einem riesigen Tuch den Mund ab. »Narratio argentea, silentium vero aureum est. Reden ist Silber, Schweigen ist Gold, ihr Rangen. Schreibt euch das hinter die Ohren. Ich werde jetzt ebenfalls schweigen und mir ein bisschen die Beine vertreten.« Der kleine Mann blinzelte und grinste, erhob sich und ging hinaus.
Auch Nella stand auf. »Ich schau mal nach Jean in der Wiege, Tante Nina.«
»Wir wollen auch aufstehen!«, brüllte Odo.
»Ja, wir sind schon lange fertig!«, fiel Carlos ein.
»Dann macht, dass ihr rauskommt.« Vitus konnte an diesem Morgen nicht streng sein, außerdem hoffte er auf ein Wort unter vier Augen mit Nina. »Liebste«, hob er an, als sie allein waren, und nahm ihre Hand, »willst du mir nicht sagen, wie du vom Pferd gefallen bist? Ich meine, das passiert doch nicht einfach so. Du bist eine geübte Reiterin und noch nie vom Pferd gestürzt.«
Nina presste die Lippen zusammen.
Vitus spürte, dass viel mehr geschehen sein musste als ein einfacher Abwurf. »Wenn du es mir nicht sagen willst, ist es auch gut.«
»Doch …«
»Ja?« Er drückte ihr aufmunternd die Hand. »Erzähl mir alles in Ruhe, wenn du magst.«
»Ich … ich war mit Hartford unterwegs.«
»Mit Hartford, dem Diener? Wieso denn das?«
Nina erzählte, wie es dazu gekommen war, und schilderte den Ritt bis zu Mary’s Stool, wo sie die Armada und ihn habe sehen wollen und der hinterhältige Hartford ihrem Hengst Telemach einen so brutalen Schlag auf die Hinterhand gegeben habe, dass er in Panik über die Böschung geprescht sei und sie abgeworfen habe. »Wir stürzten beide in die Tiefe, Telemach und ich, aber während das arme Tier sich unten am Strand das Genick brach, landete ich auf halbem Wege in einer vorstehenden Krüppelkiefer. Ich muss dem Gewächs dankbar sein, obwohl es mir den Arm brach und fast das Auge ausstach.«
»Hartford, dieser Hundsfott!« Vitus drückte Ninas Hand unwillkürlich so fest, dass sie aufschrie.
»Oh, verzeih mir, Liebste. Weißt du, warum dieser elende Lakai das getan hat? Ich meine, er hatte doch gar keinen Grund dazu?«
Nina seufzte. »Hartford missbrauchte mein Vertrauen. Ich bin sicher, er wollte mich aus dem Weg schaffen. Deshalb war es mir auch nicht möglich, weiter in meinen Gemächern zu leben. Der Gedanke, dass Hartford nur wenige Kammern entfernt gewohnt hatte, war mir unerträglich.«
»Das verstehe ich. Nun wird mir manches klar. Aber warum wollte Hartford dich aus dem Weg schaffen?«
Nina ging nicht auf die Frage ein. »Wenn Nella nicht gewesen wäre, würde ich heute unter der Erde liegen. Ich wäre tot, mausetot.«
»Nella?«
»Sie ritt heimlich hinter Hartford und mir her, sie verfolgte uns, denn sie traute Hartford nicht. Sie ahnte, dass er etwas Schreckliches im Schilde führte. Als ich nach dem Sturz aus meiner Ohnmacht erwachte, hing ich in dem Kieferngewächs und hatte furchtbare Schmerzen. Hartford war natürlich nicht mehr da, aber Nella stand am Klippenrand und rief mir zu, ich solle keine Angst haben, sie würde Hilfe holen. In der Tat kam sie nach einer kleinen Ewigkeit mit einem alten Mann zurück. Der Alte erzählte, er heiße Hank und sei Bernsteinsammler und er würde einen Fischer namens Teddy Dunn holen. Eine weitere Ewigkeit später, mir waren in der Zwischenzeit wieder die Sinne geschwunden, kamen ein paar Männer mit Pferden, zwei von ihnen seilten sich zu mir ab, knüpften mich an ein Tauende und ließen mich dann von den anderen hochziehen. Und während der ganzen Zeit harrte Nella aus und sprach mir Mut zu. Sie ist ein prächtiges Mädchen, viel erwachsener, als ihr Alter es vermuten lässt.«
»Ich werde mich nachher bei ihr bedanken. Aber Hartford, dieser Lump, kann was erleben! Ich werde ihn jagen, bis ich ihn gefunden habe und mit dem größten Vergnügen eigenhändig erwürgen!«
»Das wird nicht nötig sein, Mylord.« In der Tür stand Catfield.
