24
Orla O’Kane stand allein in ihrem Zimmer im Dienstbotentrakt des alten Hauses. Aus dem kleinen Fenster blickte man auf die lange, geschwungene Einfahrt hinab. Sie streifte die Spitze ihrer Zigarette im Aschenbecher ab. Mit der freien Hand wählte sie die Nummer des Mobiltelefons, das sie dem Nomaden gegeben hatte.
»Wie geht’s, Schätzchen?«, meldete er sich.
Sie schloss die Augen und nahm einen tiefen Zug aus ihrer Zigarette.
»Fegan ist in New York«, sagte sie. »Wir haben einen Tipp von einem Freund im NYPD bekommen. Irgendein Blödmann namens Murphy ist in einem Krankenhaus aufgetaucht und hat erzählt, ein Ire und ein Farbiger hätten ihn fertiggemacht. Er hat auch erwähnt, dass der Ire den Farbigen davon abgehalten hat, ihn zu töten. Und der Name des irischen Typen sei Gerry Fegan.«
»Wollen Sie etwa, dass ich nach New York fliege?«, fragte der Nomade.
»Nein. Sie halten sich an den Plan. Setzen Sie die Frau und das Mädchen ein. Wir haben gehört, dass die zwei bald auftauchen. Sorgen Sie dafür, dass er zu Ihnen kommt.«
»In Ordnung«, sagte der Nomade.
Orla unterbrach die Verbindung und warf das Telefon auf ihr schmales Bett. Sie drückte die Zigarette aus und sah auf ihre Armbanduhr. Der Kolostomiebeutel ihres Vaters musste gewechselt werden, und sie wollte nicht, dass eine der beiden Krankenschwestern das machte. Stattdessen musste Orla selbst den Fäkalienbeutel vom Stoma lösen, der künstlichen Körperöffnung im Bauch ihres Vaters. Dann warf sie den Beutel weg und brachte einen frischen an. Bei den ersten Malen, wo sie es hatte erledigen müssen, hatte sie geweint. Inzwischen ignorierte sie den Gestank einfach und brachte die Sache hinter sich.
Über zwei schmale Treppen gelangte sie in den ersten Stock. Sie überquerte die Galerie mit Blick auf den Eingang und klopfte an die Tür ihres Vaters.
»Wer ist da?«
»Ich bin es«, antwortete sie.
»Komm rein.«
In seiner Stimme lag eine Ungeduld, die ihr nicht behagte. Sie öffnete die Tür und trat ein, dann blieb sie zwischen Tür und Bett stehen.
»Steh nicht so blöd da und glotz«, herrschte Bull O’Kane sie an. »Komm lieber her und hilf mir.«
Es saß auf der Bettkante, zu seinen Füßen ein Knäuel aus Laken und Decken mit orangefarbenen und roten Flecken. Eine Plastikschüssel lag umgestürzt auf dem Fußboden, daneben ein Trinkbecher. Das Tablett stand angelehnt am Nachtschränkchen.
Orla ging zu ihm hin. »Mein Gott, Da, warum hast du denn nicht eine von den Schwestern gerufen?«
»Weil ich nicht will, dass die ständig um mich herumschwirren. Hilf mir einfach, okay?«
Sie kniete sich hin, nahm das Tablett und stellte die Schüssel und den Becher darauf. Hier unten, so nahe bei ihm, war der Geruch besonders schlimm. Aus einer Schachtel auf dem Nachtschränkchen zupfte sie eine Handvoll Papiertaschentücher und betupfte damit die Pfützen von Suppe und Orangensaft.
»Manchmal musst du dir aber nun mal von den Schwestern helfen lassen«, sagte sie. »Dafür werden sie schließlich bezahlt. Ich kann nicht ständig da sein und hinter dir herräumen.«
»Ich will sie nicht in meiner Nähe haben«, nörgelte Bull. »Wenn ich mich nicht mal mehr auf meine eigene Tochter verlassen kann, Himmel, auf wen soll ich mich denn dann noch verlassen?«
Ihr heißer, blanker Zorn machte sich Luft, noch bevor sie sich bezähmen konnte. »Dann sei eben gefälligst ein bisschen vorsichtiger, zum Teufel. Du …«
Der Schlag ließ sie zur Seite kippen, sie landete auf der Schulter. Ihr Ohr brannte, irgendwo in seinem Inneren hörte sie einen hohen, sirrenden Ton. Sie blieb liegen, bis sie ihren Atem wieder unter Kontrolle hatte.
Der alte Mann starrte abwesend vor sich hin. »Herr im Himmel, meine eigene Tochter.«
Orla kniete sich hin, knüllte die Papiertaschentücher zusammen und legte sie aufs Tablett. Dann stand sie auf, trug das Tablett zur Tür und verließ das Zimmer. Ihr Ohr klingelte, Tränen waren ihr in die Augen geschossen. Sie warf das Tablett an die Wand und sah zu, wie die letzten Tropfen Suppe und Orangensaft die Tapete bespritzten und das Plastik auf den Boden schepperte.