Isa bin Marjam
Im Koran, dem heiligen Buch des Islam, nimmt Jesus eine herausragende Stellung ein. Er wird zu den fünf bedeutenden Propheten gezählt: Adam, Abraham, Moses, Jesus, Mohammed; unter diesen ist Jesus an Wichtigkeit nur dem Religionsstifter Mohammed selbst untergeordnet.
Wie dieser ist er aber Gottes Gesandter für sein Volk, die Juden, und wird deshalb sogar als Messias angesehen. Seine zentrale Botschaft ist mit jener des Islam ident: Glaubt an den einen Gott!
Ich bin mit der Weisheit zu euch gekommen, und um euch einiges von dem, worüber ihr uneins seid, klarzumachen. Daher fürchtet Allah und gehorcht mir! 64 Allah ist mein und euer Herr. Dient ihm! (Sure 43, 63–64)
Der oberste und absolut unumstößliche Glaubensgrundsatz des Islam besteht in der Anerkennung von Allah als dem einen einzigen Gott, neben dem keinerlei andere Götter oder Gottheiten existieren. Jesus kann daher nicht der Sohn Gottes und als solcher selbst göttlich sein; konsequenterweise wird er durchgehend als Isa bin Marjam bezeichnet: Jesus, Sohn der Maria.
Gleichwohl war es Allahs erklärter Wille, dass Jesus unter den Menschen wandeln sollte. Sure 3, 45–48, bestätigt seine Menschwerdung durch das Wort Gottes und Marias jungfräuliche Schwangerschaft:
Gedenke, da die Engel sprachen: „O Maria, Allah gibt dir frohe Kunde durch ein Wort von Ihm: Sein Name soll sein der Messias, Jesus, Sohn der Maria, geehrt in dieser und in jener Welt, einer der Gott nahe steht. Und er wird schon in der Wiege zu den Menschen reden und auch als Erwachsener und einer der Rechtschaffenen sein.“ Sie sprach: „Herr, wie sollte ich einen Sohn empfangen, wo mich kein Mann berührt hat?“ Er sprach: „So ist Allahs Weg. Beschließt Er eine Sache, so spricht Er nur zu ihr: Sei! Und sie ist.“ Und Er wird ihn das Buch lehren, die Weisheit, die Tora und das Evangelium.
Maria nimmt auch sonst eine Sonderstellung ein: Die Sure 19 trägt als Titel ihren Namen und widmet sich zur Gänze ihrer Geschichte. Darin finden sich viele vertraute apokryphe Elemente: das Protevangelium des Jakobus (Kapitel „Bestseller der Antike“) ist mit der Nebenhandlung rund um den Hohepriester Zacharias und dessen Sohn Johannes dem Täufer vertreten; auch Marias Kindheit im Tempel wird im Koran erwähnt. Die Sure „Maria“ schildert erneut Jesu Zeugung durch das Wort Gottes; nach der Geburt des Propheten vermag dieser sofort zu sprechen:
Da war sie nun schwanger mit dem Jesusknaben. Und sie zog sich mit ihm an einen fernen Ort zurück. 23 Die Wehen veranlassten sie, zum Stamm einer Palme zu gehen. Sie sagte: „Wäre ich doch vorher gestorben und ganz in Vergessenheit geraten!“ 24 Da rief der Jesusknabe ihr von unten her zu: „Sei nicht betrübt! Dein Herr hat unter dir eine Quelle geschaffen. 25 Zieh den Stamm der Palme an dich! Dann lässt sie saftige, frische Datteln auf dich herunterfallen.“ (Sure 19, 22–25; Koran-Zitate überwiegend nach Digitale Bibliothek Bd. 46, Der Koran)
Die Parallelen zum Pseudo-Matthäus-Evangelium
(ebenfalls im Kapitel „Bestseller der Antike“) sind unübersehbar:
das sprechende Neugeborene, die freundliche Palme, die Quelle an
ihren Wurzeln.