»Catfield? Woher kommt Ihr denn so plötzlich?«
»Verzeihung, Mylord, dass ich so hereinplatze. Ich habe mir nur erlaubt, Eure Kiepe zurück ins Schloss zu tragen. Ich könnte mir vorstellen, dass Ihr sie braucht.«
»Das stimmt allerdings. Und was meintet Ihr eben mit Eurer Bemerkung über Hartford?«
»Ich habe Hartford schon gejagt, Mylord. Ich wollte, dass er für seine Schandtat büßt.« Catfields Gesicht nahm einen finsteren Ausdruck an. »Ich bin noch am gleichen Tag zur Küste aufgebrochen, damit sein Vorsprung, falls er flüchten sollte, nicht zu groß würde. Aber meine Sorge war unbegründet, denn ich traf den alten Bernsteinsammler, und der zeigte mir eine Stelle im Wald, wo der Halunke sich versteckt hatte. Ich habe ihn festgenommen und nach allen Regeln der Kunst gefesselt. Er war nur noch ein Häufchen Elend, keine Spur mehr von seiner hochmütigen Art. Er stammelte immer wieder, er hätte niemals ein zweites Mal morden dürfen und er habe sein Leben verwirkt und so weiter. Dass er sein Leben verwirkt hat, habe ich ihm gern bestätigt. Ich wollte ihn zurück nach Greenvale Castle bringen, aber er flehte mich an, es nicht zu tun. Es wäre der letzte Wunsch auf dieser Welt, den er noch habe. Nun, ich sagte ihm, dass ich ihn dann einem Sheriff übergeben würde, denn es wäre mir egal, wo er für seine schauderhafte Tat büßen müsste, aber er wollte um jeden Preis nach Dursley in Gloucestershire, weil er dort geboren sei und dort sterben wolle. Deshalb habe ich ihn dahin gebracht und dem Sheriff übergeben. Hartford hat in meiner Anwesenheit ein Geständnis seiner Schandtat abgelegt und einen weiteren Mord zugegeben. Irgendeine Eifersuchtsgeschichte in seiner Jugend. Der Scharfrichter dürfte ihn mittlerweile einen Kopf kürzer gemacht haben.«
»Ich danke Euch, Catfield. Ich kann es noch gar nicht fassen. Hartford ein hinterhältiger Mörder? Aber wenn Ihr es sagt, wird es so sein. Ich hätte mir den Spitzbuben gern selbst vorgenommen, aber so ist es auch gut.«
»Sehr wohl, Mylord.« Catfield verneigte sich und verließ den Raum. Vitus und Nina waren wieder allein.
