Der Doppelgänger Don Pedro

»Ich bin Don Pedro de Acuña, Admiral Seiner Allerkatholischsten Majestät Philipps II. und stellvertretender Befehlshaber des Guipúzcoa-Geschwaders aus dem Baskenland. Erkennt mich jemand von euch?«

Vitus war der Mund wie mit Brettern vernagelt. Er starrte auf die vor ihm liegende Isabella und konnte es nicht fassen. Was auch immer sie oben auf dem Kommandantendeck gewollt haben mochte, sie hatte sich in den feindlichen Schuss geworfen, um ihn zu schützen. Sie hatte ihr Leben für ihn eingesetzt. Wie sehr musste sie ihn lieben, dass sie das getan hatte!

Und er hatte sie von sich gestoßen.

Wie erbärmlich und selbstgerecht er doch gewesen war.

Doch reuige Gefühle nützten jetzt wenig, er riss sich zusammen und tat das Naheliegendste, indem er die beiden Einschusslöcher mit Kompressen abdeckte und einen Verband anlegte. Nur ihre Augen, ihre Nase und ihr Mund waren danach noch zu sehen. »Isabella, hörst du mich?«

Er zog ihr ein Augenlid hoch und hielt zwei Finger an ihre Halsschlagader.

Ja, sie lebte noch.

Wieder versuchte er, die Mauer ihrer Besinnungslosigkeit zu durchbrechen und sie in die Wirklichkeit zurückzuholen, doch es gelang nicht. Er überlegte, ob er es mit einem stark riechenden Salz oder einem Guss Wasser versuchen sollte, aber er unterließ es. Er wollte sie keinen Augenblick allein lassen. »Isabella! Isabella?«

Hatte sie sich eben nicht ganz leicht bewegt?

»Isabella, so komm doch zu dir! Bitte!«

»… Lieb …«

»Hast du etwas gesagt?«

»… Liebster.«

Sie hatte gesprochen. Gott sei Lob und Dank, sie hatte gesprochen! Alles andere, ihr Stolz und ihre Widersprüchlichkeit, war jetzt unwichtig. Ihr Plan, die Armada vor Taggarts Falcon zu warnen – egal. Ihr Plan, mit Hilfe von Don Pedro die Camborne an sich zu bringen – egal. Ihr Plan, Schlossherrin auf Greenvale Castle zu werden – egal, egal, egal. Sie war eine sprunghafte, leidenschaftliche, außergewöhnliche Frau, und er würde sie nie verstehen. Aber sie lebte.

»Ich … sterbe.«

Er wollte aufbegehren, wollte ihr sagen, dass sie wieder gesund würde, dass alles wieder gut würde, aber angesichts der tödlichen Verletzung war ihm die Kehle wie zugeschnürt. Er ergriff ihre schlaffe Hand und sah, dass Ninas Ring an einem der Finger steckte, aber auch das war jetzt egal. Er streichelte sie.

Ihre Augen waren halb geöffnet. Sie versuchte ein Lächeln. Der von ihm applizierte künstliche Schneidezahn saß nach wie vor perfekt. Welch ein Hohn!

Was konnte er sagen, wie konnte er sie trösten, womit konnte er ihr Mut zusprechen? »Isabella, möchtest du beten?«

Sie schüttelte kaum merklich den Kopf. »Dios castiga … sin piedra ni palo.«

«Ich glaube nicht, dass Gott dich strafen wollte.«

Ihr Lächeln erstarb. »Sin importancia«, wisperte sie. »Ich liebe dich.«

Er schwieg. Doch in ihren Augen las er die Aufforderung: Bitte sag es mir auch, sag es nur ein einziges Mal, sag mir, ich liebe dich!

»Ich … liebe dich«, flüsterte er, und er hatte dabei nicht einmal das Gefühl, zu lügen.

»Dann ist es gut, dann ist es …« Ihre Augen brachen. Plötzlich wich alle Anspannung aus ihrem Gesicht, ein Ausdruck des Friedens und der Harmonie breiteten sich darauf aus. Der Kampf ihres Lebens war vorbei. Sie hatte ihn verloren – und sie hatte ihn doch gewonnen, denn sie hatte sein Herz erobert.

Durch ihre letzte, unwiederholbare Tat.

 

 

 

»Schlechte Nachrichten, Vitus«, sagte Don Pedro noch am gleichen Abend im Behandlungsraum. Er musste die wenigen Worte fast brüllen, denn der Sturm hatte sich zum Orkan ausgeweitet, und selbst unter Deck waren das Heulen des Windes und das Krachen der Brecher die einzigen Geräusche.

»Was gibt es?« Vitus stand noch immer unter dem alles beherrschenden Eindruck von Isabellas Tod.

»Abbot, der Erste Offizier und Segelmeister, ist schwer verwundet worden. Wir alle haben es nicht bemerkt, es muss in den letzten Minuten des Gefechts passiert sein.«

Vitus nickte schwer. »Genau wie bei Isabella. Sie ist tot.«

Don Pedro riss die olivenfarbenen Augen auf, sagte aber nichts. Er wusste, dass jedes Wort fehl am Platze gewesen wäre. Stattdessen ergriff er Vitus’ Hand und drückte sie.

Vitus räusperte sich, um den Kloß in seinem Hals loszuwerden. »Wie schlimm ist es?«

»Bauchschuss. Ich fürchte, seine Chancen stehen nicht gut.«

»Ich schaue ihn mir an.« Vitus ging zu der Kammer, in der Abbot mit einigen Leidensgenossen lag, und untersuchte die Einschussstelle. Es sah wirklich nicht gut aus. Die Kugel hatte die Kleidung durchschlagen, war in den Unterleib eingedrungen und im Rückgrat stecken geblieben. Ärztliche Kunst war hier machtlos. Das Einzige, was getan werden konnte, war, dem Verletzten die Schmerzen zu nehmen und zu hoffen, dass ihn ein baldiger Tod erlösen möge. So wie es bei Isabella der Fall gewesen war …

Abbot war nicht ansprechbar, und Vitus sagte: »Wenn er zu sich kommt, geben wir ihm Laudanum, du oder ich, je nachdem, wer gerade bei ihm ist.«

Don Pedro nickte. »Wie viel?«

»Gerade so viel, wie er braucht. Wir müssen mit dem Laudanum haushalten.« Vitus zeigte die Menge.

Danach gingen sie zu den anderen Verwundeten, wobei sich herausstellte, dass wenigstens zwei Lichtblicke in der Düsternis zu verzeichnen waren: Chock, der bewährte Falcon, hatte nur einen harmlosen Streifschuss erhalten, der allerdings stark genug gewesen war, ihn herumzureißen und zu Boden zu strecken, und Creedy, der Decksoffizier der Moon, hatte die Ruhr so weit überwunden, dass er sich bei McQuarrie zum Dienst melden konnte.

Die anderen Verwundeten – es waren über ein Dutzend – hatten die unterschiedlichsten Brüche und Verletzungen, wobei zweien der Unglücklichen eine Beinamputation nicht erpart werden konnte.

Vitus und Don Pedro arbeiteten die ganze Nacht tief unten im Bauch der Camborne, geschüttelt, gestoßen und hin und her geschleudert von den gewaltigen Käften des Orkans, doch sie gaben nicht auf, und am Morgen des 5. August war auch der letzte Kranke, so gut es ging, versorgt.

Mehr tot als lebendig hangelte Vitus sich an Deck, erklomm die Heckgalerie und wankte nach Steuerbord, wo Isabellas Kammer war. Er trat ein und sah ihren Leib im spärlichen Schein der Deckenlaterne liegen. »Schlafe gut, Isabella«, flüsterte er.

Dann legte er sich neben sie.

 

 

 

Auch in den nächsten Tagen hielt der Orkan mit unverminderter Stärke an. Die Santa Maria de Visón und die beiden anderen Spanier waren zwischen den turmhohen Wellen spurlos verschwunden. Das Leben der Männer bestand nur noch aus dem Willen, zu überleben – ein schier endloser Kampf zwischen Wache gehen, Segel setzen, Segel reffen, Tauwerk kappen, Pumpen bedienen, Schäden reparieren. Nach vier Stunden und einem Essen, das wegen der gelöschten Feuerstelle nur aus Hartbrot und Wasser bestand, fielen die Männer völlig erschöpft in einen todesähnlichen Schlaf, rafften sich nach weiteren vier Stunden wieder auf und warfen sich erneut dem Orkan entgegen.

Die Camborne war ein junges, starkes Schiff, doch wie mochte es den zahlreichen schwer zusammengeschossenen spanischen Galeonen ergehen?

