21

Der Nomade lag auf dem Bauch und hatte die Laken bis zu den Füßen heruntergestrampelt. Er fand einfach keine bequeme Position. Seine linke Hand kribbelte, die Finger fühlten sich an, als seien sie weit weg oder gehörten zur Hand eines anderen. Die alte Hexe hatte zwar alle Arterien verfehlt, doch der Nomade befürchtete, dass sie irgendwelche Nerven verletzt hatte. Er hatte schon von solchen Sachen gehört. Alle Nerven hingen irgendwie zusammen, und eine Verletzung an einem Körperteil konnte auch Auswirkungen auf einen anderen haben.

Genau wie bei dem Kevlarsplitter, den sie ihm aus dem Gehirn operiert hatten. Der Nomade erinnerte sich nur schemenhaft an die Augenblicke, die zur Explosion geführt hatten. Er hatte nur noch fragmentarische Bilder im Kopf, vom plötzlichen Anblick der Drähte, als er die verrosteten Bleche beiseitegeschoben hatte, und von dem Gedanken zu sterben. Danach war er irgendwann in einem verdreckten ausländischen Krankenhaus aufgewacht, ohne sich noch an seinen Namen erinnern oder sprechen zu können. Monate hatte er dort verbracht und war mit Elektroden behandelt worden. Sie hatten ihm das Stück seines Helms gezeigt, das sich in seinem Kopf wiedergefunden hatte. Wer hätte sich vorgestellt, dass so ein kleines Stück Plastik ihn so vieler Dinge würde berauben können? Alles hing irgendwie zusammen. Deshalb machte er sich jetzt Sorgen über das taube Gefühl in seinen Fingern.

Wenn er hätte lesen können, dann hätte er es über den Internetanschluss seines Hotelzimmers recherchiert. Als er gestern eingecheckt hatte, hatte die kleine Ausländerin an der Rezeption ihm erklärt, er könne über den Fernseher ins Internet. Das war gewesen, bevor er losgefahren war, um Quigley seinen Besuch abzustatten. Sie hatte ihn auch beobachtet, als er zurückgekehrt war und alles versucht hatte, um seinen steifen Arm zu verbergen. Beim Vorbeigehen hatte der Nomade sie angelächelt. Als er den Lift erreichte, drehte er sich noch einmal um und überprüfte, ob er etwa eine Blutspur hinterlassen hatte. Zum Glück nicht.

Er musterte den Lichtstrahl, der zwischen den zugezogenen Vorhängen hereindrang. Wie kam es eigentlich, dass Hotelvorhänge nie ordentlich schlossen? Das Licht verursachte ihm Kopfschmerzen, und er schloss die Augen. Er rollte sich auf die rechte Seite, und schon diese kleine Bewegung reichte, um den Schmerz in seinem linken Oberarm wieder auflodern zu lassen.

»Verdammtes altes Luder, Fotze, Miststück, beschissene Hexe«, fluchte der Nomade. Er hatte Mrs. Quigley für zu senil gehalten, als dass sie Probleme machen könnte. Und dann auch noch mit einer Scheiß-Stricknadel, zum Teufel.

Stark geblutet hatte die Wunde eigentlich nicht, aber sie tat höllisch weh. Einen kurzen, verrückten Moment lang überlegte er, ob er noch einmal in ein anderes Krankenhaus fahren und die Sache untersuchen lassen sollte, damit er wusste, ob es etwas Ernstes war. Er konnte ja einen anderen falschen Namen angeben, das hatte er schon öfter gemacht. Aber das war immer in Notfallsituationen gewesen, wo dieses Risiko von einem noch größeren übertroffen wurde. Diesmal tat es einfach nur weh.

