Maria Magdalena – der Mythos
Hail Mary Magdalene, the
Lord has wed thee. Blessed art thou among women, and blessed is the
fruit of thy womb and Jesus. Holy Mary, mother of kings, give aid
to us seekers now and in the hour of our need.
(northernway.org/school/omm.shtml)
(Heil dir, Maria Magdalena, der Herr hat dich geheiratet. Du bist
gesegnet unter den Frauen, und gesegnet ist die Frucht deines
Leibes und Jesus. Heilige Maria, Mutter der Könige, steh uns
Suchenden bei, jetzt und in der Stunde unserer Not.)
Soweit das Gebet des Order of Mary the Magdalene, der sich selbst als esoterischer christlicher Orden bezeichnet.
Das MM-Bild – ein Spiegel des allgemeinen Frauenbilds
Das Bild, das sich die christliche Glaubensgemeinschaft durch die Jahrhunderte von der wichtigsten Frauenfigur der Bibel machte bzw. machen sollte, war immer und vor allem ein Spiegelbild für die Situation der Frau in der Gesellschaft. Wäre es streng nach dem Buch der Bücher gegangen, hätte Maria Magdalena und mit ihr allen Frauen eine weitaus bedeutendere und machtvollere Rolle in der Christenheit zugestanden. Zieht man für die Beurteilung auch noch die vorhandenen apokryphen Schriften heran, schält sich das Bild der Erleuchteten an Jesu Seite noch deutlicher heraus. Tatsächlich war ihre erste Rolle ja auch die der Apostelin der Apostel, mithin tatsächlich die legitime Nachfolgerin Christi.
Magdalena mit Perlenkette im Haar. Lovis Corinth, 1919
Maria Magdalena stand aber für ein gnostisches, elitäres Christentum, das sich im Zuge der Entstehung der Großkirche nicht durchsetzen konnte. Die patriarchalischen und frauenfeindlichen Elemente behielten die Oberhand und hatten im Laufe der nächsten Jahrhunderte reichlich Gelegenheit, das Image von Maria Magdalena gründlich zu demontieren. Zur Hure erklärt, blieb sie zunächst dennoch als Sündenheilige das Symbol für die unendlichen Vergebungsfähigkeiten Jesu bzw. dessen Exekutive auf Erden, der Ablass gebenden katholischen Kirche.
Glaube und persönliches Seelenheil hatten für die Zeitgenossen dieses Magdalena-Bildes existenzielle Bedeutung – und die Macht der Kirche befand sich auf ihrem Höhepunkt. Nur so war es möglich, Maria ein weitestgehend asexuelles und ausgesprochen demütiges Image zu geben: Sie hatte sich unterworfen und gebüßt. Ihre sündhafte Vergangenheit bewies die „grundsätzliche Schlechtigkeit“ der Frauen, ihre „Eva-Haftigkeit“, ihr rückeroberter Heiligenstatus zeigte, dass „selbst“ Frauen auf den Pfad der christlichen Tugend zurückzukehren vermochten – wenn auch nur unter allergrößten Entbehrungen.
MM in der Wüste. Emmanuel Benner 1886
Parallel dazu war der Gedanke an die Apostola apostolorum immer noch lebendig; alle Darstellungen der Maria Magdalena, in der sie ihre Würde als Mensch vollständig bewahren darf, beziehen den dafür notwendigen Respekt aus dem Bild von der „Königin“; noch stärker trifft dies auf Abbildungen zu, in denen die Heilige durch grenzenlose Überhöhung über den einfachen Menschen betont wird.
Immerhin folgten diese Einschätzungen bedingt auch der spirituellen Maria Magdalena und retteten so ein paar wenige gnostische Spuren ins katholische Christentum. Genauer gesagt die asexuellen: Die Frage nach dem erotischen Gehalt ihrer Beziehung zu Christus interessierte (wenigstens nach außen hin) nicht; wie wir aus der Kenntnis der gnostischen Schriften wissen, wurde auch dort die sinnlich-körperliche Begegnung allenfalls als eine frühe Stufe auf dem Erkenntnisweg gesehen. Zuvorderst ging es um die Menschwerdung jedes Einzelnen und zugleich um die Überwindung der Geschlechterdifferenzen in diesem allen gegebenen Ziel.
Mit der Entwicklung des Topos von der büßenden Maria im Gleichschritt mit der allgemein fortschreitenden Säkularisierung rückte diese wenig beachtete Körperlichkeit dafür umso vehementer in den Vordergrund, bis sie sämtliche anderen Aspekte des Magdalena-Bildes überlagerte. In einer Welt der Entspiritualisierung wurde ein Vorbild für einen weiblichen Erlösungsweg nicht mehr gebraucht. Vielmehr musste Maria jetzt für die – nicht selten voyeuristische – Darstellung erotischer Liebe und Sehnsucht herhalten, mit dem die Künstler zugleich der schwächer werdenden Kirche die Versuchung vor Augen führten, die sie in ihren eigenen Reihen unter Verschluss gehalten hatte, der sie aber, wie jedermann wusste, aber bis dahin nicht zu sagen gewagt hatte, ständig nachgegeben hatten.
