Der Lordadmiral Howard
»Diese Aufgabe zu bewältigen ist eine Herausforderung ohne Beispiel. Ich will nicht dramatisch werden, Sir, aber das Wohl und Wehe von über drei Millionen Engländern kann davon abhängen, das Schicksal eines ganzen Volkes!«
Das trübe Aprilwetter hielt bis zum Ende des Monats an und erstreckte sich sogar in den Mai hinein. Über ganz Südengland hingen dichte Wolken, die nur selten von einer schwachen, messingfarbenen Sonne durchdrungen wurden. Auch in London war der Himmel bedeckt, nur dass hier zu allem Übel noch der Nebel kam, der zäh und milchig von der Themse heraufzog.
In Barn Elms, dem Wohnsitz von Sir Francis Walsingham, waren deshalb im Arbeitszimmer Kerzen entzündet worden. Sie beleuchteten einen Tisch aus poliertem Rosenholz, auf dem zwei Schiffsmodelle standen. Eines stellte die spanische Nuestra Señora de la Concepción dar, die wegen ihrer schweren Bestückung Cacafuego, »Feuerscheißer«, genannt wurde, das andere zeigte die Elizabeth Bonaventure, die daneben fast filigran wirkte.
»Der Unterschied könnte größer nicht sein«, sagte Walsingham nachdenklich. »Ich habe die Modelle aufstellen lassen, damit sie mich stets daran erinnern, mit welch mächtigem Feind wir es zu tun haben.«
»Mächtig ist er, in der Tat«, pflichtete ihm sein Gast, Lordadmiral Howard, bei. »Das ist es ja gerade, was mir und meinem Stab seit geraumer Weile Kopfzerbrechen macht.«
Walsingham lächelte flüchtig. »Vergesst Eure Sorgen für einen Moment, und trinkt mit mir auf das Wohl der Königin, unserer Jungfräulichen Gloriana. Sie möge lange leben!«
»Und das bei bester Gesundheit«, ergänzte Howard.
Beide Herren erhoben sich. »Cheers!«
Sie tranken und setzten sich wieder.
Howard, ein zweiundfünfzigjähriger Mann, dessen Gesicht durch ernste Augen und eine lange Nase auffiel, stellte sein Glas neben der Cacafuego ab und räusperte sich. »Die Dons sind uns in nahezu allen Belangen überlegen, sie haben mehr Schiffe, sie haben größere Schiffe, sie haben mehr Kanonen und Zehntausende hervorragend gedrillter Soldaten, die nur darauf warten, unseren Küstenmilizen die Köpfe abzuschlagen und nach London zu marschieren.«
»So weit ist es noch nicht.« Walsingham stellte sein Glas neben der Elizabeth Bonaventure ab.
»Ihr habt ja recht.« Howard trank einen weiteren Schluck. »Wenn wir nicht die wendigeren Galeonen und die weitertragenden Feldschlangen hätten, würde ich unserer Sache kaum eine Chance einräumen.«
»Aber wir haben sie, dank Matthew Baker, unserem genialen Schiffskonstrukteur, und dank unserer erfindungsreichen englischen Geschützgießer. Hier liegt, denke ich, der Vorteil auf unserer Seite.«
»Sicher, sicher.« Howard wirkte leicht pikiert. »Aber wir haben mehrheitlich nur Sechs-, Neun- oder Achtzehnpfünder an Bord unserer Schiffe, während die Spanier Vierundzwanzig- und Sechsunddreißigpfünder in die Schlacht führen können.«
»Worauf wollt Ihr hinaus?« Walsingham, der nicht nur Staatssekretär Ihrer Majestät war, sondern auch Gründer des englischen Geheimdienstes, hatte ein feines Gespür dafür, wenn jemand mit etwas hinter dem Berg hielt.
»Kugeln!«, stieß Howard hervor.