Eine Weile verging, während Vitus die Hand seiner Frau weiter streichelte. Dann sagte er: »Eines ist mir noch nicht klar, wieso hat Nella Hartford nicht getraut?«
»Sie sagte mir, sie habe eines Nachts etwas gehört. Aus dem Spanischen Zimmer seien so komische Laute gekommen.« Trotz des ernsten Hintergrunds musste Nina lächeln. »Es waren wohl Laute, die sie aus unserem Schlafzimmer kannte. Jedenfalls hatte sie das Gefühl, dass da etwas Unschickliches, etwas Verbotenes passierte. Sie nannte Hartford einen ›fiesen Schomser‹ und erzählte mir, ihr ›Altlatz‹ hätte nicht nur ihm, sondern ebenso wenig Isabella über den Weg getraut. Alles in allem war das der Grund, warum sie mir und Hartford hinterherritt – und mir letztlich das Leben rettete.«
»Sie ist eine bemerkenswerte kleine Person. Ich bin froh, dass sie zur Familie gehört.«
»Ich auch.« Nina entzog Vitus ihre Hand. »Was Isabella angeht, so weiß ich, dass sie eine Diebin ist.«
»Eine Diebin?« Er heuchelte Erstaunen. »Wie kommst du denn darauf?«
»Sie hat mir den Wappenring der Collincourts gestohlen, den Ring, den schon deine Mutter trug. An dem Morgen, als du gingst, hielt ich mich im Ankleidezimmer auf, und der Ring lag auf der kleinen Schubladentruhe vor dem Spiegel. Ich bin ganz sicher, dass er dort lag, denn dort liegt er immer, wenn ich ihn nicht trage. Dann verließ ich das Zimmer für einen Augenblick, um hinüber in den Kleinen Salon zu gehen und nach Jean zu schauen. Sofort danach kehrte ich zurück und sah Isabella, wie sie das Ankleidezimmer verließ. Sie lachte und sagte, sie habe mich gesucht. Ich dachte mir nichts dabei, nur später, als ich bemerkte, dass der Ring fort war und Isabella auch, wusste ich, was sie wirklich gewollt hatte.«
Vitus wurde der Mund trocken. Er musste an die Situation denken, als er nichtsahnend seine Kammer auf der Camborne betrat und Isabella dort schon auf ihn wartete – in der Rolle seiner Frau, ausgestattet mit ihrem Ring.
»Danach war Isabella verschwunden. Sie war fort, als sei sie niemals Gast im Schloss gewesen. Sie hat mich grausam enttäuscht, nachdem ich anfangs so große Stücke auf sie hielt. So vertrauensselig werde ich nie wieder sein! Der Tag, an dem sie für immer verschwand, war übrigens derselbe, an dem du gingst. Das ist doch seltsam, findest du nicht auch?«
»Gewiss, gewiss.«
»Wahrscheinlich war es nur ein Zufall?«
Er schwieg.
»Sag, dass es nur ein Zufall war.«
Er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Er wollte über seinen Fehltritt sprechen, aber es war ihm unmöglich. Noch nicht. Nicht jetzt. Nina war krank und nicht stark genug, die Wahrheit zu ertragen. Es würde besser sein, zu warten. »Es gibt viele Zufälle im Leben«, murmelte er unbestimmt und schämte sich dafür. »Berichte weiter, Liebste.«
»Da gibt es nicht mehr viel zu berichten, Hartfords tückischen Anschlag auf mich kennst du ja bereits. Allerdings habe ich mich immer wieder gefragt, warum die Diebin mit ihm schlief, denn dass sie das nicht aus Liebe tat, steht außer Zweifel. Sie könnte ihn angestiftet haben, mich zu ermorden, aber wozu? Was hätte sie davon gehabt? Ich weiß es nicht. Ich bin sicher, Hartford würde es wissen, aber er kann nicht mehr sprechen, nachdem er sein jämmerliches Leben ausgehaucht hat.«
»Sicher, sicher«, krächzte er. »Es ist Zeit, dein krankes Auge zu versorgen und nach dem Arm zu sehen. Warte, ich hole die Arzneien aus der Kiepe.«
Hastig stand er auf und spürte dabei Ninas Ring in seiner Tasche, und es war ihm, als sei er ein glühendes Stück Kohle. Er musste den Ring zurückgeben, jetzt gleich, er durfte nicht warten. Doch wenn er ihn zurückgab, musste er die ganze Wahrheit über seine Affäre mit Isabella beichten, und das brachte er nicht fertig. Er konnte es einfach nicht. Was war er nur für ein Feigling!