Seit 1969 ist Maria Magdalena keine Prostituierte mehr
1969 raffte sich der Vatikan mit wenig mehr als 1.000 Jahren Verspätung auf und erklärte die 13 Jahrhunderte zuvor von Gregor dem Großen erfundene Gleichsetzung von Maria Magdalena mit der namenlosen „Sünderin“, die Jesus die Füße beweint, küsst und salbt, offiziell für irrig. Maria Magdalena war also niemals Prostituierte gewesen. Obwohl diese Änderung eines uralten Bildes natürlich nur langsam ins Bewusstsein der Christenheit sickert, wird seither die Beziehung zwischen Jesus und der nunmehr sozial mächtig aufgewerteten Maria Magdalena immer erotischer; zugleich genießen jene Strömungen vermehrten Zulauf, die der geliebten Jüngerin ihren verlorenen Platz an der Seite des Herrn zurückgeben wollen. Den Frauen steht die Hälfte der Welt zu, und Maria Magdalena analog dazu die Hälfte der christlichen Welt (mindestens).
Ob diese Forderungen zusätzlich noch, wie beim Order of the Mary Magdalene, mit Fantasy unterfüttert sind oder das Ergebnis einer kritisch-historischen, feministisch-theologischen Sichtweise darstellen, ist dabei fürs Erste zweitrangig. Worum es zentral geht, ist die uralte Diskussion um die absolut inakzeptable Rolle, die die katholische Kirche den Frauen zugesteht. Wer könnte besser geeignet sein, diesen Streit um die Wiedererlangung von vor annähernd zwei Jahrtausenden verlorenen Rechten symbolhaft anzuführen als die Gefährtin des lebenden Jesus selbst?
Sex mit Jesus
Das alles beantwortet die Frage natürlich noch immer nicht: Haben sie es jetzt getan oder nicht? Nun, diese Frage lässt sich selbstverständlich nicht beantworten. Jesus war ein sehr charismatischer, spiritueller Führer, der die Frauen hochschätzte und weder bei Männern noch bei Frauen körperliche Berührungsängste kannte. Es mag also zur einen oder anderen intimeren Begegnung gekommen sein, zumal guter Sex ein ausgezeichnetes Mittel ist, der Erleuchtung ein Stückchen näher zu kommen. Auch im hellenistischen Verständnis von Liebe war ja davon die Rede, dass der Mensch auf der Suche nach der abstrakten, geistigen Schönheit die Schönheit des Körpers durchaus als „Hilfsmittel“ auf dem Weg wahrnehmen soll und kann.
Give Me Jesus ... Mary Magdalene. personalitydevelopmentbeyourbest.blogspot.com
Andererseits waren Keuschheit und Askese für den sich zur Armut bekennenden wandernden Weisheitslehrer sicher wichtige Hilfsmittel einer Schulung der geistigen Disziplin, wenn auch gewiss nicht in den späteren, krankhaft übersteigerten Formen vom erfasteten Hungertod bis zur Selbstgeißelung.
Die Frage nach dem Sexleben von Jesus polarisiert, spaltet, wühlt auf, vergrämt, füllt Bücher, Filme und Kassen. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass hier massiv übers Ziel hinausgeschossen wird.
Die Bedeutung des Themas wird maßlos überschätzt
Schuld an der heillos übersteigerten Bedeutung, die dieser Frage zugemessen wird, tragen neben gewieften Geschäftemachern an vorderster Stelle die Katholiken selbst. Erst durch deren starrem Beharren auf einer absurd sexualfeindlichen Haltung, derzufolge schon der bloße Gedanke daran, Jesus und MM könnten anders als auf rein geistiger Ebene miteinander verkehrt haben, einen Akt der unaussprechlichen Blasphemie darstellt, konnte dieses Thema zum ganz großen Geschäft werden; bekanntlich erblühen die überhitztesten Fantasien genau da, wo sie am heftigsten geleugnet werden.
Das Ganze ist schlichtweg nicht so wichtig, wie es genommen wird, zumal über die zwangsläufige Folgerung der Befürworter der Mary-hatte-Sex-mit-Jesus-Frage nicht weiter diskutiert zu werden braucht: Die Existenz oder Nichtexistenz von direkten Nachfahren Jesu wird historisch wohl niemals zu belegen sein, noch viel weniger deren weiteres Schicksal, sofern es ein solches gegeben hat. Jedenfalls war Jesus nach allem, was biblisch-historisch herausgefunden werden konnte, nie verheiratet gewesen. Was in Kenntnis der strengen Ehegesetze seiner Zeit ein schwerwiegendes Indiz gegen die Existenz von Jesuskindern ist und in dem unwahrscheinlichen Fall, dass es doch welche gegeben haben sollte, deren Aufspüren wegen der Illegitimität noch um einiges unmöglicher machte.
Wie christlich kann es sein, das Maß an Nächstenliebe vom Geschlecht abhängig zu machen?
Die Sex-Frage bewirkt vor allem eines: Sie lenkt von Jesu wirklich bedeutender Hinterlassenschaft ab – seiner Lehre. Und davon, was die christlichen Kirchen durch die schriftliche Überlieferung bzw. deren Auslegung aus dieser Lehre gemacht haben. Eine Maria Magdalena, die sich mit Jesus orgiastischen Ekstasen hingegeben hat, mag ein spektakuläres, verkaufsförderndes Bild und den Katholiken ein heftiger Dorn im Auge sein – wirklich gefährlich für die Kirche ist es nicht. Eine Maria Magdalena, die Jesus Kinder gebar, mag sich bestens für Verschwörungsszenarien von wahrhaft biblischen Ausmaßen eignen, ernsthafte Probleme für die römisch-katholische Glaubensgesellschaft würden sich daraus nicht ergeben. Eine Magdalena aber, die nichts anderes als ihr Menschenrecht auf Gleichwertigkeit einfordert, rüttelt an den Fundamenten des Katholizismus und stellt eine, womöglich die grundsätzliche Frage: Wie christlich kann es sein, das Maß an Nächstenliebe vom Geschlecht abhängig zu machen?