»Kugeln? Was meint Ihr damit?«
»Wir haben zu wenige davon. Was nützen die schönsten weittragenden Culverines, die uns die Spanier vom Leibe halten sollen, wenn uns die Kugeln fehlen.«
»Habt Ihr über dieses Problem schon mit der Königin gesprochen?«
Howard machte eine resignierte Bewegung. »Das habe ich. Und natürlich hat sie mir freundlich zugehört. Aber eine Zusage hat sie mir nicht gemacht. Deshalb dachte ich, vielleicht könntet Ihr …«
»Ach so.« Daher also wehte der Wind. Für Walsingham war klar, warum die Königin keine Hilfe in Aussicht gestellt hatte. Nicht aus bösem Willen, nicht aus mangelndem Interesse, sondern einfach, weil nach mehreren Jahren intensiver Flottenrüstung Ebbe in der Staatskasse herrschte. Er selbst konnte ein Lied davon singen, seine Spionage-Organisation verschlang ungeheure Summen, die er wegen der misslichen Finanzlage zum großen Teil aus der eigenen Tasche bestritt. Allerdings fiel ihm das zunehmend schwerer, seitdem sein Schwiegersohn, Sir Philip Sidney, vor zwei Jahren das Zeitliche gesegnet und ihm einen Riesenberg Schulden hinterlassen hatte. Doch das tat nichts zur Sache. In jedem Fall glaubte er nicht, dass die Königin ihm mehr Gehör schenken würde als Howard. Trotzdem sagte er höflich: »Ich will sehen, was sich machen lässt.«
Howards ernste Augen leuchteten auf. »Ich wusste, dass ich auf Euch zählen kann!«
»Versprechen kann ich nichts.«
»Natürlich nicht. Dennoch ist es ein Strohhalm, an den ich mich klammere. Ach was, wieso ich! Die ganze Nation klammert sich daran! Was nützen die schönsten Strategien, was nützen die geschicktesten Geschwader, was nützen die besten Windkenntnisse, die genauesten Karten, die schnellsten Signalstationen, die besten Kapitäne, die tüchtigsten Offiziere, die tapfersten Mannschaften, was nützt das alles, wenn dem Schwertarm das Schwert fehlt!«
»Wohl wahr.« Walsingham wunderte sich. So temperamentvoll, so leidenschaftlich hatte er Howard noch nie erlebt. Langsam begriff er, warum die Admiralität ihn schon anno 1585 zum Lord High Admiral, zum obersten Befehlshaber der englischen Flotten, ernannt hatte – und nicht Drake oder Hawkins.
Howard, der sich bei seinem Ausbruch halb erhoben hatte, setzte sich wieder. »Wir haben leider nicht das Glück, in Neuspanien die Wilden erschlagen und anschließend ihr Gold tonnenweise nach Europa schiffen zu dürfen. Wir können nicht in Juwelen und Preziosen baden. Wir müssen sehen, wie wir zurechtkommen. Aber jede Kugel, die ich mehr an Bord meiner Galeonen habe, ist gut für ein Loch im Wanst der dicken Dons, das schwöre ich.«
»Ich glaube Euch aufs Wort.« Walsingham war nicht unbeeindruckt. Vielleicht ließ sich bei der Königin doch etwas machen. Seit der Aufdeckung der Babington-Verschwörung, bei der Elizabeth ihr Leben verlieren und Maria Stuart den Thron gewinnen sollte, wusste sie, dass er ihr mindestens ein Mal das Leben gerettet hatte. Das zu bewerkstelligen war im Übrigen nicht ganz einfach gewesen. Die Attentäter hatten ein hohes Maß an Raffinesse an den Tag gelegt und sich mit Maria Stuart über verschlüsselte Nachrichten verständigt, die sie in einem ausgehöhlten Spund versteckten. Der Spund diente als Verschluss eines Bierfasses, das unverdächtig zwischen ihnen und Chartley Hall, dem Gefängnis Marias, hin und her transportiert wurde.
Es hatte vieler Bestechungsgelder, großer Geduld sowie des Abfangens und Fälschens immer neuer Informationen bedurft, bis die Umstürzler samt ihrer Wunschkönigin in die Falle gegangen waren und aufs Blutgerüst geführt werden konnten. Ja, es war nicht sonderlich gesund, »Walsinghams Dolch von der falschen Seite aus zu sehen«.
