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»Du musst mir einen Gefallen tun«, sagte Lennon ins Telefon, während er an der Kreuzung von Lisburn Road und Sandy Row darauf wartete, dass die Ampel umsprang.
»Was für einen Gefallen?«, fragte Dan Hewitt.
»Ich möchte ein paar Akten einsehen«, sagte Lennon. Als die Ampel grün wurde, klemmte er sich das Telefon zwischen Ohr und Schulter und löste die Handbremse. »Alles, was ihr über die McKenna-Fehde habt.«
»Keine Chance«, sagte Hewitt. »Du hast keinerlei Veranlassung, diese Akten einzusehen. Es sei denn, du würdest aktuelle Ermittlungen anstellen, aber die Ermittlungen über diese Sauerei sind schon vor Monaten abgeschlossen worden. Weshalb willst du die haben?«
»Wegen einer Sache, die Rankin erwähnt hat.«
»Was hat der denn mit dieser Fehde zu tun?«
»Nichts. Er hat nur etwas erwähnt. Ein Gerücht, das er gehört hatte. Ich will es überprüfen. Nun komm schon. Ich tue dir schließlich einen großen Gefallen damit, dass ich mich mit schwerer Körperverletzung zufriedengebe.«
»Und als Gegenleistung kommst du wieder zur Mordkommission«, erwiderte Hewitt. »Ich glaube, damit sind wir quitt.«
Lennon gab sich alle Mühe, sich auf den Verkehr zu konzentrieren, während er sich auf Nebenstraßen zurück zum Donegal Pass schlängelte. »Ich muss die Akten sehen, Dan.«
»Nein, müssen tust du nicht«, widersprach Hewitt. »Du willst sie sehen. Das ist etwas ganz anderes. Aber selbst, wenn ich wollte, könnte ich sie dir nicht geben. Ich muss eine aktuelle Ermittlung vorweisen, bevor ich die Akten beantragen kann.«
»Mist«, sagte Lennon. »Es muss doch irgendeine Möglichkeit geben.«
»Wenn du Rankins Akte haben willst, könnte ich vielleicht etwas für dich tun, im Rahmen des Möglichen.«
»Und wie wäre es, wenn man eine Verbindung zwischen Rankin und McKenna entdeckt? Wenn es da irgendeine Gemeinsamkeit gibt, kannst du mir die Akten dann besorgen? Und auch die von Crozier. Rankin hat mir erzählt, dass Crozier sich nach McKennas Tod darangemacht hat, dessen Gebiet zu übernehmen. Dann ist da doch eine Verbindung zu meinem Fall.«
Einige endlos erscheinende Sekunden lang hörte Lennon nichts als Schweigen, bis Hewitt schließlich seufzte und sagte: »Na schön, ich werde sehen, was ich tun kann. Eine Menge davon wird allerdings zensiert sein. Du wirst mehr geschwärzte Zeilen zu sehen bekommen als sonst was.«
»In Ordnung«, sagte Lennon. »Alles, was du mir besorgen kannst.«
»Gib mir eine Stunde«, sagte Hewitt.
Die dünne Akte landete neunzig Minuten später auf Lennons Schreibtisch. Er blätterte die fotokopierten Seiten durch, es waren weniger als zwanzig. Genau wie Hewitt angekündigt hatte, war das meiste mit einem Filzstift mit fetten Strichen geschwärzt worden. Aber nicht alle waren auch im Original zensiert worden. Ein paar der Seiten rochen nach Lösungsmittel, und die schwarzen Linien fühlten sich frisch und noch etwas feucht an, wenn man sie berührte.
Im inneren Aktendeckel klebte ein Post-it. Darauf stand in Dan Hewitts Handschrift:
Jack,
viel ist es nicht, aber mehr kann ich nicht für Dich tun.
