23
Lennon hatte den Kopf in die Hände gelegt, aus Furcht, beim Sprechen Gordon oder Uprichard ansehen zu müssen. Die glaubten, sie hätten den Fall schon gelöst, und Lennon bezweifelte, dass sie begeistert sein würden, zu hören, dass er die Sache anders sah. Er sagte es ihnen trotzdem.
»Ich glaube nicht, dass es der Junge war.«
»Noch ist es zu früh, überhaupt irgendetwas zu glauben«, wehrte Gordon ab. Er hatte sich aus der Kantine ein typisches Ulster-Breakfast ins Büro kommen lassen. Gerade tunkte er zwei Würstchen in eine Eigelbpfütze.
Uprichard sah von seinem Posten am Heizkörper aus Gordon beim Essen zu. Er hatte im letzten Jahr einen leichten Herzinfarkt erlitten, und man erzählte sich, dass seine Frau ihm neuerdings Müsli zum Frühstück machte. »Warten wir erst noch die Leichenschau ab«, sagte er, »auch wenn Sie es kaum erwarten können, dass die Forensiker ihre Ergebnisse abliefern.«
»Wir wissen, dass er nicht allein da war«, sagte Lennon.
»Na schön, dann war da eben noch ein anderer Bursche«, nuschelte Gordon durch einen Mundvoll Würstchen mit Ei. »Das heißt noch nicht, dass der, den wir gefunden haben, es nicht getan hat. Dass er es getan hat, ebenso wenig. Sie ziehen viel zu oft voreilige Schlüsse, Detective Inspector Lennon. Sie sollten lernen, sich ein bisschen zurückzuhalten und erst einmal sämtliche Fakten zu bewerten. Ich mache diesen Job nun schon dreißig Jahre, und eines kann ich Ihnen jedenfalls versichern.« Gordon stach zur Bestätigung mit der Gabel in Lennons Richtung. »Wenn Sie bei einer Ermittlung schon eine vorgefasste Meinung haben, dann laufen Sie nur im Kreis herum.«
»Vorgefasste Meinung?«, fragte Lennon.
»Ganz recht«, sagte Gordon. »Das Erste, was Sie mir sagten, als sie hörten, dass es um Quigley ging, war: ›Das kann unmöglich ein Zufall sein.‹ Ihre Worte. Wenn Sie nicht aufpassen, wird so eine Einstellung alles, was Sie von da an unternehmen, unbrauchbar machen.«
In diesem Punkt musste Lennon Gordon recht geben. »In Ordnung«, sagte er. »Und was jetzt?«
»Ich schlage vor, Sie fahren erst mal nach Hause und ruhen sich aus«, sagte Chief Inspector Uprichard. »Sie sehen erschöpft aus. Bis die Ergebnisse der Leichenschau und der Forensik da sind, können wir sowieso nicht viel tun.«
Gordon kaute ein Stück Toast und spuckte beim Reden Krümel. »Unsere Leute gehen derzeit in drei Gruppen von Tür zu Tür und versuchen herauszufinden, mit wem der Junge alles befreundet war. Wenn sich etwas Neues ergibt, rufen wir Sie wieder rein.«
»In Ordnung«, sagte Lennon. Er stand auf und wandte sich zur Tür.
»Hören Sie auf, Dingen nachzujagen, die gar nicht da sind«, rief Gordon ihm nach. »Sonst geht Ihnen am Ende noch die Wahrheit durch die Lappen, nur weil Ihnen die passende Lüge fehlt, junger Freund.«
Schon seit einer Stunde lag Lennon auf dem Rücken und hoffte, einschlafen zu können. Hinter seinen Augäpfeln lauerte dumpf ein Vorbote von Kopfschmerzen. Die verlorenen Stunden der vergangenen Nacht wieder aufzuholen würde diesen Schmerz lindern. Aber Lennon wusste, dass diese warme Dunkelheit, je mehr er sie herbeisehnte, umso weniger kommen würde.
Wieder diese Stille. Zu viel Stille und zu viele Gedanken, die in sie eindrangen. Die meisten drehten sich um Marie und Ellen. Seit dem Moment, wo sie verschwunden waren, hatte er alles herauszufinden versucht, was er nur konnte, hatte um Gefälligkeiten gebeten und jedem, den er kannte, Informationen abgepresst. Aber wohin er sich auch wandte, überall hörte er dieselbe Geschichte: Marie hatte sich, nachdem man ihrem Onkel das Gehirn weggepustet hatte, nicht mehr sicher gefühlt und war deshalb verschwunden. Nach einiger Zeit hatte Lennon seine Bemühungen dann zurückgefahren. Er beschloss, die Sache aufzugeben. Er hatte seine Tochter nun einmal verloren. Da spielte es keine Rolle mehr, ob sie in Belfast wohnte oder irgendwo jenseits des Meeres. Er würde sie sowieso nie kennenlernen.