Howard atmete tief durch. »Es tut gut, Euch auf meiner Seite zu wissen! Deshalb hatte ich auch die Kühnheit, Euch zu bitten, mich mit dem Earl of Worthing bekannt zu machen. Ihr hattet ja in der Vergangenheit das Vergnügen, ihn ein paarmal zu treffen.« Er warf einen Blick auf die Wanduhr. »Gleich elf, er müsste jeden Augenblick hereinkommen. Äh, Ihr hattet ihn doch hergebeten?«
»Selbstverständlich, das hatte ich. Der Earl weilt gerade für einige Tage in London und konnte deshalb einen Besuch in Barn Elms einrichten.« Walsingham wandte sich um, denn Christopher Mufflin war auf der Bildfläche erschienen, »der Bücherwurm«, wie er von seinem Herrn stets genannt wurde.
»Sir Francis«, sagte der Bücherwurm und machte einen Kratzfuß, »verzeiht die Störung, aber der Earl of Worthing ist soeben eingetroffen und möchte Euch seine Aufwartung machen.«
»Ich lasse bitten.«
Beide Herren erhoben sich und blickten neugierig zur Tür. Ein jüngerer Mann stand darin, um die dreißig, von fester Statur, mit einem markanten Gesicht, aus dem zwei kluge graue Augen blickten. Einen Bart trug er nicht. Es schien, als sei die Kraft, die das Wachstum einer solchen Zier erforderte, zusätzlich in sein prachtvolles Haupthaar geschossen. Es war lang, lockig und blond. Und es wirkte etwas wild, wie nach einem scharfen Ritt.
Umso gesitteter war seine Kleidung: Zu einem weißen Spitzenhemd trug er ein gutsitzendes ausgestopftes Wams von marineblauer Farbe und eine perfekt geschnittene schwarze Oberschenkelhose. Die Strümpfe waren ebenfalls marineblau und die Schuhe mit den silbernen Schnallen wiederum schwarz. Alles bestand aus besten Materialien, machte aber keinen aufschneiderischen Eindruck.
Howard kräuselte die Lippen. So hatte er sich den Earl nicht vorgestellt. Nicht so jung und nicht so – stattlich. Er fragte sich unwillkürlich, mit welchen Worten er den Eindruck beschreiben würde, den der Earl auf ihn machte, und er dachte bei sich: Nun, er wirkt ruhig, freundlich und selbstsicher. Wobei die Selbstsicherheit, das sieht man wohl, ihre Ursache nicht in Überheblichkeit hat, sondern eher in Erlebtem und Durchlittenem. Doch ein paar Fältchen um die Augenwinkel verraten, dass ihm bei alledem der Humor nicht abhanden gekommen ist.
»Ich grüße Euch, Gentlemen«, sagte der Earl und ging lächelnd auf Walsingham und Howard zu.
»Guten Tag, Mylord«, sagten Walsingham und Howard und verneigten sich steif.
»Ich danke Euch für die Einladung, Sir Francis. Wenn Ihr erlaubt, darf ich unserem Gespräch eine Bitte voranstellen: Ich kann mich noch gut an jenen Tag vor acht Jahren erinnern, als ich mit Euch sprach, bevor die Königin mir eine Audienz gewährte, in deren Verlauf sie mich adelte. Mein Name war zu dem Zeitpunkt Vitus von Campodios, und Ihr redetet mich mit ›Sir‹ oder ›Cirurgicus‹ an. Seid so freundlich und lasst es auch weiterhin dabei bewenden.«
Walsingham nickte erfreut.
»Die Bitte geht auch an Euch, Lordadmiral.« Der Earl, den seine Freunde einfach Vitus nannten, verbeugte sich leicht in Richtung Howard.