Vergiss nicht, wir haben Dandy Andy eine Menge zu ver-
danken. Wie ich schon sagte, er ist zwar ein Scheißkerl, aber
ein nützlicher Scheißkerl. Wirf das hier in den Reißwolf,
wenn Du damit durch bist.
Dan
Dandy Andy Rankin war in der Tat ein Scheißkerl. Nicht nur saugte er seit Jahren seine eigene Bevölkerungsgruppe aus, er hatte auch der Special Branch immer wieder Informationen gegeben und neuerdings deren Nachfolgerin im neuen Gewand, der Aufklärungsabteilung C3. Die ersten drei Seiten umfassten ein Täterprofil, mit Fahndungsfotos und einer Zusammenfassung seiner kriminellen Laufbahn, sozusagen Dandy Andy’s Greatest Hits. Als er die Seiten überflog, entdeckte Lennon mindestens ein halbes Dutzend vereitelte Mordanschläge, fünf aufgedeckte Waffenlager sowie Ecstasy, Kokain und Cannabis im Wert von mehreren hunderttausend Pfund, die auf dem Weg nach Belfast abgefangen worden waren.
Das alles hatte natürlich seinen Preis. Man hatte Rankin bei seinen Operationen relativ in Frieden gelassen. Nur ein einziger Absatz unter den Fotos fasste seine diversen Unternehmungen kurz zusammen. Dabei waren seine Anzüge nicht billig.
Die folgenden Seiten waren die interessantesten. Rankin hatte häppchenweise Informationen über Rodney Croziers beginnende Geschäftsverbindung mit den Banden der Litauer in Belfast geliefert. Die Konsolidierung der Europäischen Union sowie die Stabilisierung Nordirlands hatte diesem Teil der Welt zwar Wohlstand beschert, aber sehr bald waren auch die Kriminellen zur Stelle gewesen.
Der Süden hatte es zuerst erlebt. Dublins Unterwelt war von Tag zu Tag heimtückischer geworden. Bandenmorde waren inzwischen in der Republik fast genauso häufig wie seinerzeit in den schlimmen Jahren des Nordens die Morde durch die paramilitärischen Gruppen. Hier oben wurden die Gangster immer noch von den Paramilitärs unter Kontrolle gehalten. Der normale Verbrecher von nebenan hatte da keine Chance, trotzdem wurde die Konkurrenz aus Osteuropa allmählich unangenehm.
Die Loyalisten kooperierten nun schon seit geraumer Zeit mit den Litauern. Sie taten zwar so, als würden sie sich in den protestantischen Wohnvierteln gegen Ausländer wehren, und schüchterten hart arbeitende Immigranten ein, die Arbeiten verrichteten, die sonst keiner machen wollte. Aber hinter verschlossenen Türen scharwenzelten sie um die Gauner aus Litauen und anderen Ländern herum. Prostitution war eine ihrer wichtigsten Einnahmequellen, und die Litauer hatten eine Menge Frauen aus Russland, Rumänien, Weißrussland und der Ukraine im Angebot. Nichts davon war Lennon neu, sosehr er sich auch dafür schämte. Er blätterte eine Reihe Aktennotizen und Gesprächsprotokolle durch und las alles, was nicht geschwärzt worden war. In jeder der Notizen wurde McKennas Name mindestens einmal erwähnt, aber nichts davon war brauchbar. Nichts war dabei, das er mit dem in Verbindung bringen konnte, was Rankin ihm im Krankenhaus erzählt hatte.
Der letzte Teil war das Gesprächsprotokoll eines Treffens zwischen Rankin und einem seiner Kontaktleute. Lennon überflog die wenigen Passagen, die noch lesbar waren.
Datum: 09.05. 2007 Ort: Parkplatz, Makro-Lagerhalle, Dunmurry, Belfast Befragender Beamter: DI James Maxwell, C3 Vernommener: Andrew Rankin alias Dandy Andy Rankin
Der befragende Beamte registriert, dass Rankin während des gesamten Gesprächs deutlich erregt war, ersichtlich an seinem Gezappel und Kettenrauchen.