Nach sechs Tagen, an einem Sonntag, machte der Wettergott in seinem Zorn eine kurze Pause, lichtblaue Flecken erschienen am Himmel, Wind und Dünung nahmen ab. Sofort nutzte Vitus die Gelegenheit und ließ sämtliche Kranken, die transportfähig waren, aufs Hauptdeck tragen, damit sie sich dort wärmen und die heilenden Strahlen der Sonne genießen konnten. Ferner ließ er sämtliche Luken und Türen öffnen, damit Klammheit, Schimmel und Feuchte, die Hauptverursacher von Hautkrankheiten, durch die frische Seeluft vertrieben wurden.

Und doch hatte dieser Tag nicht nur Sonnenseiten: Sieben Tote, darunter Isabella und Abbot, galt es zu bestatten. Vitus hatte während des Orkans angeordnet, die Leichen im großen Beiboot auf dem Hauptdeck unterzubringen, wo sie kühl und fest verzurrt unter einer spritzwasserdichten Plane lagen.

Bevor die Feier, in deren Rahmen die Verstorbenen dem Meer übergeben werden sollten, ihren Anfang nahm, ging er zu dem Beiboot und schlug die Plane zurück. Isabella lag auf der Seite, das Gesicht unter dem Verband kaum sichtbar. Er war dankbar dafür, denn es machte ihm das, was er tun musste, leichter: »Isabella«, sagte er leise, »ich habe in den vergangenen Tagen viel über uns nachgedacht. Du warst eine einzigartige Frau, faszinierend und – unwiderstehlich. Ich war dir verfallen, aber du hast dich für mich aufgeopfert und mir dadurch die Entscheidung abgenommen, zu der ich sonst nicht in der Lage gewesen wäre. Mit deinem Tod gibst du mir Nina zurück, meine sanfte, schöne, strenge Nina. Ich denke, Gott wollte es so. Er sei dafür gelobt und gepriesen.«

Er schlug das Kreuz und murmelte: »Ich habe da noch etwas, das ich dir für deine letzte Reise mitgeben wollte.« Unter seinem Wams zog er die Zeichnung mit Odders und Isabellas Kopf hervor, rollte sie ein und schob sie in den Ärmel ihrer rubinroten Abendrobe.

Dann verharrte er einen Augenblick und fuhr fort: »Bitte verstehe, dass es sein muss.« Er ergriff ihre kalte Hand und nahm ihr Ninas Ring ab.

»Bitte, verstehe«, sagte er noch einmal. »Gott gebe deiner Seele Frieden.«

 

 

 

Die Trauerfeier war kurz und eindrucksvoll. Jede Leiche wurde in Leinen eingenäht, mit einer Kanonenkugel beschwert und mittels einer Rutsche dem Meer übergeben. Die Toten glitten unter der englischen Flagge in ihr nasses Grab, wobei McQuarrie einige Bibelverse zitierte und mit der Mannschaft gemeinsam betete:

»Our Father who are in heaven,

hallowed be Thy name,

Thy kingdom come,

Thy will be done on earth, as it is in heaven.

Give us this day our daily bread,

and forgive us our trespasses …«

Isabella glitt als Einzige unter einer spanischen Flagge ins Meer, und Don Pedro, der von Vitus darum gebeten worden war, sprach das spanische Vaterunser dazu:

»Padre Nuestro que estás en los cielos

santificado sea tu nombre

venga a nosotros tu reino …«

Danach setzte schnell der Schiffsalltag wieder ein, denn das Leben ging weiter, und vieles, was während des Orkans nicht repariert werden konnte, musste wieder instand gesetzt werden. Vitus begab sich auf das Kommandantendeck, wo McQuarrie die Sonne nutzte, um mit Jakobsstab und Astrolabium zu hantieren. »Wo stehen wir, Captain?«, fragte er.

McQuarrie legte die Instrumente aus der Hand. »Was die westliche Länge angeht, Sir, so lässt sie sich, wie Ihr sicher wisst, noch immer nicht messen, doch von der Breite her müssten wir ungefähr auf Höhe der Conachair-Eilande stehen, wobei ›Eilande‹ fast schon zu viel gesagt ist. Es sind nicht mehr als Fleckchen und Felsen im weiten Meer. Wir werden sie entweder an Backbord oder an Steuerbord passieren, aber vielleicht sehen wir sie auch gar nicht.«

»Ich dachte, wir wären schon viel südlicher, auf Höhe von Irlands Nordspitze«, sagte Vitus.

»Leider nein, Sir. Der verdammte … oh, verdammt.« McQuarrie verzog schmerzvoll das Gesicht und krümmte sich nach vorn, doch er richtete sich rasch wieder auf. »Der verdammte Orkan hat uns tagelang aufgehalten. Aber nicht nur uns, Sir, auch die Dons dürften nicht viel weiter gekommen sein.«

»Was hattet Ihr da eben, McQuarrie?«

»Nichts, Sir, gar nichts! Bin gleich wieder da.« McQuarrie lief in Windeseile zu seiner Kajüte und verschwand darin.

Vitus war nachdenklich geworden. Er wartete einige Augenblicke und folgte McQuarrie dann. Ohne anzuklopfen, betrat er den Kapitänsraum und hörte blubbernde Geräusche der Darmentleerung. McQuarrie saß hinter dem Paravent auf dem Nachtstuhl und erleichterte sich.

Vitus wartete, bis er fertig war und wieder hervorkam.

Als McQuarrie ihn sah, blieb er stehen und sagte nicht eben freundlich: »Ich habe Euch nicht anklopfen hören, Sir.«

»Das liegt daran, dass ich nicht angeklopft habe«, erwiderte Vitus kühl. »Setzt Euch da auf den Stuhl neben dem Kartentisch.« Er schaute so grimmig drein, dass McQuarrie sofort gehorchte. »Aye, aye, Sir.«

Vitus legte ihm die Hand auf die Stirn und stellte fest: »Ihr habt Fieber. Wie steht es mit Schwindelgefühlen, Übelkeit, Krämpfen? Wie lange habt Ihr schon die Beschwerden? Wie sieht euer Stuhl aus, ist Blut darin?«

Nachdem McQuarrie alle Fragen beantwortet hatte, stand für Vitus die Diagnose fest: Der Nachfolger von Kapitän Steel hatte sich die Dysenterie eingefangen – wahrscheinlich bei dem Gespräch mit Creedy, dem er in der Quarantänestation die Hand gegeben hatte. Das lag zwei Tage zurück und entsprach der Erfahrung, die besagte, dass die Krankheit in der Regel zwei bis fünf Tage nach der Ansteckung ausbrach. »Es tut mir leid, McQuarrie, Ihr habt die Ruhr, und Ihr habt sie deshalb, weil Ihr meine Anordnung, die Quarantänestation auf keinen Fall zu betreten, nicht befolgt habt. Jetzt ist es umgekehrt: Jetzt muss ich Euch befehlen, sie aufzusuchen, damit Ihr niemanden infiziert. Auch so ist leider die Wahrscheinlichkeit groß, dass Ihr es bereits getan habt. Ich darf also bitten.«

McQuarrie streckte sich. »Mit Verlaub, Sir, das geht nicht. Ich bin der Captain und für das Schiff verantwortlich. Schaut hinaus nach Süden, wo sich schon wieder gewaltig was zusammenbraut, dann wisst Ihr, dass der heutige Tag nur ein blaues Loch in dem Orkan ist, den wir bislang durchmessen haben. Das Schiff braucht mich, es braucht einen Kommandanten, der sich in Seemannschaft und Nautik auskennt, und da der arme Abbot tot ist, gibt es niemanden mehr außer mir, der dazu in der Lage wäre.«

Angesichts der Weigerung McQuarries musste Vitus daran denken, dass der drahtige Schotte schon einmal Schwierigkeiten gemacht hatte, als er ihn bat, die Santa Maria zu verfolgen. Damals hatte er zum letzten Mittel greifen müssen und den Earl of Worthing herausgekehrt. Das wollte er diesmal vermeiden, denn er ging ungern mit seinem Titel hausieren. »Die Isolation eines Kranken kann nicht von der Entwicklung des Wetters abhängig gemacht werden, McQuarrie, und Ihr seid zweifellos krank. Niemand bedauert das mehr als ich.«

»Und wer soll das Schiff führen, Sir?«

»Das wird sich finden. Bitte folgt mir.« Vitus ging einfach voran, in der Hoffnung, McQuarrie würde ihm folgen. Gott sei Dank tat er es wirklich, wenn auch widerstrebend.