Aber dann hatte Dandy Andy Rankin geredet, und von neuem kreiste jeder von Lennons Gedanken um Marie und Ellen. Er schaffte es einfach nicht, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Es gab nur eins, was er tun konnte. Der Vermieter wohnte in der Wellesley Avenue, zwei Straßen weiter nördlich von der Eglantine Avenue. In zehn Minuten konnte er dort sein.
Jonathan Nesbitt, ein 67-jähriger Rentner, studierte eingehend Lennons Dienstausweis. »Was kann ich für Sie tun?«, fragte er.
»Darf ich hereinkommen?«, fragte Lennon zurück und stellte einen Fuß in die Tür.
»Ich denke, wenn Sie …«
Lennon trat an ihm vorbei und sagte: »Danke.«
Nesbitts Diele war ein bisschen schäbig, aber aufgeräumt. Er besaß zwei Mietobjekte, Häuser, die seine Frau von ihrem Vater geerbt hatte, bevor sie dann selbst vor einigen Jahren verstorben war. Durch die Diele kam man in ein Wohnzimmer mit hoher Decke. An den Wänden hingen billige Drucke von Engeln, Kindern, Hunden und sogar Spielkarten. In einer Ecke stand ein alter Fernseher, gerade tauschten die Moderatoren Philip Schofield und Fern Britton in übersättigten Farben irgendwelche Belanglosigkeiten aus.
»Worum geht es?«, fragte Nesbitt, als Lennon ihm hinein gefolgt war.
»Setzen Sie sich«, sagte Lennon.
»Oh, danke«, erwiderte Nesbitt ohne den geringsten Versuch, seinen Sarkasmus zu verbergen. Er ließ sich in einem Sessel vor dem Fernseher nieder.
Lennon setzte sich ihm gegenüber. »Es geht um das Haus, das Sie in der Eglantine Avenue besitzen. Konkret um das Parterre.«
Nesbitt verdrehte die Augen. »Miss McKenna«, seufzte er.
»Genau«, sagte Lennon.
»Zum letzten Mal: Miss McKenna ist in aller Eile ausgezogen, ich erhielt eine Jahresmiete im Voraus, mein Sohn hat für mich die Fenster vernagelt. Das ist alles.« Nesbitt legte den Kopf schief und kniff die Augen zusammen. »Moment mal, Sie waren doch schon mal hier und haben nach ihr gefragt. Vor zwei oder drei Monaten, stimmt’s?«
Lennon nickte. »Ja«, sagte er.
»Und was, glauben Sie, erzähle ich Ihnen heute, was ich Ihnen nicht schon damals erzählt habe? Hören Sie, man hat mich gebeten, die Wohnung für Miss McKenna frei zu halten, Ich erhielt die Miete im Voraus, sie ist ausgezogen, und mehr gibt es dazu nicht zu sagen.«
»Wer hat Sie gebeten, die Wohnung frei zu halten?«
Nesbitt nahm eine andere Sitzposition ein. »Darüber darf ich nicht sprechen.«
»Ich bin Polizist«, sagte Lennon.
»Und ich bin pensionierter Staatsbeamter und Vermieter«, erwiderte Nesbitt.
»Sie verstehen mich nicht.«
»Oh, ich verstehe Sie sogar sehr gut. Aber ich muss Ihnen nichts erzählen, was ich nicht erzählen will.«
»Ich kann Sie zwingen, mit mir zu reden«, sagte Lennon. »Ich kann Sie offiziell auf einer Polizeiwache zu einer protokollierten Zeugenaussage vorladen. Und wenn Sie die Fragen dann immer noch nicht beantworten wollen, kann ich Sie vor Gericht bringen, dann werden Sie …«
»Sie verschwenden Ihre Worte«, unterbrach ihn Nesbitt. »Die haben mir schon angekündigt, dass Sie das versuchen würden. Und sie haben versprochen, dass sie jedes gerichtliche Vorgehen unterbinden werden und ich nie vor einen Richter muss.«
»Wer hat das gesagt.«
Nesbitt hüstelte. Er wedelte mit der Hand, als suche er nach den richtigen Worten. »Die haben es gesagt«, erklärte er schließlich.