Nachdem er Nina behandelt hatte, wollte er sie küssen und etwas Belangloses sagen, doch sie wich zurück und schaute ihm direkt in die Augen. »Du hast meine Frage vorhin nicht beantwortet, Liebster. Ist es Zufall oder nicht, dass du und Isabella am selben Tag verschwunden wart?«
»Ich … ich …«
»Du kannst es mir ruhig sagen. Sag mir alles, was dich bedrückt. Wir haben uns einmal geschworen, niemals Geheimnisse voreinander zu haben.«
»Es ist so viel passiert, es ist so furchtbar viel passiert.«
»Ja, das stimmt.« Nina nickte langsam. Sie wartete darauf, dass er weitersprach, doch sie wartete vergebens.
Als nichts mehr folgte, blickte sie zur Seite, damit er nicht sah, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen.
Er schritt hinüber in das Zimmer, wo Nella auf die kleine Jean achtgab, und sagte, nachdem er sein Töchterchen geherzt hatte: »Nella, ich weiß nicht, wie ich dir danken soll, ohne dich wäre Tante Nina jetzt tot. Du hast klug und umsichtig gehandelt, du bist eine wunderbare junge Dame.«
Nella sah ihn ernst an. »Du brauchst dich nicht zu bedanken, Onkel Vitus. Der liebe Gott hat das so gewollt.«
»Ja, ja, das mag sein. Sag, gibt es irgendetwas, das du dir wünschst? Ich meine, kann ich dir mit irgendetwas eine Freude machen?«
Nella zog die Stirn in Falten. Sie sah dabei sehr erwachsen aus. »Ja, vielleicht gibt es etwas, Onkel Vitus: Ich würde gern öfter auf Shorty reiten. Ich mag ihn sehr, und er mag mich auch.«
»Shorty, ist das der kleine Shetlandhengst?«
»Ja, er ist sehr brav.«
»Ich schenke ihn dir, dann kannst du mit ihm ausreiten, sooft du willst.«
»Oh, danke, Onkel, danke!« Nella flog in Vitus’ Arme und drückte ihm schmatzend einen Kuss auf die Wange. »Du bist der beste Onkel auf der Welt!«
»Na, na, nun übertreibe mal nicht.« Er dachte, dass er mit Sicherheit nicht der beste Onkel auf der Welt war – und der beste Ehemann schon gar nicht.
»Hast du was, Onkel Vitus?«
»Nein. Warum sollte ich etwas haben?«
»Ich dachte nur. Wenn du was hast, musst du es sagen, das sagt mein lieber Altlatz auch immer. Also sag’s.«
Er schüttelte den Kopf und ging.
Er trat aus dem Schloss und nahm den Weg zu dem Rondell, wo der Magister auf der Bank vor der alten Ligusterhecke saß und selbstvergessen mit fünf Bällen jonglierte. Er wollte vorbeigehen, doch der kleine Gelehrte brach sein Geschicklichkeitsspiel ab und sagte: »Weißt du noch, wie wir mit den Gauklern über Land nach Santander zogen? Lang, lang ist’s her, meine Hände waren damals weitaus geschmeidiger. Man rostet eben ein. Das Antipodieren mit zylindrischen Rollen traue ich mir schon gar nicht mehr zu.«
»Niemand verlangt das von dir.«
»Nanu, warum so ernst? Ist was, altes Unkraut?«
»Nein.«
»Nun setz dich schon, du hast doch was! Ich seh’s dir an der Nasenspitze an. Ist es wegen Nina? Machen dir ihre Verletzungen Sorgen? Ich sage dir …«
»Es ist nicht wegen ihrer Verletzungen.«
»Also wegen Nina selbst?«
»Ja … nein … ach, ich weiß nicht.«
»Nun aber heraus mit der Sprache! Deine Sorgen sind meine Sorgen!«
Vitus kämpfte eine Zeitlang mit sich, dann murmelte er: »Es ist ja egal, irgendwann wird es sowieso herauskommen.«
»Was?«
»Meine Liebschaft mit Isabella.«
»Isabella?« Der Magister stieß einen Pfiff aus. »Der Name klingt nach Rasse und Feuer. Wer ist sie? Los, erzähle.«
Vitus fiel ein, dass der Freund nichts von der eigenwilligen Spanierin wissen konnte, zu lange waren sie beide getrennt gewesen. Er holte tief Luft und begann, die Geschichte von Anfang an zu erzählen. Es dauerte lange, bis er fertig war, auch deshalb, weil er zwischendurch immer wieder Pausen einlegen musste, um nicht die Fassung zu verlieren.