Unten in der Quarantänestation wies er dem Kranken eine Pritsche zu, hieß ihn, sich gründlich zu waschen, und gab ihm saubere Kleidung. »Bleibt in jedem Fall hier und spielt nicht den Helden, McQuarrie, ein Schiff voller Dysenterie-Patienten ist dem Untergang geweiht.«

»Aye, aye, Sir.«

Der Widerstand McQuarries schien gebrochen. Vitus atmete auf. »Wen habt Ihr in den letzten Tagen körperlich berührt?«

»Bei dem Orkan, Sir?« McQuarrie überlegte, während er sich wusch. »Wenn ich es recht bedenke, niemanden.«

»Hat jemand in der Zeit Euren Nachtstuhl benutzt?«

»Meinen Nachtstuhl? Das wäre ja noch schöner, Sir.«

Einigermaßen beruhigt überließ Vitus McQuarrie seinem Schicksal und wandte sich Stonewell zu, der noch immer sehr schwach war, aber offenbar über eine gute Leibeskonstitution verfügte. »Nun, wie geht’s, Stonewell?«

»Besser, Sir. Ich bin gestern sogar einmal aufgestanden, aber der Sturm hat mich sofort wieder von den Beinen gerissen.« Der Assistent grinste, was Vitus als gutes Zeichen wertete. »Kümmert Euch, wenn es die Kraft erlaubt, ein wenig um den Captain. Ihm stehen schwere Tage bevor.«

»Jawohl, Sir, mit Freuden, Sir!«

Vitus verließ die Station und stieg wieder hinauf auf das Kommandantendeck. Er war in Gedanken, denn nicht nur McQuarrie, sondern auch der gesamten Besatzung standen schwere Tage bevor. Ohne Führung fuhr kein Schiff. Aber was hätte er tun sollen?

Don Pedro stand an der Querreling und grüßte freundlich, Vitus trat neben ihn und sagte übergangslos: »McQuarrie hat die Ruhr.«

Don Pedro erschrak. »Die disentería? Allmächtiger! Und wer soll nun das Schiff führen?«

Ich weiß es nicht, wollte Vitus sagen, aber bevor er sprach, kam ihm ein Gedanke, der so kühn war, dass er ihn zunächst für sich behielt. Nach einer Weile sagte er: »Die Camborne läuft so brav wie ein Gaul, der allein nach Hause findet.«

Don Pedro stutzte. »Meinst du, das reicht?«

»Aber ein Gaul scheut bei Sturm, und wenn er keinen Reiter hat, der ihn führt, rennt er blindlings drauflos und läuft sich zu Tode.«

»Was willst du damit sagen?«

»Unser Gaul rennt auch in einen Sturm.«

»Schon richtig. Und?«

»Hör mal, Pedro, ich wollte dir sagen, seitdem Captain Steel tot ist, besteht aus meiner Sicht überhaupt kein Anlass mehr, am Ende unserer Reise ein Lösegeld für dich zu verlangen.«

»Oh, das freut mich. Ich danke dir.«

»Ich könnte mir vielmehr vorstellen, dafür zu sorgen, dass du zurück in deine Heimat kannst.«

Don Pedro wandte sich Vitus zu und blickte ihn an. »Das ist mehr, als ich erwarten konnte. Aber wie kommst du plötzlich auf solche Gedanken? Dahinter steckt doch etwas? Heraus mit der Sprache.«

Vitus gab den Blick zurück und sagte langsam: »Ich möchte, dass du als Capitán die Camborne übernimmst. Es gibt außer dir niemanden, der die seemännische Erfahrung dafür hat, mich eingeschlossen.«

»Das ist nicht dein Ernst.«

»Mir war selten etwas so ernst.«

»Aber, aber …!« Don Pedro gestikulierte wild, was sonst nicht seine Art war. »Ein gefangener spanischer Admiral, der im Krieg gegen England ein englisches Schiff nach Portsmouth segelt, wie stellst du dir das vor? So etwas hat es noch nie gegeben!«

»Ich weiß. Aber vielleicht hat es auch noch nie eine solche Situation gegeben.«

»Das mag sein.«

»Oder traust du es dir nicht zu?«

»Vitus, mein Freund, komme mir nicht so! Natürlich traue ich es mir zu.«

»Du machst es also?«

Don Pedro kämpfte mit sich.

»Du machst es also?«

»Wenn du mir dein Wort gibst, dass ich dieses Schiff niemals gegen meine Landsleute ins Gefecht führen muss.«

»Du hast es. Sofern du mir dein Wort gibst, die Camborne nach England und nirgendwohin sonst zu segeln.«

»Du hast es.«

»Ja, dann …«

»Dann?«

»Willkommen an Bord, Capitán Don Pedro de Acuña!«

 

 

 

»Wenn zwei Feunde etwas wirklich wollen, kann ihnen die ganze Welt entgegenstehen, sie werden es trotzdem schaffen. Genauso wird es mit mir und Don Pedro sein.« Vitus hatte soeben dem staunenden Zwerg in allen Einzelheiten von dem Kommandowechsel berichtet.

Der Winzling nahm den großen Kochlöffel aus dem Suppenkessel und stülpte sein Mündchen vor: »Wui, wui, Örl, der span’sche Peter is’n fitzer Gack, er wird’s schon richten, aber wie soll er truschen mit den Gacken vorm Mast? Obacht un wahrschau! Er truscht span’sch un die andern angelsch.«

Vitus kostete von der Suppe. Der Zwerg hatte, wie es seine Art war, von allem reichlich hineingegeben, ohne darauf zu achten, ob die Vorräte es erlaubten oder nicht. In seinem heutigen Machwerk schwammen große Stücke Pökelfleisch, was die Suppe einerseits schön dick, andererseits aber auch sehr salzig machte. Vitus verzog das Gesicht und antwortete: »Die Sprache wird kein Hindernis sein. Manoel und Diego werden Don Pedro bei der Führung unterstützen. Sie kennen mittlerweile alle englischen Kommandos und können bei Bedarf übersetzen.«

»Wui, wui, wenn du’s sagst, Örl.«

»Ach, da ich gerade hier bin« – Vitus rührte die Suppe für den Zwerg um –, »du bist doch Blutstiller und hast manchmal den sechsten Sinn: Glaubst du, dass der Magister und ich wieder zusammenkommen?«

Der Winzling kratzte sich mit seinem Puppenfinger im roten Haarschopf. »Wui, das is ’ne Sach! ’s is schwer zu holmen, ’s kann sein, ’s kann auch nich sein. Kann’s nich genau spähn, ’s is alles so wuselig im Futur.«

Enttäuscht gab Vitus den Löffel zurück. »Du machst mir wenig Hoffnung.«

»Wiewo, auf Flössel folgt Blauspreit, Örl.« Der Zwerg rührte emsig die Suppe weiter um, denn er wollte nicht, dass Vitus die Tränen in seinem Gesicht bemerkte. Der Grund dafür war, dass er Ungewissheit in der Zukunft gesehen hatte, aber Gewissheit in der Vergangenheit – die Gewissheit, dass mit »der Örlin« etwas Schreckliches geschehen war.

Aber darüber konnte er nicht sprechen.

»Auf Regen folgt Sonne, hoffen wir, dass du recht behältst«, sagte Vitus und ging.

 

 

 

Zwei Stunden später, nachdem Vitus sich abermals um alle Kranken gekümmert hatte, stand er neben Don Pedro auf dem Kommandantendeck und beobachtete, wie die Camborne mit gerefften Haupt- und Bramsegeln geradewegs in den nächsten Sturm hineinkreuzte. Er hatte sich zu dem Spanier gesellt, weil er es für seine Pflicht hielt, diesem in der ersten Zeit seines Kommandos zur Seite zu stehen.

Doch wie sich zeigte, war das nicht vonnöten. Don Pedro hatte das Wasser aller Meere geschmeckt und verstand sein Handwerk exzellent. Seine Befehle kamen kurz und knapp und wurden von Manoel und Diego mit großer Lautstärke ins Englische übertragen. Die Männer der Wache führten sie aus und machten sich weiter keine Gedanken darum, denn wer auf dem Kommandantendeck stand, hatte das Sagen. Das war schon immer so gewesen, und das würde auch immer so sein. Im Übrigen hatte Vitus mit Chock, dem Maat der Backbordwache, und mit Creedy, dem neuernannten Maat der Steuerbordwache, gesprochen, außerdem mit Muddy, Ted und Dunc, den salzwassererprobten Falcons. Alle waren Männer der Praxis und froh, einen erfahrenen Captain in den kommenden Unwettertagen zu haben.

»Was meinst du, wie lange wird es diesmal dauern, bis wir den Sturm abgeritten haben?«, fragte Vitus.

