Die Jüdin aus Galiläa


Die dem Herrn die Füße waschende Maria Magdalena hat zwar keinerlei biblische Grundlage, wurde aber dessen ungeachtet ausgesprochen häufig dargestellt. Bei diesem Romanino-Gemälde drängt sich der Eindruck auf, es gehe in erster Linie darum, der Frau ihren Platz in der Gesellschaft zuzuweisen. Das Bild von 1545 trägt den Titel: "Abendmahl im Hause des Pharisäers".

Zur Stellung der Frau in Marias Zeiten ein Zitat von Hartmut Stegemann (S. 359):

Sie galten wegen der Hauptschuld Evas am Sündenfall im Paradies (Gen 3) als besonders schuldbeladen und waren religiös generell disqualifiziert. Nach verbreiteter Auffassung hatten sie weder eine Seele noch Anteil am ewigen Leben. Deshalb pflegten fromme Juden Gott dafür zu danken, dass er sie nicht als Frauen hatte auf die Welt kommen lassen.

Im Gegensatz dazu weist Ingrid Maisch in Anlehnung an die jüdische Wissenschaftlerin Pnina Navè Levinson darauf hin, dass die Frauen Eigentum hatten und darüber auch verfügen konnten und das Recht in Anspruch nahmen, den Mann zu verlassen. Levinson spricht allgemein von einer „hohen Einschätzung und Wertschätzung der Frau“ in der biblischen und nachbiblischen Literatur und Maisch führt schlussfolgernd aus:

Frauen nehmen aktiv am religiösen Leben teil – nicht nur im Haus, wo viele religiöse Aufgaben überhaupt nur von Frauen geleistet werden können, sondern auch im öffentlichen Gottesdienst (…) In den frühen Synagogen sitzen Männer und Frauen noch nicht getrennt (die Frauenempore ist erst für die nachbiblische Zeit belegt) (…) Wenn die galiläische Jüdin nach Jerusalem kommt, kann sie – wie ein Mann – am Tempel opfern; denn „opfern“ bedeutet in beiden Fällen: das Opfer (Tier oder Weihrauch) bezahlen. (S. 17)

Die von Maisch bzw. Stegemann mit „vertauschten Rollen“ vorgebrachten Extremstandpunkte sind nur scheinbar unvereinbar. Denn die frauenverachtenden und Frauen in das zweite Glied stellenden Strömungen waren, wie von Maisch selbst angeführt, unbestreitbar vorhanden; es war ein Thema in Diskussion, was sich direkt aus der Tora, einem Dokument der Streitkultur, ablesen lässt. Dort reichen die Antworten auf die Frage, ob die Tochter in der Tora unterwiesen werden solle, von „man ist dazu verpflichtet“ über „man kann es tun, aber es besteht keine Verpflichtung“ bis zu „man soll es nicht tun“.

Frauen waren nicht gleichberechtigt, aber besser dran als in ihrer christlichen Zukunft.

Allein die Tatsache, dass über diese Frage diskutiert wurde, belegt allerdings entgegen der etwas romantisierend anmutenden Einschätzung von Ingrid Maisch, dass zwischen Frauen und Männern keinesfalls so etwas wie Gleichberechtigung bestand, sondern dass wir uns inmitten einer rein patriarchalisch strukturierten Welt bewegen, in der den Frauen genau das gestattet wird, was die Männer ihnen zugestehen. Dies war immerhin deutlich mehr, als gemeinhin angenommen wird. Ein Umstand, der nicht von Dauer war, wie bei Maisch nachzulesen ist, wenn sie abschließend über der Magdalenerin Schicksal anmerkt: „So schlecht, wie bisweilen in ihrer christlichen Zukunft, ist es ihr in ihrer jüdischen Vergangenheit nicht ergangen.“ (Ebd.)

Stegemann mag in seinem Zitat allein die negativste Sicht der Dinge dargestellt und es verabsäumt haben, auf die durchaus vorhandenen Errungenschaften der weiblichen Bevölkerung Israels hinzuweisen – der weitere Verlauf der Geschichte gibt ihm leider nur allzu recht. Denn die machistischen Hardliner setzten sich durch.