Der Nomade warf die Beine über die Bettkante und stand auf. Sinnlos, nur so hier herumzuliegen und sich den Schmerzen, dem tauben Gefühl und der Wut zu überlassen. Er drehte den Arm und besah sich den Ballen Toilettenpapier, den er sich über das kleine Einstichloch geklebt hatte. Alles, was das Papier über den Schmerz verriet, war ein dunkelroter Fleck, aber inzwischen hatte sich darum herum ein riesiger Bluterguss ausgebreitet. Der Nomade hatte so etwas schon gesehen, allerdings nur einmal. Da war irgendein dämlicher Idiot namens Morgan ebenfalls von seiner Frau mit einer Stricknadel gestochen worden. Seltsame Sache. Die dünne Nadel hatte nämlich dafür gesorgt, dass die Wunde sich fast vollständig schloss und nur wenig Blut austrat. Aber die Verletzung war ja da, und unter der Haut blutete es im Verborgenen weiter. Dieser Morgan wäre fast daran abgekratzt. Der Nomade hatte die Sache dann eine Woche später mit einem Schraubenzieher zu Ende gebracht. Der Vater seiner Frau hatte ihm für den Job gutes Geld bezahlt.

Er drehte den Wecker auf dem Nachttisch, damit er ihn besser sehen konnte. Gleich viertel vor acht. Von der University Street drang schon Verkehrslärm herauf. Er hätte sich eigentlich ein besseres Hotel gewünscht, vielleicht etwas schickes Kleines oder drüben das neue Hilton neben dem Waterfront Theatre. Aber hier fiel er weniger auf. Es gehörte zu einer billigen Hotelkette und war die Sorte Unterkunft, wo Vertreter abstiegen oder Leute, die zu betrunken waren, um noch nach Hause zu fahren. Normalerweise hätte er tief und fest geschlafen, aber wegen des Lochs in seinem Arm war daraus nichts geworden. Einen Augenblick lang überlegte der Nomade, was er jetzt so früh am Morgen anstellen sollte. Er brauchte nicht lange für seine Entscheidung, auch wenn er damit einigen Ärger auslösen würde. Er griff nach dem Mobiltelefon, gab das Passwort ein und wählte.

»Was ist?«, meldete sich Orla O’Kane.

»Ich bin’s«, sagte der Nomade.

»Was zum Henker wollen Sie so früh am Morgen?«, fragte sie. »Ich bin noch nicht mal aus dem Bett.«

»Haben Sie noch geschlafen?«

»Nein«, gab sie zurück. »Ich schlafe nicht besonders gut.«

Der Nomade verdrehte seinen Rücken und versuchte, eine andere Position für seinen linken Arm zu finden, der höllisch weh tat. »Das Gefühl kenne ich«, sagte er.

Nach einer kurzen Pause fragte Orla: »Also, was wollen Sie?«

»Erzählen Sie mir von Gerry Fegan«, verlangte der Nomade.

»Über den hat Ihnen mein Vater doch schon erzählt«, antwortete sie. »Und Sie würden noch mehr herausfinden, wenn Sie die blöden Akten lesen könnten, die er Ihnen gegeben hat.«

»Erzählen Sie mir von ihm«, beharrte der Nomade.

»Warum?«

»Quigley hat ihn gestern Abend erwähnt«, erklärte der Nomade. »Er hat über ihn gesprochen, als sei er etwas …«

»Was?«

»Ich weiß nicht recht.« Der Nomade suchte angestrengt nach dem richtigen Wort. »Er hat über ihn so gesprochen wie meine Ma früher immer über Zauberei und Geister und den siebenten Sohn eines siebenten Sohns. Die alten Schauermärchen, Sie wissen schon. Quigley hatte so einen seltsamen Blick, als er über diesen Fegan sprach. Als wäre der irgendwie anders. Irgendwie besonders.«

Orla hörte sich sehr verschlafen an. »Hören Sie, wenn Sie glauben, dass der Job eine Nummer zu groß für Sie ist, dann sagen Sie es besser jetzt. Dann bezahlen wir Sie für das, was Sie bisher erledigt haben, und beenden die Sache. Wir brauchen hierfür einen richtigen Kerl, keinen, der es mit der Angst bekommt, weil er ein paar Geschichten gehört hat.«

»Nein«, sagte der Nomade. »Mir fehlt nichts. Ich will nur wissen, hinter wem ich eigentlich her bin. Wenn wir ihn gefunden haben, wenn ich ihn mir vornehme, dann will ich wissen, was er drauf hat.«