Don Pedro antwortete, ohne den Blick vom Schiff zu nehmen: »Das ist schwer zu sagen. Jeder Sturm ist anders, jeder brüllt, röhrt und ächzt auf seine Art, je nachdem, über welchem Winkel der Erde er tobt. Bei den stärksten Stürmen aber ist es so, als hätte Gott eine gewaltige Orgel auf einer Empore über das Meer gestellt und zöge alle Register, um ihr das tiefste und dumpfeste Brummen zu entlocken, das ein menschliches Ohr vernehmen kann. Es ist ein Brummen, das du überall spürst und das dich am ganzen Körper zittern lässt.«

»Wenn das so ist«, sagte Vitus nachdenklich, »wünsche ich mir, dass Gott seine Orgel nicht spielt.«

»Ich auch«, sagte Don Pedro.

 

 

 

Gott schien das Gespräch zwischen Don Pedro und Vitus nicht gehört zu haben, denn er spielte seine Meeresorgel sechs Tage lang ununterbrochen, und die Melodie der Verdammnis erstarb erst langsam am siebten Tag.

Wer zuvor geglaubt hatte, er hätte die schlimmsten Unwetter bereits kennengelernt, musste leidvoll erfahren, dass er sich gründlich geirrt hatte.

Die Camborne hatte den Basanmast und den Kreuzmast verloren, sie war leckgeschlagen, ihre Pumpen liefen Tag und Nacht, und ihr Deck glich einem hölzernen Trümmerhaufen.

Trotzdem hatte sie sich Meile für Meile nach Süden gekämpft, immer wieder gischtgepeitschte Seen, die wie graue Wände vor ihr auftauchten, überwunden und die Schläge turmhoher Brecher ertragen.

Sie war in einem jammervollen Zustand, was nicht nur für sie, sondern auch für die Besatzung und erst recht für die Kranken galt, deren Zahl sich durch die Seekranken nochmals erhöht hatte.

Die Seekrankheit war ein Zustand, der sich durch große Willkür auszeichnete: Manch einer lernte die gefürchtete Übelkeit gleich bei seiner ersten Fahrt kennen, spie sich die Seele aus dem Leib, wollte am liebsten sterben und stellte fest, dass er danach nie wieder von ihr heimgesucht wurde, andere machten jedes Mal aufs Neue Bekanntschaft mit ihr, egal, wie alt ihre Seebeine waren, und wieder andere hatten das Glück, sie niemals am eigenen Leibe spüren zu müssen.

Zur dritten Gruppe schien Don Pedro zu gehören. Er stand bis zu zwanzig Stunden ohne Unterbrechung auf seinem Posten, unerschütterlich und unzerstörbar, bis er schließlich Vitus’ Drängen nachgab, sich in seine Koje warf, kurze Zeit ruhte und anschließend das Kommando erneut übernahm. Seiner Umsicht und Tatkraft war es in erster Linie zu verdanken, dass die Camborne nicht längst auf dem Meeresgrund lag.

Nur langsam spielte sich der Alltag an Bord wieder ein. Überall fehlte es an tüchtigen Händen, und die Aufräumarbeiten kamen nur schleppend voran.

Es war wieder Sonntag, und trotz der Wetterbesserung war eine Andacht auf dem Hauptdeck nicht möglich. Vitus hatte sich deshalb unter Deck zu den Kranken begeben, um mit ihnen den Herrn zu loben und um Genesung zu beten.

McQuarrie ging es nicht einen Deut besser. Um es mit seinen Worten zu sagen »schiss er sich die Gedärme aus dem Arsch«, und Stonewell hatte einen Rückfall bekommen, vielleicht, weil er von allen am stärksten unter der Seekrankheit litt. Vitus sprach mit beiden eine kurze Fürbitte und verließ die Quarantänestation.

Die Kranken im Behandlungsraum und den angrenzenden Kammern betrachteten ihn aus hohlen Augen. Es waren ihrer noch immer mehr als genug, und Vitus sah, wie elend sie sich fühlten und wie sehr sie einer Aufmunterung bedurften. Deshalb sprach er nicht wie beabsichtigt von Gott und seiner Güte und Gnade, sondern machte ihnen mit allgemeinen Worten Mut, indem er ihnen sagte, der Sturm sei überwunden, die Heimat sei nahe. Vom Zustand der Camborne sagte er nichts.

Doch alle Kranken waren erfahrene Seeleute, und was die fortwährenden Pumpgeräusche zu bedeuten hatten, wussten sie nur zu gut.

»Lasst euch nicht unterkriegen, Männer!«, rief er. »Strengt euch an und werdet gesund, oder wollt ihr als Sieche den Fuß auf die Heimaterde setzen?«

So und ähnlich redete er eine ganze Weile, und während er das tat, bemerkte er nicht, dass der Seegang weiter nachließ und der Wind schwächer wurde.

Er wollte gerade zum Schluss kommen, als Muddy in der Tür erschien, grüßte und meldete: »Empfehlung vom Captain, Sir, er bittet Euch aufs Kommandantendeck.«

»Ich komme.« Vitus wünschte seinen Anbefohlenen gute Besserung und machte sich daran, über die vielen Decks den höchsten Punkt der Camborne zu erklimmen.

»Ich wollte dir etwas zeigen«, sagte Don Pedro und wies mit der Linken nach Backbord. »Kannst du es erkennen?«

Vitus spähte in die angegebene Richtung. »Land«, sagte er. »Die Umrisse einer Küste. Ich glaube nicht, dass es schon England ist.«

Don Pedro lächelte fein. »Da hast du zweifellos recht. Es ist, wenn Steels Karten stimmen und meine Berechnungen mich nicht trügen, die Donegal-Bucht auf der Ostseite Irlands. Aber deshalb allein habe ich dich nicht heraufgebeten. Wenn du genauer hinsiehst, entdeckst du noch mehr.«

Vitus schirmte die Augen ab. »Drei Schiffe!«, platzte er heraus. »Sie scheinen gestrandet zu sein. Sie sind schwer auszumachen, weil sie ziemlich weit auseinanderliegen und keine Segel tragen. Wahrscheinlich ist es ihnen wie uns ergangen, und sie haben ihre Masten verloren. Meinst du …?«

»Ja«, sagte Don Pedro, »das meine ich. »Ich weiß nur nicht, welches der Schiffe die Santa Maria de Visón ist.«

»Dann lass Ted mit seinen scharfen Augen ins Krähennest steigen, sag ihm, wir suchen das Schiff, das am Heck das Kreuz Sant Jago de Compostela trägt.«

Gesagt, getan. Wenig später meldete Ted, dass es das mittlere Schiff sein müsse, es sei das einzige mit einem reichverzierten Kreuz unter der Hecklaterne.

»Está bien!«, rief Don Pedro, und es bedurfte keiner Übersetzung, um zu erkennen, dass er zufrieden war.

Vitus wusste nicht, was bei ihm überwog: die Freude darüber, dass die Santa Maria trotz aller Fährnisse gefunden worden war, oder der Zweifel, ob es ihm gelingen würde, den Magister zu treffen.

»Was grübelst du?«, fragte Don Pedro.

»Ach, nichts. Ich weiß nur nicht, wie ich den Magister vom Schiff holen soll – falls er überhaupt bereit ist, mitzukommen.«

»Ich könnte die Camborne etwas näher heranbringen, aber ich weiß nicht, ob es dir etwas nützt?«

»Ich weiß es auch nicht, Pedro. Ich gehe bis zum Dunkelwerden unter Deck, vielleicht fällt mir etwas ein.«

 

 

 

Nach einem einfachen Abendessen, das Vitus und Don Pedro in Steels Kajüte eingenommen hatten, fragte der Spanier: »Was willst du mir sagen, mein Freund? Ich sehe es dir an, dass du etwas vorhast, es aber nicht aussprechen magst.«

Vitus wischte sich den Mund und rang sich ein Lächeln ab. »Es ist so, wie du sagst. Ich habe hin und her überlegt, wie ich unbemerkt an die Santa Maria herankomme, aber mir ist nichts eingefallen. Es geht nicht.«

Don Pedro riss die Augen auf. »Heißt das, du willst dein Vorhaben aufgeben?«

»Nein.«

»Nein? Ich verstehe nicht …«

»Ich will mein Vorhaben durchführen und dabei durchaus bemerkt werden – als Spanier.«

Don Pedro lachte. »Du machst Witze.«

»Keineswegs. Zunächst machen wir aus der Camborne ein spanisches Schiff, indem wir die spanische Flagge am Mast auswehen lassen, und dann lasse ich mich morgen früh in der Dämmerung mit dem Beiboot zur Santa Maria rudern. Du müsstest die Camborne zu dem Zweck bis auf siebenhundert oder achthundert Yards an den Strand heranbringen. Er heißt hier Streedagh-Strand, wie mir einer der Matrosen berichtet hat. Das Ganze wird nicht leicht, aber morgens ist der Wind meistens ablandig, und die Gefahr, an der Küste zu zerschellen, ist somit geringer.«

Don Pedro schob sich den letzten Bissen in den Mund. »Wenn ich dich recht verstehe, willst du dich also als Engländer von einem vermeintlich spanischen Schiff aus an Land rudern lassen und deinen Freund besuchen? Wenn das mal gutgeht.«

»Ich werde meinem Freund nicht als Engländer begegnen, sondern als spanischer Admiral.«

»Wie bitte?« Don Pedro blickte verständnislos.