»Wie Ihr wünscht – Sir.« Howard war zum zweiten Mal überrascht, angenehm überrascht, um es genau zu sagen. Er führte den Titel Viscount Howard of Effingham, den er von seinem Vater geerbt hatte, und dieser Titel war im Rang niedriger einzustufen als der eines Grafen. Gleiches galt für den Ritterstand, in den Walsingham von der Königin erhoben worden war. Dass der Earl dennoch auf die Anrede »Mylord« verzichtete, mochte als gutes Vorzeichen für das kommende Gespräch gelten. »Es ist mir eine Ehre, Eure Bekanntschaft machen zu dürfen, Sir. Im Gegensatz zu anderen war mir noch nicht das Glück vergönnt, Euch bei Hofe zu begegnen.«
»Was aber nicht weiter verwunderlich ist.« Vitus lachte. »Die Male, die ich in Whitehall war, kann man an einer Hand abzählen.«
»Nanu, wie das?«
»Um der Wahrheit die Ehre zu geben: Ich komme mir dort fehl am Platze vor.« Diese Formulierung war eine höfliche Untertreibung, denn in Vitus’ Augen war der Palast mehr oder weniger eine Stätte der Begierden, eine Schlangengrube, in der die großen und kleinen Schranzen, die Kriecher und Speichellecker nichts anderes im Kopf hatten, als sich geschmeidig zu verhalten und sich Vorteile zu erzüngeln.
»Wollen wir uns nicht setzen?«, fragte Walsingham und deutete auf ein drittes Sitzmöbel, das von Mufflin bereitgestellt worden war.
Während die Herren Platz nahmen, kam der Bücherwurm mit einem Tablett und bot eine Auswahl kräftigender Getränke an, darunter Wein, Gin, Whisky und Armagnac, einen zwanzig Jahre alten französischen Brandy. »Was darf es sein, Mylord?«, fragte er mit gemessener Stimme.
»Oh, nichts Kaltes bei dem Wetter. Vielleicht eine heiße Suppe, wenn Ihr habt.«
»Eine heiße Suppe? Äh, sehr wohl, Mylord.« Mufflin verschwand.
In die entstehende Stille hinein sagte Vitus: »Das sind zwei sehr hübsche Schiffsmodelle.«
»In der Tat, in der Tat.« Walsingham wusste nicht recht, wie er das Gespräch beginnen sollte, deshalb sagte er: »Ich danke Euch, dass Ihr Euch herbemüht habt, Cirurgicus. Wenn es sich nicht um eine Angelegenheit von größter Dringlichkeit handelte, hätte ich Euch nicht in mein Haus gebeten.«
»Ihr macht es spannend, Sir.«
»Wenn Ihr erlaubt, gebe ich das Wort gleich weiter an den Lordadmiral. Er wird Euch erklären, worum es geht.«
»Gern.«
»Nun …« Die Gesprächswendung kam für Howard etwas plötzlich. Er sammelte sich. Dann wusste er, wie er anfangen konnte. »Sir, Ihr habt eben ganz richtig bemerkt, dass es sich bei den zwei Schiffen um sehr hübsche Modelle handelt. Der Meinung bin auch ich. Aber gleichzeitig machen sie deutlich, in welch großer Gefahr sich England und die Krone befinden.«
Howard machte eine Pause, um dem jungen Earl die Gelegenheit für eine Reaktion zu geben, aber es kam keine. Vitus hörte nur konzentriert zu.
»Die Nuestra Señora de la Concepción steht stellvertretend für die spanische Flotte, die Elizabeth Bonaventure für die englische. Ihr mögt daran erkennen, wie die Kräfteverhältnisse sind. Die Armada wird in naher Zukunft, damit erzähle ich Euch sicher nichts Neues, nach England aufbrechen, um unser Land zu überfallen und die Königin abzusetzen. Wir sind also nicht nur in der Rolle des Unterlegenen, sondern dazu in der des Verteidigers. Eine doppelt schlechte Ausgangslage.«
»Da will ich Euch nicht widersprechen. Auch ich mache mir meine Gedanken. Aber was hat das Ganze mit mir zu tun?«
»Habt noch einen Augenblick Geduld, Sir, Ihr werdet es gleich erfahren. Die Admiralität …«
»Die Suppe, Mylord.« Mufflin setzte ein Tablett mit Teller und Terrine auf einem Beistelltisch ab. »Es wäre auch noch weißes Brot und Hirschpastete da.«
»Danke, Mufflin, vielleicht später.«