Im Laufe seines Lebens vollbringt Isa bin Marjam noch zahlreiche
weitere Wunder, wie bereits der Engel bei Maria ankündigt (Sure 3).
Darunter ein Motiv, das uns bereits im Kindheitsevangelium des
Thomas begegnet ist:
49 Jesus erwies sich gegenüber den Kindern Israels als Gesandter Allahs: „Ich gebe euch ein Zeichen von eurem Herrn, indem ich aus Lehm etwas schaffe, was Vögeln gleicht. Dann werde ich hineinblasen, und es werden mit Gottes Erlaubnis lebendige Vögel sein. Und ich werde mit Gottes Erlaubnis Blinde und Aussätzige heilen und Tote wieder lebendig machen.“
Auffällig dabei ist, wie immer wieder betont wird, dass Jesus nur ein Mittler für den Willen Gottes ist; außerdem werden die Wunder Jesu in der islamischen Theologie metaphorisch verstanden: Mit „Toten“ seien keine physischen Leichname, sondern spirituell tote Menschen gemeint; alles andere widerspräche den Gesetzen der Natur und damit den Gesetzen Allahs.
Jesus wurde nicht gekreuzigt
Für Muslime steht es außer Frage, dass ein von Allah erwählter Prophet auch unter Gottes besonderem Schutz stand. Die Kreuzigung kann daher laut Sure 4, 157 nicht stattgefunden haben:
(Die Juden haben gesagt): „Wir haben Jesus Christus, den Sohn der Maria und Gesandten Allahs, getötet.“ Aber in Wahrheit haben sie ihn nicht (…) gekreuzigt. Denn sie hielten einen anderen für ihn und den töteten sie. (…) Sie können nicht mit Gewissheit behaupten, dass sie ihn getötet haben.
Die Vorstellung, jemand habe „die Schuld (aller) auf sich genommen“, ist in einem muslimischen Verständnis undenkbar – am Ende muss jeder Mensch selbst die Verantwortung für sein Leben übernehmen und die Konsequenzen seiner Taten akzeptieren. Jesus habe keinesfalls für alle anderen gelitten, sondern sei von Gott nach der Erfüllung seines Auftrags an seine Seite erhoben worden. Dieser Auftrag lautete wörtlich (Sure 3,50):
Ich bin gekommen, um zu bekräftigen, was von der Tora vor mir da war. Und ich will euch einiges von dem erlauben, was euch verboten worden ist.
Das hat Jesus getan und wurde mit den anderen Gesandten am Ende der Tage zu Gott gerufen. Dort stellt Allah ihm die aus muslimischer Sicht alles entscheidende Frage (Sure 5, 116–117):
„Jesus, Sohn der Maria! Hast du zu den Leuten gesagt: ,Nehmt euch außer Allah mich und meine Mutter zu Göttern!‘?“ Er sagte: „Gepriesen seist du! Ich darf nichts sagen, wozu mir das Recht fehlt. Hätte ich es doch getan, wüsstest du es (ohnedies und bräuchtest nicht zu fragen). Du weißt Bescheid über meine Gedanken, ich aber nicht über deine. (…) 117 Ich habe ihnen nur gesagt, was du mir aufgetragen hast: ‚Dient Allah, meinem und eurem Herrn!‘“
Es gibt nur einen Gott
Jesus ist ja buchstäblich das „Wort Gottes“ – er ist aus diesem entstanden und es spricht aus ihm. Dennoch, bei aller erwiesenen Gnade, ist und bleibt er ein Mensch. Er ist Messias und Gesandter Allahs, ein echter Sohn Abrahams (Ibrahims), ein sündenloser und hervorragender Charakter mit besonderen Fähigkeiten – aber ihn neben oder gar statt Allah anzubeten wäre ein unverzeihlicher Verstoß gegen den Eingottglauben. Das wird im Koran immer wieder herausgestrichen – Jesus kommt in 15 der 114 Suren vor.