»Vorausgesetzt, du bist so freundlich und leihst mir deine Admiralskleidung. Sie ist durch deinen Schiffbruch zwar etwas ramponiert, aber immer noch ansehnlich genug, um damit gehörig Respekt einzuflößen. Deine Oberschenkelhose könnte mir etwas zu kurz sein, weil du kleiner bist als ich, aber das dürfte in der Morgendämmerung kaum auffallen. Wenn du erlaubst, werde ich als Admiral Don Pedro de Acuña die Santa Maria besteigen und nach meinem Freund suchen.«

Don Pedro fehlten die Worte.

»Die Gefahr, dass die Besatzung meine Identität anzweifelt, ist gering einzuschätzen, weil sie dich kaum kennen dürfte. Du kommst von der San Salvador, einem Schiff des Guipúzcoa-Geschwaders, die Offiziere und Mannschaften der Santa Maria dagegen gehören dem Levante-Geschwader an. Es wäre schön, wenn Manoel und Diego mich hinüberrudern könnten, denn sie sind Spanier, was meinen Auftritt noch glaubwürdiger machen würde. Die Gefahr, dass sie mich verraten, halte ich nicht für groß, weil sie jetzt englische Matrosen sind und ihren Eid auf die Königin geleistet haben.«

Don Pedro kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. »Du hast wirklich an alles gedacht. Am liebsten würde ich mitkommen.«

»Das würde ich dir nicht raten. Die Sache ist gefährlich. Die Iren kennen als Strandräuber keine Gnade. Jedes Schiff, das an ihrer Küste strandet, rauben sie erbarmungslos aus, und die erschöpfte Besatzung machen sie einen Kopf kürzer. Gleiches gilt natürlich für die englischen Truppen, die Irland besetzt halten: Sie warten nur auf entkräftete, hilflose Spanier, um ihnen den Garaus machen zu können. Bleibe also besser auf der Camborne, sie braucht dich dringend bei dieser Aktion.«

»Scheint, dass du recht hast.«

»Wirst du mir also helfen?«

Don Pedro grinste. »Was bleibt mir anderes übrig. Und wenn du schon meine Admiralskleidung anziehen willst, dann besorg dir noch ein großes Barett, das möglichst bis über die Ohren reicht.«

»Warum das?«

»Weil es keine blonden spanischen Admirale gibt.«

»Werde ich tun!«

Beide gaben sich die Hand.

 

 

 

Am Montagmorgen, noch vor dem ersten Hahnenschrei, ließ Vitus sich als Admiral Don Pedro de Acuña an Land rudern. Neben Manoel und Diego, die sich in die Riemen legten, waren noch Chock, Muddy, Huck und Ted mit dabei, alle vier mit mehreren schon geladenen Musketen bewaffnet. Sie lagen auf dem Boden des Boots, um nicht gesehen zu werden.

Nur langsam näherten sie sich der Santa Maria. Das Schiff lag schräg auf der Steuerbordseite und war durch die Ebbe trockengefallen. Grau-verschwommen grüßte im Morgenlicht ihr Heck, und Vitus fiel auf, dass die große Laterne darüber nicht brannte.

Manoel und Diego ruderten mit aller Kraft, doch sie konnten nicht verhindern, dass ihr Boot durch die Strömung abgetrieben wurde. Vitus schätzte, dass der Landungspunkt vier- bis fünfhundert Yards vom Ziel entfernt sein würde. »He, Ted!«

»Sir?«

»Komm hoch und sperr mal die Augen auf. Kannst du irgendwelche Aktivitäten auf der Santa Maria entdecken?«

Ted spähte angestrengt und sagte dann: »An Deck ist niemand zu sehen, Sir, aber am Rumpf scheinen ein paar Männer zu arbeiten. Sie sind schlecht wahrzunehmen, weil sie sich vor dem dunklen Hintergrund kaum abzeichnen.«

»Kannst du erkennen, wie viele es sind?«

»Schwer zu sagen, aber bestimmt nicht mehr als eine Handvoll, Sir. Sie versuchen, geborstene Planken zu erneuern.«

»Hm.« Vitus fasste sich weiter in Geduld. Ein Schiff wie die Santa Maria hatte ein paar hundert Männer an Bord, und er fragte sich, ob alle außer den paar Arbeitern am Rumpf noch unter Deck schliefen, doch dann verwarf er den Gedanken. Viel wahrscheinlicher schien ihm, dass die Schiffsführung Trupps zusammengestellt hatte, die Lebensmittel von der Landbevölkerung besorgen sollten. Aber dazu waren nicht mehr als ein, zwei Dutzend Mann nötig. Wo war der Rest?

Nach einer kleinen Ewigkeit stieß der Bug des Beiboots endlich in den Ufersand. Vitus sprang als Erster an Land und verlor fast das Gleichgewicht. Er war auf etwas Hartes getreten. Er blickte nach unten und sah etwas schimmern. Es war – Gold!

Er bückte sich und fasste zu. Es war ein Gegenstand. Eine goldene Kette. Wie kam eine solche Kostbarkeit in den Sand? Er überlegte noch, da hörte er Manoel hinter sich: »Sir, hier!«

Er fuhr herum und sah, dass der Spanier einen Degen in der Hand hielt. »Woher hast du den?«

»Lag im Sand, Sir, wie die Kette.«

»Großer Gott!« Langsam dämmerte es Vitus, welche Katastrophe sich hier abgespielt hatte. Die Santa Maria war vor einigen Tagen im Sturm an die Küste geworfen worden, sie war auf Grund gelaufen und hatte sich nicht mehr freisegeln können, da der Wind direkt aus Westen kam. Brecher auf Brecher hatte auf ihren Rumpf eingeschlagen, und ihn teilweise zerstört. Die Entfernung bis zum rettenden Strand war für die Schiffbrüchigen so weit wie die zum Mond gewesen. Dennoch mussten viele versucht haben, ihn zu erreichen – auch Offiziere, die genauso wie alle anderen ertrunken waren. Und dabei die goldenen Attribute ihres Standes verloren hatten.

Vitus widerstrebte es, aber der Zweck heiligte die Mittel, er hängte sich die Goldkette um den Hals und schnallte sich den Degen um. »Kommt, Männer.«

Während sie am Strand zu dem havarierten Schiff gingen, sahen sie angetriebene Leichen, das Gerippe eines Boots und noch mehr Preziosen im Sand, darunter auch einige goldene Dukaten, aber Vitus befahl Manoel und Diego, die Finger davon zu lassen, und vertröstete sie auf den Rückweg.

Je näher sie dem Schiff kamen, desto mehr wurde es Vitus zur Gewissheit, dass die Santa Maria ein Wrack war. Sie reparieren zu wollen, war hoffnungslos. Wie verzweifelt mussten die Männer sein, die es dennoch versuchten!

Als sie auf Rufweite herangekommen waren, ging es wie ein Ruck durch die Arbeitenden. Einer von ihnen hatte Vitus bemerkt. Er rief etwas, sie schlossen sich zusammen und starrten den Ankömmlingen furchtsam entgegen.

Vitus ließ Manoel und Diego, die beide eine geladene Muskete über der Schulter trugen, hinter sich und ging noch ein paar Schritte vor. Dann blieb er stehen und gab den Männern der Santa Maria Gelegenheit, ihn zu betrachten. »Buenos días, marineros«, sagte er in akzentfreiem Spanisch und dankte gleichzeitig seinem Schöpfer dafür, dass er achtzehn Jahre seiner Jugend in einem spanischen Zisterzienserkloster verbracht hatte. »Ich bin Don Pedro de Acuña, Admiral Seiner Allerkatholischsten Majestät Philipps II. und stellvertretender Befehlshaber des Guipúzcoa-Geschwaders aus dem Baskenland. Erkennt mich jemand von euch?«

Der Mutigste unter den Matrosen traute sich zu antworten: »Leider nein, Admiral.«

Es war genau die Antwort, die Vitus hören wollte. Spätestens jetzt war er ganz sicher, dass seine Maskerade niemandem auffallen würde. Mein Schiff, die San Juan de Córdoba, liegt da draußen.« Den Schiffsnamen hatte er mit Bedacht gewählt, da es in der Armada mindestens sechs Einheiten gab, die San Juan hießen, oder deren Name mit San Juan begann. Niemand würde auf die Idee kommen, dass es die San Juan de Córdoba nur in seiner Phantasie gab. »Sie ist eine Prise, die ich vor zwei Jahren den Engländern abgejagt habe. Offenbar hatten meine Männer und ich mehr Glück mit dem Wetter als ihr. Nicht wahr, Leute?«

Manoel und Diego nickten eifrig.