Allerdings sollten die bedeutenden Implikationen der Einschätzung von Ingrid Maisch nicht außer Acht gelassen werden. Sich der Jesus-Bewegung anzuschließen, war zu dessen Lebzeiten eine existenzielle Entscheidung in mehrfacher Hinsicht. Von den Jüngern und Jüngerinnen wurde verlangt, sich der Armut zu ergeben und sich von ihren bisherigen sozialen Bindungen, egal ob Familie, Verwandte oder Freunde, radikal zu lösen. Dies um den Preis, sich einer militant verfolgten winzigen sektiererischen Minderheit anzuschließen.

Niemand traf eine so tief greifende Entscheidung leichtfertig; die Strahlkraft von Jesus muss wirklich ungeheuer gewesen sein – besonders für Frauen. Maisch’s Erläuterungen führen uns vor Augen, dass der Loslösungsprozess aus dem gewohnten sozialen Umfeld bzw. die Eingliederung in ein völlig neues Umfeld für Frauen grundsätzlich möglich waren: Sie konnten über ihren Besitz verfügen, ihn also auch im Sinne des Antretens eines Lebens in Armut der Gemeinschaft überantworten, und sie hatten das Recht, den Ehemann zu verlassen.

MM verfügte über eigenen Besitz und war wahrscheinlich verheiratet.

Zur Beliebtheit von Jesus unter den Juden hat Letzteres wohl kaum beigetragen. Es dürfte nämlich gar nicht selten der Fall gewesen sein, dass tatsächlich Frauen ihre Familien verlassen haben, um sich Jesus anzuschließen. Für Maria aus Magdala, die selbstbestimmte Jüdin mit hellenistisch geprägtem, städtischem Hintergrund, wissen wir das nicht konkret, es existieren aber gute Indizien dafür, dass genau das der Fall war:

Maria die Magdalenerin verfügte über einen gewissen Wohlstand, den sie in die Gemeinschaft einbrachte; andernfalls wäre der Ankauf von Salböl, das wie schon erwähnt der rituellen Ernennung des Messias im Sinne von König oder Hohepriester diente und dessen Kostbarkeit in der Bibel mehrfach betont wird, nicht möglich gewesen. Auch ihre Herkunft aus einer blühenden Siedlung an einem fischreichen Gewässer spricht dafür.

Maria von Magdala war höchstwahrscheinlich verheiratet – ganz einfach deshalb, weil Mädchen zu urchristlichen Zeiten mit zwölfeinhalb Jahren als erwachsen galten und in aller Regel spätestens mit 16 heirateten, dies zudem auf Jahre vorhergehende Vermittlung der Eltern. Es ist zudem völlig unglaubhaft, dass die vielen Frauen, die Jesu Jüngerinnen wurden, allesamt jungfräuliche Kinder gewesen sein sollen.

Maria hatte einen ausgesprochen guten Grund, Jesus dankbar zu sein: Er hatte ihr „sieben Dämonen“ ausgetrieben (die lukanische Version der Vagheit, wonach die Dämonen aus unbekannter Ursache ausgefahren seien, lassen wir jetzt einfach wegen erwiesener Sinnlosigkeit beiseite; was hätte der ganze Vorfall für einen Zweck, wenn nicht Magdalenas Anwesenheit in der Geschichte zu begründen, einer Geschichte, in der die Hauptperson der größte Heiler aller Zeiten ist?).

Alles in allem ergibt sich für die urchristliche Maria von Magdala das Bild einer erwachsenen, selbstbewussten und selbstbestimmten Frau, die weiß, was sie will und über die Möglichkeiten und Kenntnisse verfügt, das auch in die Tat umzusetzen. Sie ergibt sich Jesus vollständig und aus freien Stücken, möglicherweise auch mit Haut und Haaren, sicher aber mit ihrem ganzen Wesen, mit Geist und Seele, was im gnostischen Verständnis eine weitaus bedeutendere Form der Hingabe darstellt als die vergleichsweise unwichtige körperliche Vereinigung, die gleichwohl stattgefunden haben mag.

Sicher ist, dass Jesus ungeachtet der Diskussionen um „Jünger, die er lieb hatte“, um Lieblingsjünger und solche, die es werden wollten, für sich längst eine Entscheidung getroffen hatte: Die Frauen waren ihm allgemein lieber als die Männer und Maria Magdalena war ihm lieber als alle anderen Frauen.

Die Un-Heilige Schrift
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