Septuaginta und Vulgata
Die Septuaginta war eine der Legende nach von 72 Gelehrten in 72 Tagen 72-mal wortidente Übertragung hebräischer Bibeltexte ins Griechische für die wachsende hellenistisch-jüdische Gemeinde. Der Einfachheit halber kürzte man auf 70, was ins Lateinische übersetzt nichts anderes bedeutet als Septuaginta. Die Septuaginta ist wesentlich älter als der Tanach, der in Hebräisch gefasste jüdische, 24 Bücher umfassende Schriftenkanon, der gegen Ende des ersten nachchristlichen Jahrhunderts vorlag: Eine Gesamtübersetzung alttestamentarischer Texte ins Griechische ist mindestens seit 132 vor Christus belegt, also mehr als 200 Jahre bevor die rabbinische Priesterschaft sich auf eine einheitliche heilige Schrift hatte einigen können.
Für die Septuaginta kamen hebräische Texte zum Einsatz, die sich in vielen Details von jenen hebräischen Texten unterschieden, die später den Tanach bilden sollten. Noch gravierender war aber der Umstand, dass ganze Bücher, die die Griechischübersetzer für bibelwert erachteten, keinen Einlass in den Tanach fanden.
In der entstehenden urchristlichen Gemeinde spielte in alttestamentarischen Belangen hingegen die Septuaginta von Anfang an eine maßgebliche Rolle.
Der heilige Hieronymus, Peter Paul Rubens, um 1615
Wenn von Hieronymus’ Bibelübersetzung, für die sich später der Name Vulgata (die Übliche) einbürgern sollte, die Rede ist, wird zuvorderst immer darauf hingewiesen, dass er sich nicht wie alle anderen der Septuaginta bediente, sondern – da er ja als Einziger weit und breit des Hebräischen mächtig war – auf Texte zurückgreifen konnte, die in der Originalsprache abgefasst worden waren. Das ist jedoch nur die halbe Wahrheit; einige besonders abenteuerliche Bestandteile des katholischen Alten Testaments waren nie Teil des Tanach gewesen; Hieronymus lagen sie indes in griechischer Übersetzung in der Septuaginta vor, und auf seine Entscheidung hin wurden sie Teil des alttestamentarischen Schriftenkanons – wenigstens aus katholischer Sicht.
Aus den 24 Büchern des Tanach wurden in der Vulgata 46. Dem liegt neben der Hereinnahme neuer Inhalte auch eine andere Zählung zugrunde – z. B. fassten die Juden die 12 kleinen Propheten in einem Buch zusammen, während Hieronymus jedem ein einzelnes „Buch“ widmete.
Für die Psalmen sowie Zusätze zu den Büchern Daniel und Ester bediente sich Hieronymus der Septuaginta. Neu hinzu kamen die Bücher Judit, Tobit, Baruch, Jesus Sirach, Weisheit Salomos und 1. und 2. Makkabäer.
Nach 500 Jahren hatte sich die Vulgata durchgesetzt.
Die Vulgata sollte sich als wahrlich standhaft bewähren: Zwar dauerte es bis ins 9. Jh., bis sie die diversen Vetus-Latina-Schriften überall abgelöst hatte und in der Westkirche allgemein anerkannt und im Gebrauch war, aber dafür hat sie sich bis ins Jahr 1979 als textliches Fundament der katholischen Kirche gehalten; immerhin war sie auch vom Konzil in Trient 1546 für „authentisch“ erklärt worden. 1979 erschien auf Betreiben des 2. Vatikanischen Konzils die Nova Vulgata, eine Überarbeitung der Hieronymus-Übersetzung, als neue Grundlage für die Einheitsübersetzungen in die diversen Landessprachen.