»Wo sind die anderen Mannschaften? Ihr seid doch nicht die einzigen Überlebenden?«

Der Mutige wollte antworten, aber Vitus kam ihm zuvor: »Wie heißt du?«

»Eduardo.«

»Gut, Eduardo. Wo sind die anderen?«

Gestenreich erklärte Eduardo, dass von den vierhundertdreißig Männern etwa zwanzig von Don Francisco de Marcos, dem Capitán, ausgeschickt worden seien, um bei den umliegenden Bauern Vorräte zu beschaffen. Es solle in der Nähe ein Dorf namens Grange geben. Das sei vor drei Tagen gewesen. Vor zwei Tagen sei das Schiff in der Nacht überfallen worden, von wem, wisse er nicht, aber die Angreifer hätten sämtliche Decks durchkämmt und alles niedergehauen, was sich ihnen entgegenwarf. Anschließend hätten sie geplündert und das Wenige, was noch von Wert war, von Bord geschleppt. Er und seine Kameraden hätten nur dadurch überlebt, dass sie abkommandiert worden waren, um an Land eine Latrine einzurichten. Nun versuchten sie, das Schiff wieder flottzumachen. Die Hoffnung, es zu schaffen, sei nicht sehr groß, aber vielleicht würden die Furiere ja doch noch zurückkommen, und irgendetwas müsse man ja machen.

»Heißt das, niemand ist im Augenblick an Bord?«, fragte Vitus.

»Niemand, Admiral.«

Vitus versuchte, sich seine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. »Bist du sicher?«

Eduardo zuckte mit den Schultern.

»Ich werde mir selbst ein Bild machen. Ihr bleibt hier und ruht euch aus. Das Schiff ist ohnehin verloren. Was aus euch wird, werden wir sehen.«

»Jawohl, Admiral. Könnt Ihr uns nicht auf Euer Schiff mitnehmen?«

»Wie gesagt, wir werden sehen. Manoel und Diego, ihr bleibt ebenfalls hier und passt auf, dass Eduardo und seine Männer sich auch wirklich ausruhen.« Vitus zwinkerte vielsagend, und die beiden verstanden: Sie sollten die Überlebenden bewachen.

Er ergriff ein am Rumpf herunterhängendes Tau und hangelte sich empor, wobei er hoffte, keine allzu schlechte Figur zu machen. Es lag schon einige Zeit zurück, dass er derartige Kletterpartien gemacht hatte.

Oben an Deck fühlte er sich an den Anblick auf der Camborne erinnert. Nichts befand sich mehr da, wo es einmal gewesen war. Er überlegte, wo er seine Suche am besten beginnen solle, und entschied sich für die Kammern unter dem hohen Achterkastell. Sie waren den Offizieren vorbehalten, und da der kleine Gelehrte ein studierter Mann war, hatte er sicher einen entsprechenden Raum bewohnt. Er suchte die Kammern systematisch ab, wobei er wiederholt »Magister!« rief, doch es war, als brülle er gegen den Wind. Wo er auch nachschaute, nirgendwo fand sich eine Spur. Ihm fiel ein, dass der Magister verletzt worden war und demzufolge vielleicht im Bauch des Schiffs steckte, dort, wo die ärztliche Versorgung vorgenommen wurde, aber er fand weder den Magister noch einen solchen Ort. Stattdessen begegneten ihm überall nur Chaos und Zerstörung und – Tote. Bei jeder Leiche, die von kleinerer Gestalt war, sank ihm das Herz, doch der Magister war nicht dabei. Vitus begann an seinem Verstand zu zweifeln. Er hatte doch genau gesehen, dass der Magister auf dem Achterkastell von einer Kugel getroffen worden war! Wo also war der kleine Gelehrte?

In seiner Verzweiflung begann er, ihn auf Lateinisch zu rufen, denn er wusste um seine Vorliebe für die Sprache der Wissenschaft. Er rief: »Hic Vitus gaudium magnum!«, was so viel wie »Hier ist Vitus, die Freude ist groß!« heißen sollte.

Natürlich war das sinnlos, und er schalt sich dafür. Deshalb begann er seine Suche von vorn und beschränkte sich darauf, »Magister!« zu rufen.

Umsonst, umsonst, umsonst.

Er konnte nicht den ganzen Tag auf seine Nachforschungen verwenden, am Strand warteten die Überlebenden der Santa Maria und Manoel und Diego, und im Beiboot warteten Chock, Muddy und Ted, und auf der Camborne warteten Don Pedro, der Zwerg, die Kranken und sämtliche Männer der Besatzung.

Er konnte die Rückreise nicht länger hinauszögern, nicht wegen eines einzigen Mannes, der überdies unauffindbar war.

Er kämpfte um Haltung. Es half nichts. Er musste zurück. Er nahm das erstbeste Seil, das vom Rumpf herabhing und kletterte daran nach unten. Erst als er im Sand angekommen war, merkte er, dass er auf der falschen Schiffsseite stand. Er umrundete den Bug, um zu den wartenden Männern zu gelangen, doch ein leises Geräusch ließ ihn stehen bleiben. Er blickte sich um. Niemand war zu sehen. Gerade wollte er weitergehen, da erklang das Geräusch wieder. Es hörte sich an wie ein Seufzen, das manche Schläfer von sich geben.

Doch woher kam es?

Eine Möwe kreischte über ihm im Flug, aber sie konnte nicht die Urheberin des Geräusches sein. Dennoch schaute er nach oben. Und was er sah, war ein Anblick, den er zeit seines Lebens nicht vergessen würde: Im Netz unter dem Bugspriet, in zwanzig Fuß Höhe, lag ein Mann. Ein kleiner Mann. Er lag da mit angelegten Armen, den Kopf nach vorn gewandt, und sein Gesicht zeigte nach unten.

Es war der Magister.

Vitus musste an sich halten, um seine Freude nicht herauszuschreien. Er hatte seinen Freund gefunden! »Magister«, rief er. »Kannst du mich hören? So hör doch! Ich bin hier unten, ich komme hoch und hole dich da raus! Sag doch etwas! Lebst du überhaupt noch? He, Magister, lebst du überhaupt noch?«

Ein Zucken ging durch das Gesicht des kleinen Gelehrten. Er blinzelte. Dann seufzte er wieder. Und blinzelte nochmals.

»So hör doch, Magister, ich bin’s, Vitus! Ich hole dich da oben raus! So sag doch etwas!«

Der Magister gab einen krächzenden Laut von sich und grinste schief. »Unkraut vergeht nicht.«

Vitus’ Herz machte einen Sprung. Er glaubte, niemals zuvor einen schöneren Satz gehört zu haben. »Warte, ich hole dich!«

Mit fliegender Hast erklomm er das Deck erneut, eilte zum Bug und stand wenig später über seinem Freund. »Ich fürchte, ich kann nicht …«, krächzte der Magister.

»Du brauchst gar nichts zu können, überlass nur alles mir«, sagte Vitus froh. Er stieg hinab in das Netz, hielt sich am Bugspriet mit einer Hand fest und zog mit der anderen Hand den kleinen Mann zu sich heran. Obwohl der Magister bis auf die Knochen abgemagert war, fiel es Vitus schwer, mit seiner Last den Weg zurück zu bewältigen, doch die Freude verlieh ihm zusätzliche Kräfte. Auf dem breiten Deck des Vorkastells wollte er seinen Freund auf die Beine stellen, aber es gelang nur halb. Der Magister keuchte: »Bin etwas schwach im Schenkel.«

»Das macht nichts, ich seile dich ab und dann geht’s zurück zur Cam …«

»Sir!« Vitus wurde unterbrochen. Die Stimme war schrill und voller Angst. Sie gehörte Manoel. »Da hinten am Strand, Sir, Reiter! Es muss die Lavia sein, auf die sie’s abgesehen haben!«

Vitus schaute in die angegebene Richtung und erkannte, dass Manoel recht hatte. Das Wrack wurde von einer Schar Reiter umkreist, von denen einige absaßen und auf das Schiff kletterten.

»Wenn es mit der Lavia so steht wie mit der Santa Maria, werden die Herren nicht viel finden«, sagte Vitus grimmig. »Und wenn dem so ist, werden wir es sein, die danach die Ehre haben, sie zu empfangen. Es sind mindestens fünfzehn Mann, nichts wie weg!«

In großer Eile knüpfte Vitus zwei Schlingen, in die der Magister seine Füße stellen musste, warf das dazugehörige Seil über eine noch stehende Rah und zog an. »Versuche, dich aufrecht zu halten, Magister!« Der kleine Mann hob ab, schwebte in der Luft und wurde Zug um Zug außenbords abgeseilt.