J.M. Was haben Sie für mich? AR: Den verdammten Rodney Crozier. Ich will, dass er aus dem Verkehr gezogen wird. JM: Mein Gott, Andy, jetzt kommen Sie nicht schon wieder damit. AR: Es geht um seine Geschäfte mit den Litauern. Der wird langsam größenwahnsinnig. Wenn das noch länger so weitergeht, dann scheißt er irgendwann auf mich. JM: Darüber haben wir schon geredet. AR: Und ich rede so lange weiter darüber, bis ihr Scheißkerle endlich aus dem Arsch kommt und etwas dagegen unternehmt. Seitdem Michael McKenna sich sein dämliches Hirn hat wegpusten lassen, macht der verdammte Rodney Crozier sich an die heran und …
McKennas Name irritierte Lennon. Jeder bei der Polizei wusste von seiner Verbindung zu McKenna, auch wenn die längst Geschichte war. Ein Drittel der Seite war geschwärzt. Lennon las unten weiter.
… die Leute reden eben. Crozier hätte sich in diesem Stadtteil niemals breitmachen können, wenn McKenna noch da wäre. JM: Und? AR: Und wenn ihr Jungs nichts dagegen unternehmt, dann mache ich es. Hätte nie gedacht, dass ich so was mal erlebe, zum Teufel. Dass einer von unseren eigenen Leuten gemeinsame Sache mit den Litauern macht und der anderen Seite Geld in die Tasche stopft. Ich habe noch Rodney Croziers Vater gekannt. Der würde sich im Grabe rumdrehen, wenn er sähe, mit wem sein Sohn Geschäfte macht. JM: Uns sind die Hände gebunden, verstehen Sie? Wir können nicht nur auf Ihr Wort hin eine Operation dieses Ausmaßes in Gang setzen. AR: Herrgott, wer hat eigentlich bei den Cops neuerdings das Sagen? Wer verlangt von euch, dass ihr bei diesen ganzen Vorgängen einfach wegschaut? Erst die Geschichte, dass McKenna abgeknallt wird, und dann der ganze Scheiß, der …
Wieder waren Zeilen mit Filzstift geschwärzt. Die Fehde. Die Morde in Belfast. Das Blutbad auf der alten Farm an der Grenze. Zeugenbefragungen hatten ergeben, dass Dissidenten dem Politiker Paul McGinty dort aufgelauert hatten, und die Ermittlungen wurden eingestellt, als drei von ihnen sich ein paar Monate später mit ihrer eigenen Bombe in die Luft sprengten. Ein Spezialistenteam von Forensikern hatte die Überreste der Waffen in ihrem Wagen als die identifiziert, die bei der Schießerei benutzt worden waren.
Als Lennon damals die Nachricht von McKennas Tod hörte, hatte sein erster Gedanke Marie und Ellen gegolten. Er hatte daran gedacht, sie anzurufen, hatte sogar schon ihre Nummer in sein Mobiltelefon eingetippt, aber dann wurde ihm klar, dass er nicht die geringste Ahnung hatte, was er sagen sollte. Er könnte darum bitten, mit seiner Tochter sprechen zu dürfen, aber er wusste, Marie würde nein sagen. Und was sollte man überhaupt mit einem Kind reden, das einen gar nicht kannte.
