Auslegungssachen
Jesus hat gelebt und gelehrt; was er gelehrt habe, ist uns überliefert worden, allerdings ist uns leider unbekannt, wer es überliefert hat und welche Teile von Jesu Lehre die Überlieferung enthält und welche nicht. Einiges von dem, was die entstehende Großkirche in der Zeit der Kanonisierung ausschloss, konnte wiedergefunden werden, vieles andere ist für immer verloren oder (noch) verborgen. Kaum abschätzbar ist auch, inwieweit Jahrzehnte rein mündlicher Tradition und Jahrhunderte der Abschriften und (falschen) Übersetzungen das „Wort Gottes“ verändert haben bzw. inwieweit die kanonisierten Texte von den kirchlichen Endredaktionen beeinflusst worden sind.
Jesu Lehre ist nicht deren Überlieferung, nicht was davon niedergeschrieben wurde und schon gar nicht, wie die Schrift ausgelegt wurde
Im Versuch, Verbindlichkeit und Einheitlichkeit zu erreichen, entstand die „Heilige Schrift“ der Christenheit; wir haben aber gesehen, dass etliche der populärsten Bilder (Weihnachtskrippe) und z. B. faktisch der gesamte Marienkult fast gar nichts mit der Bibel zu tun haben, sondern auf der Grundlage apokrypher Schriften und fantasievoller Heiligenlegenden entstanden sind.
Besonders am Beispiel der Maria Magdalena wurde deutlich, wie wenig wiederum die Schrift mit der gelebten kirchlichen Praxis zu tun hat. Magdalena hat allen redaktionellen Marginalisierungsversuchen in den kanonischen Evangelien widerstanden und ist der Schrift nach die Königin des Neuen Testaments; was ihr ein weit über 1.000 Jahre andauerndes Schicksal als Prostituierte nicht erspart hat. Mit ihr als Symbol an der Spitze wurde und wird die gesamte weibliche Welt von der katholischen Kirche ausgegrenzt.
Es ist eben alles nur eine Frage der Auslegung. Wer Jesus war und was er gesagt oder getan haben könnte, spielt keine große Rolle. Was in der Bibel steht, ist weitgehend unerheblich. Entscheidend ist ausschließlich, was uns glauben gemacht wird. Notfalls dogmatisch: Seit der Papst unfehlbar ist (beschlossen am 18. Juli 1870 unter Pius IX.), verkündet er „ex cathedra“ (d. h. mit höchster Lehrgewalt) dank göttlichen Beistandes „aus sich heraus unabänderliche Entscheidungen“.
Anders gesagt: Glauben Sie es oder fühlen Sie sich nicht länger der katholischen Kirche zugehörig. Eine Option, für die sich ein steter und stets wachsender Strom an Menschen entschließt; Kirchenaustrittswelle und Priestermangel sind moderne Schlagworte geworden.
Andere (christliche) Konfessionen sind, was das sture Beharren auf der eigenen Meinung betrifft, keinesfalls grundsätzlich besser als die katholische; die r.-k. Kirche hat nur mit Abstand die größte Machtfülle auf sich vereint und sich über die längste Zeit am meisten herausgenommen; sie steht deshalb naturgemäß im Zentrum der Kritik.
The Holy Bible – revisited?
Könnte eine neue, menschliche, spirituelle, undogmatische, zeitgemäße Bibel das Ausdünnen der katholischen Kirche verlangsamen? Würde ein gründlich überarbeiteter Schriftenkanon, der zumindest die unleugbaren Fehlinterpretationen seitens der Kirche – Stellung der Frauen, Haltung zu Fragen der Sexualität – vermeidet, für frischen christlichen Schwung sorgen?
Ja – ungeachtet der zuvor ausgeführten minderen Bedeutung der Schrift. Weil eine solche neue Bibel nur entstehen könnte, wenn der entsprechende Reformwille vorhanden wäre, wenn es Ermunterung gäbe, auch scheinbar unverrückbare „Tatsachen“ zu hinterfragen, wenn Unzumutbarkeiten wie ein Dogma der Unfehlbarkeit einfach ersatzlos gestrichen würden. Allerdings erscheint es nach Jahrhunderten der Häresie, der Glaubenskriege und Schismen undenkbar, dass es je einen Konsens über die Inhalte einer solchen neuen „Heiligen Schrift“ geben könnte. Nicht zwischen den christlichen Konfessionen und noch viel weniger über die Konfessionen hinaus.
Doch wer weiß: Immerhin wurde Ende des 20. Jahrhunderts die gegenseitige Exkommunikation der röm.-kath. und der östl.-orthodoxen Kirchen, die man 1054 ausgesprochen hatte, aufgehoben. Maria Magdalena wurde offiziell ihres Prostituiertenstatus entledigt, nach 1.350 Jahren. Annäherung und Veränderung sind also nicht unmöglich, sie benötigen nur ein wenig Zeit …
Hoffen wir also, dass der Islam nicht recht behält und die Überwindung der Glaubensschranken mit dem Tag des Jüngsten Gerichts zusammenfällt; etwas früher dürfte es schon geschehen.