Vitus folgte in halsbrecherischem Tempo, warf einen Blick zur Lavia hinüber und sah, dass sämtliche Reiter wieder aufgesessen waren und auf die Santa Maria zuritten. Verdammte Plünderer und Halsabschneider! Es würde wenig nützen, ihnen zu sagen, er sei kein spanischer Admiral, sondern der Earl of Worthing, und es würde noch weniger nützen, sie darum zu bitten, ihnen allen das Leben zu schenken.

Nein, das Heil lag in der Flucht. Von den Reitern bis zur Santa Maria waren es vielleicht noch tausend Yards, von der Santa Maria bis zu dem auf der anderen Seite am Strand liegenden Beiboot vielleicht die Hälfte. »Kannst du laufen, Magister?«

Der kleine Gelehrte schüttelte den Kopf. »Jede Schnecke wäre schneller.«

»Gut, dann geht es nicht anders.« Vitus nahm den Magister über die Schulter und brüllte: »Los, Männer, folgt mir, auch du, Eduardo, mit deinen Leuten, los, los, kommt alle mit, rennt um euer Leben!«

Er lief los, ohne sich umzusehen, und fluchte insgeheim über den weichen Sand, in den er bei jedem Schritt einsank. Weiter, weiter! Hinter sich hörte er den stoßweisen Atem der anderen. Manoel überholte ihn. Er schien schnelle Beine zu haben. »Ja, lauf voraus zum Boot!«, keuchte Vitus. »Sie sollen schießen … uns die Bande vom Leib halten!«

Weiter, weiter! Sein Puls raste, seine Brust drohte zu zerspringen. Der Magister schien einen Körper aus Blei zu haben. Weiter, weiter!

»Sie kommen näher!«, schrie hinter ihm jemand.

»Hilfe, Hilfe!«

»Lauft, verflucht noch mal, lauft!«

Er wurde langsamer, seine Kraft reichte einfach nicht. Er musste aufgeben.

Er wollte nicht aufgeben.

Niemals!

Schüsse krachten plötzlich. Eine Stimme schrie: »Köpfe runter!« Es war Chocks Stimme.

Er riss die Augen auf. Das Beiboot erschien wie im Nebel vor ihm. Mündungsblitze stachen ihm in die Augen. Er mobilisierte die letzten Kräfte. Noch fünfzig Schritte, noch dreißig, noch zehn …

Irgendjemand nahm ihm den Magister ab und hob ihn ins Boot. Er taumelte hinterher. Noch mehr Schüsse. Rufe. Pferdegetrappel in unmittelbarer Nähe.

»Pullt, Jungs, pullt!«

Er lag auf einer Ducht und sah Chock und Muddy, die beide mit aller Kraft ruderten.

Schüsse fielen. Manoel, Diego, Huck und Ted feuerten auf die Reiter. Sie standen am Strand und schossen zurück.

»Runter mit den Köpfen.«

Weitere Schüsse.

»Pullt, pullt, pullt!«

»Wir schaffen es!«, hörte Vitus eine Stimme rufen. Es war die von Ted. »Hooray, hooray, hooray!«

Er sank zurück und verlor die Besinnung.

 

 

 

»Das war knapp«, sagte jemand zu ihm.

Er schlug die Augen auf und erblickte den Magister. Der kleine Gelehrte lag wie er noch im großen Beiboot und wartete darauf, an Bord der Camborne gehievt zu werden. An Deck erklangen Befehle, Schritte polterten, Geschäftigkeit herrschte. Er hörte, dass die Geschützpforten geöffnet und die Kanonen ausgerannt wurden. Ein Gefühl grenzenloser Erleichterung durchströmte ihn. Die Gefahr war überstanden, der kleine Gelehrte gerettet. »Ja«, sagte er, »aber jetzt bist du in Sicherheit.«

 

 

 

Ein Tag war vergangen. Vitus hatte sich von der ungeheuren Anstrengung so weit erholt, dass er sich die Wunde des Magisters ansehen konnte. Es war ein faustgroßes Loch oberhalb des rechten Beckenknochens. Das Fleisch war durch die Musketenkugel bis zum Ansatz der unteren Rippe herausgerissen worden, die Leber war gottlob nicht verletzt.

»Es ist nur ein Kratzer«, sagte der Magister, der auf der linken Seite lag, damit Vitus die Verletzung besser betrachten konnte.

»Kratzer ist gut. Du musst Höllenqualen durchgestanden haben, als ich dich im Schweinsgalopp zum Beiboot trug.«

»Ich habe noch ganz andere Sachen aushalten müssen.«

Vitus fragte sich, was damit wohl gemeint war, beschloss aber, sich zunächst auf die Wundversorgung zu konzentrieren. »Ich sehe, jemand hat die Blessur schon behandelt. Wer war das?«

»Ich selbst.«

»Was, du?« Vitus wunderte sich. »Hattet ihr keinen Arzt an Bord?«

»Ich würde ihn eher als Schlachter bezeichnen. Er fiel schon im Kanal. Seitdem waren wir ohne Arzt.«

»Das müssen ja schlimme Zustände bei euch an Bord gewesen sein.«

»Schlimm ist gar kein Ausdruck.«

Vitus beschloss abermals, nicht weiter zu fragen. Die Verletzung hatte Vorrang. Er ging zum Regal des Behandlungsraums, wo er mehrere Pulver aufbewahrte, und entschied sich für eines, das die Wirkstoffe von Arnika und Beinwell enthielt. »Die Wunde ist tief, die Wundränder sind entzündet. Aber am Boden hat bereits der Heilungsprozess eingesetzt.«

»Ist mir auch schon aufgefallen. Habe die Wunde gewaschen und danach gut bluten lassen, um dem Wundbrand ein Schnippchen zu schlagen.«

»Das scheint dir gelungen zu sein.«

»Habe eben gutes Heilfleisch.« Zum ersten Mal, seit sie wieder zusammen waren, lachte der Magister.

»Trotzdem wollen wir den Genesungsvorgang unterstützen. Ich werde die Wunde nicht nähen, dazu ist es zu spät, sondern nur die Ränder behandeln.«

»Womit?« Wie immer wollte der kleine Gelehrte alles ganz genau wissen.

Vitus erklärte es ihm. Anschließend legte er einen Verband an und verordnete Ruhe. »Am besten, du schläfst dich gesund.«

»Ich will aber nicht schlafen.«

Vitus musste lächeln. Der Magister begann wieder der Alte zu werden. »Und warum nicht, wenn ich fragen darf?«

»Ich … ich muss mit dir reden.«

»Was, jetzt? Ich glaube nicht …«

»Doch!«

Vitus kannte den Starrsinn des kleinen Gelehrten. Wenn der sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann war er durch nichts davon abzubringen. Andererseits war die Gelegenheit günstig, denn niemand sonst befand sich im Raum. »Gut, reden wir.« Er setzte sich auf die Kante der Pritsche.

»Tja.« Der Magister kratzte sich an der hohen Stirn. »Jetzt, wo du einverstanden bist, fällt mir auf einmal nichts mehr ein.«

»Mir würde es auch schwerfallen, den Anfang zu machen.«

»Habe mir in der Vergangenheit tausendmal überlegt, was ich sagen würde, wenn wir uns wieder träfen. Aber jetzt ist Ebbe in meinem Hirn.«

Vitus legte die Hand auf den Arm des kleinen Gelehrten: »Sag doch einfach, dass es dir leidtut. Dann erginge es dir nämlich genau wie mir. Mir tut es auch leid, dass der verdammte Krieg uns auseinandergebracht hat. Wie leid, das kann ich dir gar nicht sagen. Es gab Tage, da hätte ich mein Leben dafür gegeben, mit dir reden zu können.«

»So war’s auch bei mir.« Die Augen des Magisters leuchteten.

»Ich hätte mich niemals so benehmen dürfen, als du Greenvale Castle verlassen wolltest.«

»Ich hätte niemals gehen dürfen. Nicht wegen dieses Scheißkriegs.«

Eine Weile sagten beide nichts.

»Ist jetzt wieder alles gut?«, fragte der Magister.

»Natürlich, altes Unkraut.«

»Selber altes Unkraut!«

Sie lachten. Und das Lachen nahm ihnen die Verlegenheit.