Lennon lehnte sich vor. »Wer sind die?«
»Das darf ich nicht sagen«, erklärte Nesbitt. Seine Augen funkelten, und er grinste. Offenkundig genoss er die Macht, die er über Lennon besaß.
»Jemand hat letzte Woche Maries Post abgeholt«, sagte Lennon. »Die müssen also einen Schlüssel haben.«
»Damit habe ich nichts zu tun«, sagte Nesbitt. »Ich habe keinen Fuß mehr in die Wohnung gesetzt, seit sie vernagelt worden ist.«
»Wer hat den Schlüssel?«
»Die haben ihn«, sagte Nesbitt. Er biss sich auf die Fingerknöchel, um ein Kichern zu unterdrücken.
»Und wer sind die?«
»Das darf ich nicht …«
»Ja, ich weiß schon.« Lennon stand auf. Es hatte keinen Zweck, Druck auf den Vermieter auszuüben. Er zog eine Visitenkarte aus seiner Jackentasche. »Aber tun Sie mir bitte einen Gefallen. Wenn noch jemand vorbeikommt und Fragen stellt, jemand, der nicht zu … Sie wissen schon … denen gehört, dann rufen Sie mich an, okay?«
Nesbitt nahm die Karte mit einem verächtlichen Schnauben entgegen, hielt sie auf Armeslänge von sich weg und studierte sie. »Mal sehen«, sagte er.
»Bitte«, sagte Lennon. »Wenn jemand, dem Sie nicht recht trauen, vorbeikommt, lassen Sie es mich bitte wissen.«
»Egal, wer?« Nesbitt legte die Karte auf die Sessellehne und starrte Lennon an. »Auch Leute wie Sie?«
»Ich finde allein hinaus«, antwortete Lennon.
Als er gerade in den Wagen stieg , klingelte sein Telefon. »Ja?«, meldete er sich.
Es war Gordon. »Die Blutgruppe auf der Stricknadel stimmt mit der des Jungen überein, und er hat einen kleinen Einstich an der Hüfte. Natürlich sind seine Fingerabdrücke auf dem Messer. Bis wir eine eindeutige DNA-Analyse aus Birmingham bekommen, wird es zwar noch ein paar Tage dauern, aber das sieht doch alles schon ziemlich klar aus. Mrs. Quigley hat ihn mit der Nadel gestochen, er ist in den Hinterhof geflohen und auf der nassen Erde ausgerutscht, und das war es.«
»Was ist mit dem anderen Jungen?«, fragte Lennon.
»Den haben wir noch nicht ausfindig gemacht«, antwortete Gordon. »Die Anwohner kooperieren größtenteils … weil die Paramilitärs es ihnen befohlen haben. Trotzdem keine Spur. Aber keine Sorge, früher oder später finden wir ihn.«
Lennon schwang sich auf den Fahrersitz. »Ich weiß nicht«, sagte er.
»Was wissen Sie nicht?«
»Sieht das nicht alles ein bisschen … na ja … zu einfach aus?«
»Sie sind doch eigentlich ein ganz erfahrener Ermittler, Detective Inspector Lennon«, sagte Gordon. »Das hier war ein plumper, dummer, hektischer Mord. Plumpe, dumme, hektische Mörder verwischen ihre Spuren nicht. Die werden fast immer innerhalb von 24 Stunden gefasst. Zugegeben, dass es der Mörder fertiggebracht hat, sich selbst das Genick zu brechen, war ein Glücksfall. Trotzdem, auch wenn wir noch die Berichte unserer naturwissenschaftlich beschlageneren Kollegen abwarten müssen, halte ich diesen Fall für abgeschlossen.«
»Sie haben mir doch gesagt, dafür sei es noch zu früh«, bemerkte Lennon.
»Das war heute Morgen«, sagte Gordon. »Jetzt ist jetzt. Wie ich Ihnen schon sagte, jagen Sie nicht irgendwelchen Hirngespinsten nach, die gar nicht da sind. Nehmen Sie sich den Rest des Tages frei. Sie haben am Tatort gute Arbeit geleistet. Das werde ich nicht vergessen.«
»Danke«, sagte Lennon.
Er beendete das Gespräch und schob das Telefon wieder in seine Jackentasche. Nesbitt beobachtete ihn vom Wohnzimmerfenster aus. Auch der Alte hatte ein Telefon am Ohr. Lennon fragte sich, mit wem er wohl sprach.