Als er geendet hatte, sagte der Magister heftig blinzelnd: »Das ist etwas, das du dir so schnell wie möglich von der Seele reden solltest! Ich weiß, wie du leidest. Ich kenne dich. Andere würden mit einem Lachen darüber hinweggehen, aber dich trifft es bis ins Mark. Mache dem ein Ende. Gehe zu ihr, sie wird dich verstehen. Wenn sie dich liebt, wird sie dich verstehen. Du musst nur das erste Wort über die Lippen bringen. Nach dem ersten Wort ist alles einfacher.«
»Ja«, sagte er, »ich schäme mich so.«
»Das solltest du auch. In Grund und Boden schämen solltest du dich. Nina ist die prachtvollste Frau, die ich jemals kennengelernt habe. Wenn du jetzt nicht zu ihr gehst, werde ich es tun.«
»Das wird nicht nötig sein.« Er erhob sich wie ein alter Mann und machte sich auf den Weg zurück. Bei der kleinen Kapelle, in der seine Ahnen in ihren Steinsärgen ruhten, war er versucht, hineinzugehen und sie um Rat zu fragen, doch er unterließ es. Er konnte die Stunde der Wahrheit nicht länger aufschieben, er musste sie hinter sich bringen.
Nach kurzer Zeit kam das Schloss mit dem Vorplatz und der großen Freitreppe in Sicht, und auf der Freitreppe stand Nina. Sie stand allein auf der obersten Stufe, als hätte sie auf ihn gewartet.
Unwillkürlich beschleunigte er seine Schritte. Er winkte ihr zu.
Sie winkte zurück, zögernd, zaghaft. Er spürte den Ring in seiner Tasche, der noch immer wie ein glühendes Stück Kohle war, und beschloss, ihn ihr als Erstes zu geben, bevor er ihr seine Verfehlungen gestand.
Er ging noch schneller, lief schon fast. Nina, Liebste!, wollte er rufen, doch die Kehle war ihm wie zugeschnürt. Er eilte die Stufen der Treppe empor und blieb atemlos vor ihr stehen. »Ich … ich muss dir etwas geben«, keuchte er.
»Ja«, sagte sie ruhig, »ich dachte es mir.«
Er griff in die Tasche und holte ihren Ring hervor. »Ich habe Schuld auf mich geladen, große Schuld.«
Sie nahm den Ring. »Du musst mir alles sagen, hörst du? Und wenn du mir noch so weh tust! Ich will alles wissen, ich muss alles wissen, denn anders kann es mit uns nicht weitergehen.«
»Liebste …«
Ihre Lippen zuckten. »Wenn es überhaupt mit uns weitergeht.«
»Liebste, ich …«
Sie schluchzte auf und lief zurück ins Schloss.
Tausend Worte, Gedanken und Erklärungen schossen ihm durch den Kopf, während er ihr mit schleppenden Schritten folgte. Wie würde sie reagieren, wenn sie von seinem Treuebruch erfuhr? Was würde sie sagen? Was würde sie tun?
Er durfte nicht erwarten, dass sie für sein Verhalten Verständnis zeigte.
Und doch …
Ein kleiner Funke Hoffnung war da.
Ein Funke Hoffnung, der Liebe hieß.