»Weißt du«, sagte der Magister, »wovor ich am meisten Angst hatte damals, bevor ich ging? Ich malte mir aus, ein spanischer Soldat der Invasionsarmee würde nach Greenvale Castle kommen, mich verächtlich von oben bis unten anschauen und mich fragen, warum ich nicht zu den Fahnen meines Vaterlands geeilt sei. Ob ich ein Feigling sei, ein Drückeberger, ein Hasenfuß. Und das wollte ich um alles in der Welt nicht sein.«

»Das bist du ja auch nicht.«

»Ich hätte trotzdem mit dir kommen sollen, dann wäre mir viel erspart geblieben. Bevor ich damals ging, habe ich dir auch gesagt, dass von zwei Kontrahenten nicht immer nur einer das Recht auf seiner Seite hat und dass es keinen Ausschließlichkeitsanspruch darauf gibt. Ich sagte, der Allmächtige möge entscheiden, welcher Partei er den Sieg schenkt. Nun, er hat sich entschieden – für England und gegen Spanien.«

Vitus nickte.

»Nie hätte ich gedacht, wie viele Intrigen, Bestechungen, lächerliche Eitelkeiten auf dem Offiziersdeck eines spanischen Kriegsschiffs zu Hause sind. Jetzt weiß ich es, denn ich habe eine entsprechende Kammer bewohnt. Ich war der persönliche Schreiber des Capitáns Don Francisco de Marcos, eines hartherzigen Mannes, der nicht den kleinsten Widerspruch duldete. Er war ein humorloser Blaustrumpf, dünkelhaft und dumm. Bei jeder Kleinigkeit ließ er die Peitsche sprechen und spielte innerhalb der Besatzung einen gegen den anderen aus – es war das Einzige, was ihm wirklich Freude bereitete. Alles andere war ihm egal. Sogar der Krieg war für ihn nur insoweit interessant, als er sich durch ihn Reichtum und Beförderung versprach. Und wie er dachten viele. Viel zu viele.«

»Ist er tot?«

»Ja, erschlagen von Strandräubern, wie fast alle anderen, die nicht ertrunken sind. Wenn ich mich versündigen wollte, würde ich sagen, Gott sei Dank!«

»Nicht alle spanischen Schiffsführer sind so wie dieser Don Francisco de Marcos.«

Der Magister blickte Vitus überrascht an. »Woher willst du das wissen?«

»Weil dieses englische Schiff von einem der fähigsten und ehrenhaftesten spanischen Offiziere befehligt wird.«

»Willst du mir einen Bären aufbinden?«

»Nein, es ist wirklich so.«

»Und das mitten im Krieg?«

»Du sagst es.« Vitus erzählte die außergewöhnliche Geschichte von Don Pedro, der als Gefangener an Bord gekommen war und nun als Kapitän die Camborne nach England segelte. Als er geendet hatte, sagte der kleine Gelehrte nachdenklich: »Das klingt wie ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht, aber wenn du sagst, dass es so ist, wird es so sein. Jedenfalls gibt es mir ein wenig den Glauben an meine Landsleute zurück. Im Übrigen bin ich ein Mann der Jurisprudenz und allein schon von daher verpflichtet, gerecht zu sein. Discite iustitiam moniti, wie es so schön bei Vergil heißt.«

»Glaub mir, es gibt in jedem Volk und an jedem Ort solche und solche. Denk an die Schlagetots, die euch Wehrlose nach dem Sturm überfallen haben.«

»Ja, das stimmt.« Der Magister krächzte und räusperte sich.

»Möchtest du etwas trinken? Ich habe frisches Wasser.«

»Wasser? Willst du mich vergiften?«

Vitus lachte. Der Magister war wirklich schon wieder der Alte. Er stand auf und holte zwei Becher mit Brandy. »Prost, altes Unkraut!«

»Selber altes Unkraut!«

»Jetzt musst du mir aber erzählen, wie es dir gelang, den Überfall der Strandräuber zu überleben.«

»Wenn ich bedenke, dass ich zu dem Zeitpunkt noch kaum aufstehen konnte, ist es fast ein Wunder, dass ich überlebt habe. Genau genommen habe ich meine Rettung nur dem heiligen Jakobus zu verdanken.« Der Magister trank noch einen Schluck.

»Der heilige Jakobus? Meinst du den, nach dem der Jakobsweg benannt wurde? Was hat denn der mit der ganzen Sache zu tun?« Vitus folgte dem Beispiel des kleinen Gelehrten und trank ebenfalls noch einen Schluck.

»Genau den meine ich. Der heilige Jakobus war aus Holz und schon ziemlich wurmstichig und altersschwach, als ich ihn in La Coruña kennenlernte. Er war die Galionsfigur der Santa Maria, die ich dort bestieg, um den Dienst für mein Vaterland aufzunehmen. Weil der heilige Jakobus so altersschwach war, brach er schon bei einem der ersten Stürme im Kanal ab. Wahrscheinlich wollte er die Bekanntschaft von Poseidon machen, vielleicht auch mit einer hübschen Meerjungfrau anbandeln, auf jeden Fall war er spurlos verschwunden. Fortan fuhren wir ohne Galionsfigur, aber jedes Mal, wenn ich in den Garten musste, fiel mir die Bruchstelle auf. Einige, die bei der Gelegenheit neben mir hockten, meinten, es brächte Unglück, dass der heilige Mann nun nicht mehr am Bug voranpilgerte, und wenn ich ehrlich bin, ging es mir auch ein wenig so. Aber du weißt, dass ich von Haus aus optimistisch bin, und deshalb machte ich mir keine weiteren Gedanken. Das erste Mal jedoch zweifelte ich, als ich den Schuss in die Hüfte bekam, ich …«

»Das war beim Kampf mit unserem Schiff. Einer unserer Musketenschützen traf dich, ich sah, wie du zusammenbrachst. Es war, als wäre ich selbst getroffen worden. Seitdem ist die Camborne hinter der Santa Maria her. Ich wollte dich unbedingt einholen und deine Wunde verarzten. Und wie du siehst, ist es mir gelungen.«

Der Magister blinzelte. »Die ganze Zeit bist du hinter mir her? Beim Blute Christi, ich wusste gar nicht, dass du so hartnäckig sein kannst! Spätestens jetzt weiß ich, dass du mir mein Fortgehen nicht mehr krummnimmst.«

Um die neuerlich aufkommende Verlegenheit zu überbrücken, fragte Vitus: »Und wie ging es nun weiter mit dem heiligen Jakobus?«

»Das zweite Mal zweifelte ich an meinem Optimismus, als der Sturm uns hier an die Küste warf, und das dritte Mal, als die Strandräuber kamen. Es war ein bunt zusammengewürfelter Haufen, man sah, dass die Kerle sich von überall her zusammengerottet hatten. Sie waren mit allen nur erdenklichen Waffen ausgerüstet, vom guten Militärdegen bis hin zur gemeinen Mistgabel, aber in ihrer aller Augen stand nur eines: Mordlust und Gier. Es war in den Abendstunden. Wie die Ameisen krabbelten sie auf das Schiff, und ich überlegte verzweifelt, wo ich mich verstecken könnte. Es schien aussichtslos. Die Schandbuben durchsuchten auch den kleinsten Winkel, ihren habsüchtigen Augen entging nichts, sie schienen das Ganze nicht zum ersten Mal zu machen. Ich floh vor ihnen von Kammer zu Kammer, von Deck zu Deck. Die Situation wurde immer kitzliger, zumal ich kaum noch laufen konnte. Ich befand mich mittlerweile im Vorschiff, und da fiel mir, Deo gratias, der heilige Jakobus ein, der seinen Platz schon im Kanal verlassen hatte. Ich beschloss, an seiner statt dem Schiff voranzupilgern, kletterte über den Galion nach vorn, kroch unter den Bugspriet, machte mich lang und hielt mich an einigen gespannten Seilen fest.«

»Donnerwetter, darauf wäre ich nicht gekommen.« In Vitus’ Worten schwang Bewunderung mit. »Du warst sehr klug.«

»Ich war der heilige Jakobus. Und ich überlebte als Einziger, denn niemand von den Schlagetots merkte, dass ich nicht aus Holz war. Irgendwann, als die Hunde fort waren, fehlte mir die Kraft, mich weiter zu halten. Ich musste loslassen und fiel in das Netz unter dem Bugspriet.« Der Magister blinzelte kurzsichtig.

»Und dabei hast du wieder einmal deine Berylle verloren.«

»Die habe ich schon viel früher verloren. Ein Windstoß blies mir das Gestell von der Nase.«

»Wir werden dir in Worthing neue Gläser machen lassen.«

»Endlich wieder besser sehen! Das ist Musik in meinen Ohren.«

»Noch ist es nicht so weit. Erst einmal schläfst du.«

»Aber ich …«

»Keine Widerrede, oder willst du einen neuen Streit vom Zaun brechen?«

»Da sei Gott vor!«

»Na siehst du.« Vitus zog dem Magister die Bettdecke bis zum Hals und verließ den Raum.

Er war glücklich.