Howard war nicht begeistert über die Unterbrechung, machte aber gute Miene zum bösen Spiel. »Stärkt Euch nur erst, Sir, ich kann später fortfahren.«
»Nein.« Vitus schüttelte den Kopf. »Sprecht weiter, Ihr habt mich neugierig gemacht. Außerdem dürfte die Suppe noch viel zu heiß sein.«
»Nun gut. Die Admiralität und ich sind der Meinung, dass die Schlacht gegen die Dons nur dann zu gewinnen ist, wenn wir sie in den Kanal verlegen. In der Enge dieses Gewässers wird der Feind einen Großteil seiner Bewegungsfähigkeit einbüßen, während wir den Vorteil haben, ihn aus unseren Häfen heraus bekämpfen zu können. Dazu kommt, dass wir Wind, Wetter und Gezeiten genau kennen.«
»Das leuchtet ein.« Vitus kratzte sich nachdenklich am Kinn, in dessen Mitte ein Grübchen saß. »Aber warum erst abwarten, bis der Feind vor der Tür steht? Warum segeln wir ihm nicht entgegen und stellen ihn auf dem offenen Meer? Angriff ist die beste Verteidigung.«
Howard gestattete sich ein Lächeln. »Nicht immer, Sir, nicht immer. Das Meer ist groß, und es wäre fatal, wenn wir den Feind verpassten. Stellt Euch vor, die Spanier würden unsere Küsten stürmen und in einer blutigen Schneise nach London marschieren, während unsere Kapitäne sie noch auf hoher See suchen.«
»Ich muss zugeben, dass ich daran nicht gedacht habe.« Vitus blies auf die Suppe und nahm mit spitzen Lippen den ersten Löffel. »Hm, sehr gut!«
»Das freut mich, Cirurgicus«, sagte Walsingham.
»Guten Appetit«, wünschte Howard und fuhr fort: »Wenn wir aber den Feind im Kanal erwarten, müssen wir versuchen, die Armada nach ihrem Auslaufen baldmöglichst zu sichten, um ihre genaue Größe, Zusammensetzung, Bewaffnung und so weiter zu erfahren. Je früher, desto besser. Nur so werden wir die Möglichkeit haben, unsere Abwehrmaßnahmen perfekt abzustimmen.«
»Das klingt schlüssig. Aber um das zu erreichen, müsstet Ihr ein Schiff hinunter nach Spanien schicken. Eines, das außerordentlich schnell ist und von einer hervorragenden Crew gesegelt wird.«
»Genau das habe ich vor, Sir.«
»Verzeiht, aber ich verstehe noch immer nicht, was Eure Überlegungen mit mir zu tun haben.«
»Ich beabsichtige, die Falcon zu entsenden.«
»Die Falcon? Wenn mich nicht alles täuscht, hat sie mehr als zwanzig Jahre auf dem Buckel!«
»So ist es, Sir. Trotzdem ist sie noch immer das schnellste hochseetaugliche Schiff unserer Flotte.«
Walsingham mischte sich ein: »Das ist sie fürwahr. Sie wurde damals als eine Art Versuchsschiff von Matthew Baker, unserem Meisterkonstrukteur, auf Kiel gelegt. Alle seine genialen Ideen wurden bei ihrem Bau verwirklicht, denn im Gegensatz zu später, als das Flottenamt mit seinen bürokratischen Forderungen und Einschränkungen kam, hatte er bei seinem Erstling freie Hand. Die sogenannte Baker-Galeone, deren Rumpf eine Symbiose aus der Form von Dorschkopf und Makrelenschwanz ist, wurde hier in ihrer reinsten Form verwirklicht.«
»Das habe ich nicht gewusst.«
»Und wenn wir schon bei Matthew Baker sind«, nahm Howard den Faden auf, »müssen wir auch über ein Phänomen sprechen, das er mir gegenüber einmal erwähnte: ›Nehmt zwei völlig gleiche Schiffe und zwei völlig gleiche Mannschaften‹, sagte er, ›nehmt die gleichen Winde, das gleiche Wetter, die gleiche See, und doch wird immer eines der beiden Schiffe schneller sein. Der Grund liegt in seiner Persönlichkeit. Jedes hat eine andere, eine ganz eigene. Es gibt Schiffe, die segeln nur mit, und es gibt welche, die wollen gewinnen. In ihnen steckt etwas Unbekanntes, etwas, das in keine mathematische Formel zu gießen ist, nennt es das Unerforschliche, das Unbegreifbare, meinetwegen das Göttliche. Tatsache ist: Es ist da. Und in einem ganz besonderen Maße steckt es in der Falcon.‹ Tja, das sagte er zu mir. Seitdem bin ich fest davon überzeugt, dass kein anderes Schiff der Falcon das Wasser reichen kann, auch wenn sie die Narben vieler Schlachten trägt.«
