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»Wir sollten Sie hier rausbringen«, sagte O’Driscoll.

Fegan beobachtete O’Kane, der nervös auf den Lippen kaute und offenbar im Geiste alle Möglichkeiten durchging. Sein Gesicht zuckte, die Augen schossen unruhig im Raum umher. In Fegans Ohr pochte es heiß, etwas Warmes lief ihm über den Hals und die Schulter. Über seine Wange zog sich eine scharfkantige, schmerzhafte Linie. Im Mundwinkel schmeckte er Blut.

»Vielleicht sollten wir Sie in Ihr Zimmer bringen«, fuhr O’Driscoll fort. »Sozusagen aus der Gefahrenzone. Nur so lange, bis Ihr Mann alles im Griff hat.«

O’Kane funkelte ihn an. »Rede nicht mit mir wie mit einem Kind, zum Teufel. Das hier ist alles, was ich will. Das Einzige, was ich will. Wehe, du verdrückst dich hier und lässt mich im Stich. Hau bloß nicht ab wie die ganzen anderen Scheißkerle.«

O’Driscoll trat einen Schritt von Fegan weg, hielt aber weiter dessen Arm umklammert. »Meine Güte, hier könnte alles Mögliche passieren. Sie bezahlen mich schließlich dafür, dass ich auf Sie aufpasse, und genau das tue ich. Jetzt kommen Sie, wir müssen Sie hier rausschaffen und in Ihr …«

»Ihr Schlappschwänze seid doch alle gleich«, schnauzte Bull ihn wütend an. »Diese Mistkerle im Norden haben mich hängenlassen. Alle anderen haben sich verzogen. Willst du mir jetzt etwa dasselbe antun?«

O’Driscoll hielt Fegans Ärmel fest und machte einen weiteren Schritt auf O’Kane zu. »Aber nein, Bull. Ich wollte doch nur dafür sorgen, dass Sie in Sicherheit sind, mehr nicht. Ich haue nicht ab.«

Fegans Instinkte erfassten die ganze Situation. Sie registrierten die Festigkeit von O’Driscolls Griff an seinem Arm, die Entfernung zwischen den Männern, ihren Winkel zueinander, ihren Schwerpunkt. Er selbst nahm diese Berechnungen nur als Reflexe wahr, wie Blitzeinschläge in seinem Gehirn, bevor er in Aktion trat. Aber er trat nicht in Aktion. Er unterdrückte den Impuls, denn ein noch verlässlicherer Instinkt sagte ihm, dass es noch nicht an der Zeit war loszuschlagen.

O’Kane zeigte mit seinem wulstigen Zeigefinger auf Fegan. »Ich gehe nirgendwo hin, bevor dieser Scheißkerl nicht tot ist.«

»Soll ich ihn erledigen?«, fragte O’Driscoll.

»Nein.« O’Kane schüttelte den Kopf und starrte Fegan feindselig an. »Bringt ihn zu mir.«

»Dafür ist jetzt keine Zeit«, wandte O’Driscoll ein. »Wir müssen …«

O’Kanes Kopf wurde rot. »Ich sagte, bringt ihn her.«

Die Männer stießen Fegan nach vorne. Er wehrte sich nicht.

»Auf die Knie«, befahl O’Kane.

O’Driscoll legte Fegan eine Hand auf die Schulter und drückte ihn nach unten. Als Fegan nicht mitspielte, trat er ihm in die Kniekehlen. Fegan ging hart zu Boden, seine Kniescheibe krachte auf das Parkett. Als das zweite Knie folgte, raschelte die Plastikfolie.

O’Kane beugte sich in seinem Rollstuhl vor. »Damals in der Scheune in Middletown hättest du mich töten können. Du hattest mich vor deinen Füßen liegen. Ich war so hilflos wie ein Welpe, und außerdem hattest du eine Waffe in der Hand. Warum hast du es nicht getan?«

»Weil ich keinen Grund hatte«, antwortete Fegan. »Ich war gnädig.«

»Gnädig ?« O’Kane schüttelte den Kopf. »Du bist immer noch genauso verrückt wie früher, Gerry. Spuken dir immer noch diese Leute im Kopf herum? Und sagen sie dir immer noch, was du tun sollst?«

»Ich habe sie dort in der Farm zurückgelassen«, sagte Fegan. »Als ich McGinty getötet habe.«

»McGinty war ein Schwein.« O’Kane streckte O’Driscoll eine Hand entgegen. O’Driscoll legte eine kleine halbautomatische Waffe hinein. Fegan kam sie vor wie eine Walther PPK. »Es gab nicht viele, die diesen Bastard vermisst haben, als er tot war. Ich jedenfalls ganz bestimmt nicht. Weißt du, die Politiker wollten, dass ich die ganze Sache vergesse. Schön und gut, sie wollten schon auch, dass dieser ganze Schlamassel aus der Welt geschafft wurde. Aber dich zu verfolgen, darin sahen sie keinen Sinn. Sie sagten, ich solle die Geschichte ad acta legen. Aber die kennen dich nicht. Sie wissen nicht, was du mir angetan hast. Sie wissen nicht, dass ich seit diesem Tag keine einzige Nacht mehr geschlafen habe. Ich werde nicht noch einzigen Tag erdulden, an dem du auf der Welt bist.« Schwer atmend zog O’Kane den Schlitten zurück und lud eine Patrone. »Also habe ich ihnen gesagt, hört zu, ich werde mir Gerry Fegan schnappen, und damit hat es sich.«

O’Kane drückte Fegan die Mündung der Walther an die Stirn.

O’Driscoll verlagerte kurz sein Gewicht und lockerte dabei den Druck auf Fegans Schulter.

»Mein Gott, was ist das denn? Riechst du das?«

»Rieche ich was?«, fragte Ronan.

»Rauch«, sagte O’Driscoll. »Da brennt was.«

O’Kane senkte die Pistole. »Ein Feuer?«

Plötzlich drängte sich ein Bild in Fegans Bewusstsein. Der Traum, der ihn erst nur im Schlaf und dann auch in seinen wachen Stunden verfolgt hatte: ein Kind, das von Flammen verschlungen wurde.

Seine Instinkte ordneten sich zu einer perfekten Abfolge von Bewegungsabläufen, einer Abfolge, die sein Kopf längst entworfen hatte, ohne dass er sich dessen bewusst gewesen war. Seine Instinkte sagten ihm, dass der Moment zum Handeln gekommen war.

Gerry Fegan Bd. 2 - Blutige Fehde
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