»In Ordnung«, sagte sie. »Gerry Fegan ist der einzige Mann, der jemals meinen Vater geschlagen und es überlebt hat, und das ist passiert, als er noch ein Teenager war. Er ist ein Killer, genau wie Sie. Wenn Sie die Wahrheit vertragen können, sage ich sie Ihnen.«

Der Nomade hörte auf, an dem Toilettenpapier über der Wunde auf seinem Arm herumzunesteln. »Ja, die vertrage ich.«

»Wenn ich Ihnen das hier erzähle, dann gibt es kein Zurück mehr. Dann ist es beschlossene Sache. Entweder bringen Sie den Auftrag dann zu Ende, oder auf Sie wird ein Kopfgeld ausgesetzt. Haben Sie mich verstanden?«

»Habe ich«, sagte der Nomade.

Orla O’Kane seufzte. »Na schön«, sagte sie. »Ich weiß nicht, ob Sie Gerry Fegan töten können. Ich weiß nicht, ob überhaupt jemand das kann. Sie haben recht. Nach den Erzählungen meines Vaters zu urteilen, ist er wirklich anders. Er war selbst Zeuge, wie Fegan bei einer Schießerei davongekommen ist, bei der vier andere Leute getötet wurden und mein Vater einen Bauchschuss abbekam. Fegan hatte nicht einmal einen Kratzer. Er ist einfach gegangen. Ich erzähle Ihnen jetzt etwas, und wenn Sie es ausplaudern, werde ich es erfahren. Und dann werde ich Ihnen jeden Mann, den wir haben, auf den Hals hetzen. Soll ich es Ihnen erzählen?«

»Ja«, sagte der Nomade.

»Gerry Fegan ist der einzige Mensch auf Erden, vor dem mein Vater Angst hat.«

Im ersten Moment überlegte der Nomade, ob er darauf die schlagfertige Antwort geben sollte, er habe vor niemandem Angst, selbst wenn Bull welche hatte. Dann besann er sich eines Besseren. »Tatsächlich?«, fragte er.

»Ja, tatsächlich«, sagte Orla. »Mein Vater hat mit Fegan an diesem Tag eine Vereinbarung getroffen. Er sagte, er würde ihn und Marie McKenna in Ruhe lassen, wenn Fegan ihn am Leben ließ. Verstehen Sie, was ich Ihnen damit sagen will?«

»Was?«

»Himmel, mein Vater ist Bull O’Kane. Der Bulle. Egal, ob es die Cops waren, die britische Armee, der SAS, der MI5, die verdammte UVF, die UDA oder irgendwelche anderen Mistkerle, die gegen ihn Front gemacht haben – vor keinem von denen hat mein Vater je einen Kniefall gemacht. Aber Gerry Fegan hat er um sein Leben angefleht. Wie ein winselnder Hund hat er Fegan angebettelt, ihn nicht umzubringen.«

Der Nomade saß regungslos da und wusste nicht, wie er auf Orlas Geständnis reagieren sollte.

»Haben Sie gehört, was ich gesagt habe?«, fragte sie.

»Ja«, antwortete der Nomade.

»Verstehen Sie, was ich Ihnen damit sagen will?«

»Nein«, antwortete der Nomade ehrlich.

»Ich kann es nicht zulassen, dass ein Mann am Leben bleibt, vor dem mein Vater Angst hat. So einfach ist das. Und jetzt hören Sie mir gut zu. Ich habe Ihnen etwas gebeichtet, was ich noch nie einer Menschenseele erzählt habe. Ich habe es Ihnen gebeichtet, weil ich glaube, dass Sie der Einzige sind, der gegen Gerry Fegan eine Chance hat. Ihr Leben reduziert sich nun auf eine einzige Alternative. Entweder töten Sie Fegan, oder Fegan tötet Sie. Das ist die Wahl, die Sie jetzt noch haben. Weglaufen geht nicht. Jetzt nicht mehr.«

Der Nomade schluckte und sagte: »Keine Sorge, ich …«

Er sprach nicht weiter, als er merkte, dass die Leitung tot war.

Gerry Fegan Bd. 2 - Blutige Fehde
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