Vitus legte den Suppenlöffel beiseite. Walsinghams und Howards Ausführungen waren so fesselnd gewesen, dass er das Essen darüber vergessen hatte. »Ich selbst bin auf der Falcon gefahren«, sagte er. »Und ich glaubte, sie zu kennen, aber jetzt sehe ich sie in einem neuen Licht. Sie ist ein ganz besonderes Schiff, das sich der Aufgabe sicher würdig erweisen wird. Sie und mein Freund Sir Hippolyte Taggart.«
»Captain Taggart war leider sehr erkrankt.«
»Wie bitte? Das kann nicht sein!«
»Und doch ist es so«, beharrte Howard. »Taggarts Kniegelenke machten nicht mehr mit. Der Arme hatte nur noch Schmerzen. Konnte keinen Schritt mehr vor den anderen setzen. Deshalb musste er sich im letzten Jahr in die Behandlung von Professor Banester begeben. Wie man hört, schlug die Therapie gut an, mittlerweile juckt es ihn schon wieder in allen Knochen, auf sein Schiff zurückzukehren, aber ich habe da meine Bedenken.«
Vitus nickte. »Die hätte ich auch.«
»Es sei denn, der Captain befände sich in Begleitung eines sehr guten Arztes. Eines Arztes, mit dem er befreundet ist und auf den er hört.«
»Ihr meint doch nicht etwa mich?«
»Um es geradeheraus zu sagen: Ja, ich meine Euch, Sir. Ich bitte Euch, die medizinische Versorgung von Taggart zu übernehmen.«
»Da also liegt der Hase im Pfeffer! Nun, meine Antwort ist: nein. Taggart zu begleiten ist unmöglich, und es kommt auch, äh, viel zu plötzlich!« Vitus wandte sich an Walsingham. »Sagt, Sir, hat unser Geheimdienst denn nicht die Möglichkeit, den Auslaufzeitpunkt der Armada zu erkunden und ihre Stärke nach England zu melden?«
Walsingham runzelte die Stirn. »Im Prinzip, ja, Cirurgicus, Ich darf bei aller Bescheidenheit sagen, dass meine Männer die gerissensten, verwegensten und abgebrühtesten Burschen sind, die man für Geld kaufen kann. Sie sind überall eingeschleust, in sämtlichen Ländern Europas, in allen großen Städten – auch in Lissabon, in Madrid und im Klosterschloss Escorial, dem Sitz Philipps II. Dort arbeiten sogar die Tüchtigsten von allen.«
»Aber?«
Walsingham zuckte mit den Schultern. »Ich sage es nicht gern, aber seit vierzehn Tagen ist jegliche Verbindung nach Spanien abgebrochen. Meine Vertrauensmänner melden sich nicht mehr, sie sind stumm wie ein Fisch im Wasser. Es gibt nur eine Erklärung dafür: Sie sind tot oder enttarnt.«
Howard schaltete sich wieder ein: »Ihr seht, Sir, es gibt keine andere Möglichkeit, wir müssen hinunter vor Ort, und das lieber heute als morgen. Die Zwickmühle, in der ich stecke, wird deshalb nicht kleiner. Soll ich die Falcon unter einen anderen Kommandanten stellen? Taggart würde mich erschlagen. Soll ich statt der Falcon einen anderen Segler schicken? Taggart würde mich ebenfalls erschlagen. Glaubt mir, ich kenne ihn. Wenn er von der Aufgabe erfährt, und früher oder später erfährt er von ihr, wird er sich von nichts und niemandem davon abhalten lassen, sie zu erfüllen.« Howard holte tief Luft. »Diese Aufgabe zu bewältigen ist eine Herausforderung ohne Beispiel. Ich will nicht dramatisch werden, Sir, aber das Wohl und Wehe von über drei Millionen Engländern kann davon abhängen, das Schicksal eines ganzen Volkes!«
Er machte eine kurze Pause und sprach dann eindringlich weiter: »Aber was wäre, wenn Taggart während der Reise ausfiele? Die Falcon wäre nur noch die Hälfte wert. Die beiden bilden eben eine Einheit. Sie kann nicht ohne ihn, er kann nicht ohne sie.«
Vitus nickte langsam.