Und nicht etwa, weil er sich nicht bemüht hätte. Nach Ellens Geburt hatte er über zwei Jahre lang versucht, irgendeine Art von Kontakt herzustellen. Ihre Mutter hatte er verlassen, als sie mit dem Kind schwanger gewesen war. Da er sich diese Sünde selbst nicht vergeben konnte, erwartete er auch nicht, dass sonst irgendjemand ihm Absolution erteilen würde. Trotzdem war Ellen immer noch sein Kind. Marie verweigerte jeden Versuch, jede Annäherung. Das war nicht mehr als die Strafe für sein Vergehen, und er wusste, dass er sie auch verdiente. Ellen aber nicht. Er überlegte, ob er durch die gerichtlichen Instanzen gehen und Marie zwingen sollte, ihm einen Kontakt zu ermöglichen, aber er hatte ja selbst gesehen, dass die Justiz mehr Familien auseinanderriss als zusammenbrachte. Eltern benutzten ihre Kinder als Waffe gegeneinander. Damit wollte er nichts zu tun haben. Letztlich kam er zu dem Schluss, dass es besser war, wenn das Kind aufwuchs, ohne ihn zu kennen, als wenn er es zum Mittelpunkt eines Krieges machte, für den es gar nichts konnte.
Lennons eigener Vater hatte die Familie ebenfalls verlassen, und geblieben waren nur vage Erinnerungen an einen Mann, der in einem Moment schallend lachen und im nächsten wutentbrannt zuschlagen konnte. Er sei nach Amerika gegangen, hatte Lennons Mutter ihm erzählt, und wenn er genug Geld beisammen habe, werde er Frau und Kinder nachholen. Noch Jahre später hatte sie jedes Mal, wenn der Postbote die Zeitung durch den Türschlitz schob, diesen Funken Hoffnung in den Augen gehabt. Der Brief war nie gekommen.
Für Lennon war Familie nicht gleichbedeutend mit Wärme und Geborgenheit. Sie war gleichbedeutend mit Schmerz und Kummer. Seine Familie hatte sich von ihm losgesagt, als er bei der Polizei angefangen hatte. Maries Familie hatte dasselbe mit ihr gemacht, weil sie etwas mit ihm angefangen hatte. Blutsbande wurden so mühelos durchtrennt, dass sein Kind bestimmt glücklicher sein würde, wenn es erst gar kein Band zu ihm knüpfte.
Aber vergessen hatte er seine Tochter nie.
Bis sie weggezogen war, hatte er ein- oder zweimal pro Woche in der Eglantine Avenue geparkt und das Kommen und Gehen von Marie und Ellen beobachtet. Ellen sah ihrer Mutter ähnlich, zumindest aus einiger Entfernung. Er stellte sich vor, wie er ausstieg, zu ihnen ging und sich hinhockte, um Ellen ins Gesicht zu sehen und dabei ihre kleine Hand zu halten.
Aber was hätte dabei schon herauskommen sollen? Es hätte das Kind nur verwirrt, und Marie hätte sie von ihm weggezerrt. Marie konnte ihre innere Härte gut verbergen. Er jedoch hatte sie mehr als einmal zu spüren bekommen, als sie beide noch ein Paar gewesen waren. Sie fühlte sich an wie die Knochen unter ihrer Haut, nur kälter und spitzer. Sie wusste genau, dass ihre einzige Möglichkeit, ihn für seine Tat zu bestrafen, die war, dass sie ihm seine Tochter vorenthielt. Und selbst wenn er wegen eines Besuchsrechts vor Gericht gezogen und Ellen diesem ganzen Zirkus ausgesetzt hätte, was für einen Vater gab er denn schon ab? Sicher keinen besseren, als sein eigener es gewesen war.
Lennon schüttelte den Gedanken ab und begann wieder zu lesen.
… ganze Bude war voll davon. Jeder weiß, dass da mehr hintersteckte. Aber es geriet verdammt schnell in Vergessenheit. JM: Lieber Himmel, ihr Jungs tratscht ja schlimmer als ein Haufen alter Weiber beim Bingo. Nichts davon hat irgendwas mit Ihnen zu tun. AR: Wie bitte? Nichts mit mir zu tun? Ich verliere ein ganzes Vermögen, weil Michael McKenna sich dämlicherweise …
Diesmal fehlte eine halbe Seite. Lennon las unten weiter.