Die Wesensgleichheit von Gott Vater und Sohn ist aus islamischer Sicht reinste Gotteslästerung
Nicht zur Diskussion steht aus dieser Haltung heraus die Trinitätsvorstellung, die sich im Konzil von Nicäa in der entstehenden christlichen Großkirche durchsetzte:
5,72 Ungläubige sind, die sagen: „Allah ist Christus, der Sohn der Maria.“ Christus sagte: „Kinder Israels! Dient Allah, meinem und eurem Herrn!“ Wer Allah andere (Götter) zur Seite stellt, dem ist der Eingang ins Paradies versagt; er wird im Höllenfeuer enden. (…) 73 Ungläubige sind, die sagen: „Allah ist einer von dreien.“ Es gibt keinen Gott außer Allah. Wer mit solchem Gerede nicht aufhört, den wird eine schmerzhafte Strafe treffen.
Jesus offenbarte, die Kirche verdrehte
Da nach islamischer Überzeugung Jesus selbst jedoch die unverfälschten Worte Gottes verkündete und eindeutig sagte, nicht mehr als der Gesandte Gottes gewesen zu sein, müssen die Verantwortlichen für die – Ketzerei ist immer eine Frage der Perspektive – frevelhafte Vorstellung der Dreieinigkeit von Gott Vater, Sohn und Heiliger Geist anderswo zu finden sein:
5,46 Und den Priestern Israels ließen wir Jesus, den Sohn der Maria, nachfolgen, damit er das Gesetz (die Tora) bekräftige. Und wir überbrachten ihm das Evangelium, das rechte Führung und Licht enthält, als Anleitung und Ermahnung für die Gottesfürchtigen. 47 Die Menschen des Evangeliums (d. h. die Kirchenväter?) sollen nur nach dem entscheiden, was Allah darin übermittelt hat. Diejenigen, die nicht nach dem handeln, was Allah offenbart hat, sind Frevler.
Mit anderen Worten: Die vom Islam als monotheistisch anerkannte christliche Religion hat aus dessen Sicht ein großes Problem – die wahrhaftige und göttliche Offenbarung, die Jesus zuteil geworden ist, wurde leider nachträglich verfälscht. (Deckungsgleich wird die Tora kritisiert.) Jesus trifft keine Schuld – der von manchen islamischen Reformtheologen als großer Sozialreformer gewürdigte und besonders von den Sufis, den islamischen Mystikern, als Prophet der Liebe hoch geschätzte Messias war nur außerstande, die Verfälschung der von ihm vermittelten Botschaft zu verhindern.
Muslime gehen deshalb davon aus, dass nur das, was im Koran steht, die Glaubenswahrheit über Jesus, Sohn der Maria, wiedergibt.
Aufsteigende Selige. Detail des Freskos in der Sixtinischen Kapelle von Michelangelo Buonarroti, 1535–1541
Auf lange Sicht besteht aber eine begründete Hoffnung, dass die drei großen monotheistischen Weltreligionen ihre Differenzen überwinden können. Laut der Sunna, dem Buch, das die Lehren des Propheten Mohammed wiedergibt, haben die Endzeitvorstellungen von Christen und Muslimen weit mehr Gemeinsames als Trennendes. Mohammed prophezeit schreckliche Zeiten, Kriege und Dürren. Dann kehrt der Mahdi zurück (der Messias; so wird im Koran nur Jesus bezeichnet) und regiert in einer Periode absoluter Glückseligkeit. Die drei Buchreligionen verschmelzen miteinander (weil, wie manche argumentieren, Christen und Juden erkennen, dass der Islam doch recht hat). Kurz vor dem Weltende erscheint der „Antichrist“ (der „falsche Messias“, Masih al-Dajjal). Jesus kann ihn aber besiegen und stirbt eine Zeit danach eines natürlichen Todes. Beim Weltgericht sitzet er zur Rechten Gottes, um diesem beim Urteilsspruch beizustehen, wie er es nach islamischer und christlicher Vorstellung seit zwei Jahrtausenden tut.
Das letzte Wort hat – in der Reihenfolge des
Auftretens – allerdings allein JHWH-Gott-Allah.