»Frei heraus, Sir, was würdet Ihr an meiner Stelle tun?«
»Ich habe selten eine so gute Argumentation gehört.«
»Danke, Sir.« Howard war etwas verwirrt. Dann fügte er hinzu: »Auch auf die Gefahr hin, dass ich Euch lästig falle – was würdet Ihr an meiner Stelle tun?«
Vitus grinste. »Nun, ich würde dieselbe Frage an mich richten.«
»Und wie lautet Eure Antwort?« Howard beugte sich gespannt vor.
»Ich bitte mir Bedenkzeit aus.«
»Natürlich.« Howard lehnte sich enttäuscht zurück. Dass es darauf hinauslaufen würde, hätte er sich denken können. »Wie lange, äh, würdet Ihr denn für Eure Überlegungen brauchen?«
Wieder grinste Vitus. »Bis ich die Suppe aufgegessen habe, Sir.«
»Ah, ja. Natürlich.« Howard fragte sich, ob die Antwort ein Scherz sein sollte, ob sie positiv oder negativ zu bewerten sei, ob sie überhaupt etwas zu bedeuten hatte. Aber die Ungewissheit sollte ihn nicht lange plagen, denn die Suppe war mittlerweile lauwarm, und der junge Earl aß sehr schnell. Dann schob er den Teller zur Seite, legte den Löffel sorgfältig hinein und sagte: »Ich brauche eine Woche.«
»Äh, Sir?«
»Wenn ich es recht sehe, schreiben wir heute den siebten Mai. Ich werde einige Verpflichtungen absagen und schon am Nachmittag nach Greenvale Castle aufbrechen, übermorgen früh dort ankommen und mich anschließend um den Gutsbetrieb kümmern, was jetzt im Frühjahr sicher mehrere Tage in Anspruch nehmen wird. Wenn alles erledigt ist, will ich nach Portsmouth reiten und an Bord gehen. Doch vor dem vierzehnten werde ich es kaum schaffen. Wäre Euch damit gedient?«
»Sir, ich …!« Howard war aufgesprungen. »Ich danke Euch!« Er packte Vitus’ Rechte und drückte sie, als wolle er Most aus ihr herauspressen. »Auch im Namen Ihrer Majestät! Auch im Namen Ihrer Majestät!«
»Nichts zu danken, Sir.«
»Ich werde sofort einen Kurier mit der entsprechenden Order zu Taggart schicken. Der wird Augen machen!«
»Gewiss, Sir. Haltet mir die Daumen, dass Lady Nina genauso viel Verständnis für die Notwendigkeit dieser, äh, Segelpartie aufbringt wie ich.«
»Mein Wort darauf. Daran soll es nicht scheitern!« Howard lachte befreit.
Walsingham hatte unterdessen Mufflin, den Bücherwurm, losgejagt, damit er abermals Alkoholisches herbeischaffe. Als das Gewünschte kam, rief er: »Ich denke, dass wir mit einem guten steifen englischen Gin auf das Unterfangen anstoßen.« Er stand auf, erhob sein Glas, und seine beiden Gäste taten es ihm gleich. »Auf die Königin und auf das glückhafte Gelingen Eurer Mission, Cirurgicus! Cheers!«
Die Herren tranken, verschnauften, ließen nachschenken und setzten sich. Howard war so beschwingt, dass er dabei versehentlich die Elizabeth Bonaventure streifte. Das hübsche Modell schwankte und fiel scheppernd zu Boden.
»Großer Gott!«, rief Howard.
Auch Vitus blickte betreten.
Walsingham war der Erste, der sich von dem Schreck erholte. »Hoppla«, lachte er, »wie gut, dass wir nicht abergläubisch sind!«