Die mit der Vulgata erreichte textliche (und inhaltliche) Einheit bezog sich jedoch immer nur auf die westliche katholische Kirche. In den orthodoxen Kirchen des Ostens wich man nie von der – älteren – Septuaginta ab. Orthodoxe kennen zusätzlich ein 1. Buch Esra, das das hebräische und katholische Buch Esra für sie zum 2. Buch Esra macht, sowie zwei weitere Bücher der Makkabäer. Slawische Kirchen fügen noch eine Esra-Apokalypse hinzu, äthiopische Kirchen haben einen noch weiter gefassten Kanon als für sich gültig erklärt.
Der Nash-Papyrus aus dem 2. Jh. v. Chr. enthält masoretischen Text.
Anders die Protestanten: Als sich Martin Luther an seine Bibelübersetzung machte, waren die masoretischen Texte aufgetaucht, die hebräischen kanonischen Schriften. Zwar stammen die ältesten mehr oder minder vollständig erhaltenen masoretischen Handschriften aus dem 9. Jh., aufgrund von weit älteren fragmentarischen Funden darf aber angenommen werden, dass der Ende des 1. Jahrhunderts beschlossene jüdische Kanon in den masoretischen Texten getreulich überliefert worden ist.
Martin Luther in einem Bildnis von Lucas Cranach dem Älteren, 1526
Da Martin Luther vom Grundsatz „sola scriptura“ ausging – nur die Schrift dürfe als Grundlage der rechten Auslegung herangezogen werden –, interessierte er sich natürlich brennend für diese Texte. Im Ergebnis entstand in seiner Bibelübersetzung ein alttestamentarischer Kanon, der dem hebräischen Tanach folgt. Er enthält etliche Texte nicht, die die katholische Kirche zwar späterhin als deuterokanonisch (zweitkanonisch) abklassifizierte, nichtsdestotrotz den anderen Bibeltexten aber als gleichrangig gegenüberstellt. Luther bezeichnete folgende Schriften als Apokryphen:
- Buch Judit
- Buch Tobit („Tobias“)
- Buch Baruch
- Jesus Sirach
- Weisheit Salomos
- 1. Makkabäer
- 2. Makkabäer
- (3. Makkabäer)
- (4. Makkabäer)
- Zusätze zum Buch Daniel
- Zusätze zum Buch Ester
- (3. Esra)
- (Gebet Manasses)
- (Psalmen Salomos)
In Klammern sind jene biblischen Schriften gesetzt, die auch im katholischen Verständnis apokryph, also nicht Bestandteil der Vulgata sind.
Je nach Konfession unterscheidet sich der mit solch großen Mühen über Jahrhunderte erstellte biblische Schriftenkanon zum Teil erheblich voneinander. Um die Verwirrung zu vervollständigen, anerkannte z. B. Luther etliche „seiner“ Apokryphen als durchaus „nützliche“ Texte, wenn auch nicht „seinen“ kanonischen Texten völlig gleichgestellt. Je nach Ausgabe finden sich daher auch in evangelischen Bibeln, im Anhang oder zwischen die Testamente geschoben, für Protestanten apokryphe bzw. für Katholiken deuterokanonische Schriften. Weiters existieren biblische Werke wie das Buch der Jubiläen, eine etwas andere, detailreicher erzählte Genesis, oder das Slawische Henochbuch, das die Erlebnisse des Henoch vor der Aufnahme in den siebten Himmel schildert. Diese beiden Bücher genießen in den orthodoxen christlichen Kirchen hohe Wertschätzung, wurden von der Westkirche jedoch nie anerkannt.
All diese von Konfession zu Konfession unterschiedlichen Auffassungen zum Kanon führten letztlich zu einer Reihe von Schriften, die „ein bisschen apokryph“ sind: Im einen christlichen Kanon sind sie fester Bestandteil, im anderen geduldet, im dritten verpönt. Da dazu aber einige gehören, die auf eine bedeutende Wirkungsgeschichte zurückblicken können, möchte ich mich auf den nächsten Seiten mit solchen Texten auseinandersetzen.