…ädchen. Und seitdem ist sie nicht mehr gesehen worden. Lennon hörte auf zu lesen. Sein Mund war wie ausgetrocknet. Er fuhr mit dem Finger über die geschwärzten Zeilen und suchte nach irgendeinem Anzeichen der Buchstaben, die sich darunter verbargen. Dieses letzte Wort – war es »Mädchen« gewesen? Er versuchte, einen Rest von Flüssigkeit in seinem Mund zu finden, um sich die Lippen zu befeuchten, aber seine Zunge rieb nur über den trockenen Gaumen.
Lennon schob die Papiere beiseite und sah auf die Uhr. Fast Mittag. Er nahm den Telefonhörer und wählte die Zentrale des C3. Er verlangte Hewitt.
»Lust auf Mittagessen?«, fragte er, als Hewitt abnahm.
»Mit dir?«
»Ja«, sagte Lennon. »Mit mir.«
»Jack, ich habe dir doch die Akten beschafft. Das war schon mehr, als ich hätte tun dürfen.«
»Jetzt komm schon. Um der alten Zeiten willen.«
»Herrgott«, fluchte Hewitt. »Was willst du?«
»Nur ein paar Fragen stellen. Und ein Sandwich mit Speck.«
Hewitt seufzte. »Na gut, in zehn Minuten in der Kantine.«
Hewitt stocherte in einem Salat herum, während Lennon auf kaltem Speck kaute. Der Aktenordner lag zwischen ihnen auf dem Tisch. Auf der anderen Seite der Kantine saß ein ganzer Trupp von Jungs der Polizeitaktik grölend und wiehernd vor Pommes und Bohnen. Die hatten wahrscheinlich für den Nachmittag eine Razzia geplant, in einem Haus mit Panzertüren und beheizten Räumen für die Cannabispflanzen oder in einem Eckladen, in dessen Hinterzimmer stapelweise geschmuggelte Zigaretten gehortet wurden.
»Das mit der Zensur war jedenfalls kein Witz«, sagte Lennon. »Das meiste war geschwärzt.
Hewitt nippte an seinem Mineralwasser. »Was hast du denn erwartet? Du kannst von Glück sagen, dass du überhaupt was zu Gesicht bekommen hast.«
Lennon gab einen Löffel Zucker in seinen Tee. »Ich weiß. Und da ist auch nur noch eine Sache, die mich neugierig macht.«
»Frag erst gar nicht«, wehrte Hewitt ab.
»Nur eine Sache.« Lennon nahm einen Schluck seines lauwarmen Tees. »Es geht um die Geschichte mit Michael McKenna, diese Fehde. Dass McGinty in der Nähe von Middletown in einen Hinterhalt gelockt wurde.«
»Was soll damit sein? Nach Abschluss der Ermittlungen wurde doch alles publik gemacht. Die McGinty-Fraktion hat sich untereinander bekämpft, und dann haben sich noch die Dissidenten eingemischt. Ein Riesenschlamassel, aber jetzt ist die Sache vorbei.«
Lennon kämpfte mit seinem Speck. Hewitt wartete geduldig. Endlich schluckte Lennon und fragte: »Warum ist dann alles geschwärzt? Warum diese Heimlichtuerei, wenn doch sowieso alles öffentlich bekannt ist?«
Hewitt legte seine Gabel hin und tupfte sich mit einer Serviette die Lippen ab, obwohl sein Mund sauber war. »Hör mal, Jack, ich habe dich aus Gefälligkeit in diese Unterlagen reinsehen lassen. Wenn jemand wüsste, dass ich sie dir zugänglich gemacht habe, wäre ich in Schwierigkeiten. Übertreib es also nicht.«
»Hast du das von Kevin Mallory gehört? Was mit dem vorgestern Abend passiert ist?«, fragte Lennon. »Der gehörte zu Bull O’Kanes Bande. Bull O’Kane gehört die Farm, in der McGinty umgebracht wurde.«
»Diese Mallory-Sache war ein schiefgelaufener Raubüberfall«, erklärte Hewitt. »Außerdem geht uns das nichts an. Das war auf der anderen Seite der Grenze. Darum sollen sich die Guards kümmern. Du stocherst die ganze Zeit herum. Worauf bist du aus?«
Lennon riskierte es. »Was steht in den Akten über Marie McKenna?«
Hewitt wurde blass.
