20

Lennon stand schon wartend im Flur des Reihenhauses, als die Forensiker im Morgengrauen aus Carrickfergus ankamen. Als Erstes machten sie sich über Quigleys Leiche her, während die Fotografen bei Tageslicht Fotos von dem Jungen im Hinterhof schossen. Lennon sah vom Küchenfenster aus zu, seine Augen fühlten sich trocken und heiß an. Für ein paar Stunden war er nach Hause gefahren, hatte aber keinen Schlaf gefunden.

Er musterte die Leiche des Jungen, das himmelwärts gewandte Gesicht, die Plane, die man über Nacht aufgespannt und jetzt wieder weggezogen hatte, um das Tageslicht einzulassen. Der im spitzen Winkel verdrehte Hals ließ vermuten, dass nicht der Schlag auf den Kopf den Jungen getötet hatte. Siebzehn oder achtzehn, höchstens neunzehn. Er trug einen Trainingsanzug und Nike-Sportschuhe, höchstwahrscheinlich gefälschte, die er irgendwo an einem Marktstand gekauft hatte. Vermutlich stammte er aus der Nachbarschaft. Vermutlich hatte er absichtlich keinen Ausweis dabei gehabt, trotzdem würden sie ziemlich bald wissen, wer er war. Seine Mutter würde feststellen, dass ihr Sohn nicht in seinem Bett geschlafen hatte, und wenn dann die Gerüchte zu ihr drangen, dass irgendwo in einem Hinterhof ein toter Jugendlicher lag, würde sie Bescheid wissen. Wenn sie dann zu Quigleys Tür gelaufen kam, würde Lennon sich um sie kümmern.

Der Fotograf kam zurück in die Küche. Er brachte Lennon die Kamera und zeigte ihm den kleinen Bildschirm. »Sehen Sie mal!«, sagte er und scrollte die Bilder durch. »Hier.«

Das Bild zeigte, dass der Junge ein Messer in der Hand hatte. Sie lag halb unter seinem Körper verborgen, so dass man die Waffe selbst nicht sehen konnte.

»Der Mörder ist nicht weit gekommen«, sagte der Fotograf. »Sieht so aus, als wäre er ausgerutscht und übel gestürzt.«

»Vielleicht«, sagte Lennon. »Er liegt auf der linken Seite, aber sein Rücken und die rechte Seite sind auch ganz verschmutzt. Schauen Sie doch mal, wo der Kopf liegt. Der hat sich doch nicht das Genick gebrochen und danach noch auf die Seite gerollt.«

»Wer weiß schon, woher der Dreck stammt?«, sagte der Fotograf.

»Bevor wir irgendwelche voreiligen Schlüsse ziehen, sollen sich das erst mal die Forensiker ansehen. Sehen Sie zu, dass möglichst bald hiervon Ausdrucke auf dem Schreibtisch von Detective Chief Inspector Gordon landen.«

»Wird gemacht«, sagte der Fotograf und verschwand in Richtung Wohnzimmer.

Lennon ging zur Hintertür und suchte mit den Augen den Hof ab. Jeden Fetzen Unrat und jede Pfütze betrachtete er. Der Beton war mit einem schaumigen grünen Algenflor bedeckt, auf dessen Oberfläche man mit Mühe noch ein Wirrwarr von Fußabdrücken erkennen konnte. Die konnten von jedem stammen, von der alten Frau oder ihrem toten Sohn, von dem Jungen oder dem Arzt, der ihn für tot erklärt hatte. Der Regen, der schon gefallen war, bevor man die Plane hatte aufspannen können, hatte sie allesamt verwischt. Unbrauchbar.

»Das ist einfach zu perfekt«, sagte Lennon zu sich selbst.

Sein Mobiltelefon klingelte.

»Gerade haben wir etwas Interessantes gefunden«, sagte Detective Chief Inspector Gordon.

»Wir auch«, gab Lennon zurück.

»Sie zuerst«, sagte Gordon.

Lennon erzählte ihm von dem Messer, das der Fotograf entdeckt hatte.

»Das wäre es dann ja wohl«, sagte Gordon. »Jedenfalls fast.«

»Fast?«

»Der Diensthabende in der North Queen Street hat einen Bericht aufgenommen, dass zwei Beamte an der Kreuzung von Lower Ormeau und Donegal Pass eine Auseinandersetzung zwischen zwei rivalisierenden Banden unterbunden haben. Ein paar der Jugendlichen haben sie entlang der Lower Ormeau verfolgt. Die Burschen haben sich getrennt, und zweien sind die Beamten in die Gasse hinter Quigleys Haus gefolgt. Dort haben sie die beiden verloren.«

»Haben Sie Personenbeschreibungen durchgeben können?«, fragte Lennon und trat zur Seite, um einen der Forensiker vorbeizulassen.

»Nur vage, aber vielleicht reichen die ja. Beide männlich, zwischen fünfzehn und neunzehn, kurzes dunkles Haar, beide schlank, beide trugen Trainingsanzüge und Sportschuhe. Einer der beiden, der kleinere, trug einen Adidas-Trainingsanzug und Nike-Sportschuhe. Passt das?«

Lennon warf einen Blick auf die Leiche des Jungen. »Ja«, sagte er.

»Allerdings gibt es«, fuhr Gordon fort, »in diesem Teil der Welt ja jede Menge Fans von Adidas und Nike. Trotzdem wäre es ein ziemlicher Zufall.«

»Ein verflucht großer«, sagte Lennon.

»Achten Sie auf Ihre Ausdrucksweise«, mahnte Gordon. »Aber das bedeutet natürlich …«

Lennon führte den Gedanken zu Ende. »Dass da noch ein zweiter Junge war.«

»Sobald die Leiche identifiziert ist, will ich, dass jeder Mensch, der diesen Jungen jemals gekannt hat, verhört wird. Klar?«

»Klar«, bestätigte Lennon.

»Gut«, sagte Gordon. Er hängte ein.

»Inspector?«, rief eine Stimme von hinten.

Lennon drehte sich um.

Aus dem Wohnzimmer lehnte sich ein Constable in die Tür. »Sie kommen besser mal nach vorne.«

Lennon folgte ihm durch das Wohnzimmer, wo die meisten der Forensiker immer noch Quigleys Leiche untersuchten, hinaus in den Flur. Es war noch früh und die Luft draußen herbstlich kühl. Eine kleine Menschentraube hatte sich auf der Straße versammelt, Kinder und Frauen, die hofften, einen Blick auf die Leiche erhaschen zu können.

Eine Frau stand etwas abseits, ein Polizist versperrte ihr den Weg. Sie war barfuß und hatte sich einen Morgenmantel übergeworfen. Mit zitternden Händen starrte sie Lennon an, ihr Mund stand offen, und die Augen waren erfüllt von Entsetzen und Hoffnung.

Lennon ging zu ihr.

»Es tut mir leid«, sagte er, dann brach sie auch schon in seinen Armen zusammen.

Gerry Fegan Bd. 2 - Blutige Fehde
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