»In der Befragung von Rankin«, fuhr Lennon fort, ohne Hewitt die Gelegenheit zu geben, ausweichend zu antworten, »da erwähnt er sie ganz am Ende.«
»Nein, tut er nicht«, sagte Hewitt mit einem matten Lachen. Er nahm seine Gabel wieder auf und stach auf die matschigen Salatblätter ein.
»Tut er doch«, widersprach Lennon. »Ganz am Ende.«
Hewitt ließ die Gabel fallen und griff nach dem Ordner. Er zog die losen Seiten hervor und blätterte sie durch. Er fand die Befragung Rankins und fuhr mit den Fingern über die Zeilen. Nachdem er ein paar Sekunden lang das Blatt hin und her gewendet hatte, sagte er: »Eine Marie McKenna wird hier an keiner Stelle erwähnt.«
»Nein«, antwortete Lennon. »Aber nachsehen musstest du trotzdem erst mal, stimmt’s?«
Wütend und mit geröteten Wangen starrte Hewitt ihn über den Tisch hinweg an, dann stopfte er die Akten zurück in den Ordner. »Die behalte ich«, sage er. »Nur um sicherzugehen, dass sie auch ordnungsgemäß vernichtet werden.«
»War Marie irgendwie in diese Sache verwickelt?«, fragte Lennon.
Hewitt stand auf. »Darüber werde ich mit dir nicht sprechen, Jack.«
»Manchmal fahre ich in ihrer Straße vorbei«, fuhr Lennon fort. »Nicht aus irgendwelchen zwielichtigen Gründen, du verstehst schon. Nur, wenn ich zufällig dort vorbeikomme. Ihre Fenster sind jetzt schon eine ganze Weile vernagelt. Ich habe mich ein bisschen umgehört, auf ihrer Arbeit und so weiter. Da hieß es, sie sei umgezogen, und keiner wusste, wohin. Von heute auf morgen.«
Hewitt kam um den Tisch herum zu Lennon. »Jack, wenn du noch weitere Informationen aus diesen Akten haben willst, kannst du offiziell Einsicht beantragen.«
»Sie ist mit meiner Tochter weggezogen«, sprach Lennon weiter. »Du weißt ja, dass meine Familie sich von mir losgesagt hat, als ich zur Polizei gegangen bin. Lieber Himmel, in meiner Personalakte ist als nächster Verwandter mein Cousin eingetragen, und mit dem rede ich nur einmal im Jahr. Ellen ist die einzige Spur, die ich in dieser Welt hinterlassen habe. Meine einzige Verwandte. Und sie weiß nicht einmal, wer ich bin. Ich will einfach nur wissen, wo sie ist.«
»Na gut.« Hewitt legte Lennon eine Hand auf die Schulter. »Ich sage dir das als alter Freund. Ich sollte überhaupt nicht darüber reden, aber für dich mache ich eine Ausnahme.« Er lehnte sich dicht an Lennons Ohr. »In diesen Akten steht absolut nichts über Marie McKenna oder ihr Kind. In Ordnung?«
Lennon wandte den Kopf, seine und Hewitts Augen waren nur noch Zentimeter voneinander entfernt. »In Ordnung«, sagte er.
Hewitt klopfte ihm auf die Schulter und ging davon, die Akte unter den Arm geklemmt.
»Eins noch, Dan«, rief Lennon ihm nach.
Hewitt blieb stehen, seufzte und drehte sich um.
»Wenn du mich anlügst?«
»Was dann?«
Lennon dachte ein paar Sekunden darüber nach, dann sagte er die Wahrheit. »Weiß ich nicht.«