Bartholomäusevangelium
Einer völlig anderen Thematik widmet sich das Bartholomäusevangelium, mit dem der Streifzug durch die wirkungsvollsten Apokryphen abgerundet werden soll.
In dieser Schrift und in zahlreichen abhängigen wie etwa dem Nikodemusevangelium wird das Geschehen nach der Passion Christi dargestellt – auf überaus originelle Art, in der alte Glaubensvorstellungen der Ostkirche tradiert werden: Jesus fährt zur Hölle.
Die folgenden Auszüge lehnen sich an die Fassung von Felix Scheidweiler in Schneemelcher I an.
1 In der Zeit vor der
Passion unseres Herrn Jesus Christus waren einmal alle Apostel
versammelt. Sie fragten ihn: „Herr, offenbare uns die himmlischen
Geheimnisse!“ Jesus aber erwiderte: „Ehe ich diesen Körper nicht
abgelegt habe, vermag ich euch nichts kundzutun.“
Nachdem er aber gelitten hatte und
auferstanden war, wagten die Apostel in seiner Anwesenheit nicht
mehr zu fragen, weil sein Anblick sich verändert hatte und nun die
Fülle seiner Göttlichkeit offenbarte. Bartholomäus jedoch trat an
ihn heran und sagte: „Herr, ich möchte mit dir sprechen.“ Jesus
sprach: „Liebster Bartholomäus, ich weiß, was du im Sinn hast.
Stelle deine Fragen und ich werde dir auf alles Antwort geben.
Selbst was du nicht zur Sprache bringst, werde ich dir
offenbaren.“
Einzig Bartholomäus ist mutig genug, den Auferstandenen anzusprechen.
Da sagte Bartholomäus:
„Herr, als du gingst, um dich ans Kreuz hängen zu lassen, bin ich
dir von weitem gefolgt und sah es mit an und sah, wie die Engel vom
Himmel herabstiegen und dich anbeteten. Und als die Finsternis kam,
schaute ich wieder hin und sah, dass du vom Kreuz verschwunden
warst; nur deine Stimme vernahm ich noch aus der Unterwelt und wie
dort ein großes Heulen und Zähneknirschen anhob. Offenbare mir,
Herr, wohin du vom Kreuz gegangen bist.“
Da antwortete Jesus: „Gesegnet bist du,
Bartholomäus, mein Geliebter, weil du dies Geheimnis geschaut hast.
Und jetzt werde ich dir alles, wonach du mich fragst, kundtun. Als
ich nämlich vom Kreuze verschwand, da fuhr ich hinab in die
Unterwelt, um den Adam und alle Patriarchen, den Abraham, den Isaak
und den Jakob, von dort herauszuführen. Der Erzengel Michael hatte
mich dazu aufgefordert.“
Anastasis (Abstieg in die Hölle) Christi; Fresko in der Chorakirche in Istanbul, um 1320. Christus holt Adam und Eva aus dem Hades.
„Als ich nun mit meinen
Engeln in die Unterwelt hinabstieg, um die eisernen Riegel zu
zermalmen und die Pforten der Hölle aufzubrechen, da sprach Hades
zum Teufel: ,Ich sehe, Gott ist auf die Erde herabgestiegen.‘ Und
die Engel riefen den Herrschenden zu: ,Fürsten, öffnet eure Tore,
denn der König der Herrlichkeit ist in die Unterwelt
herabgestiegen.‘ Hades fragte hierauf: ,Wer ist dieser König der
Herrlichkeit, der zu uns herabgestiegen ist?‘
Als ich aber 500 Stufen hinabgestiegen war,
begann Hades gewaltig zu zittern, und er sagte: ,Ich glaube, Gott
ist herabgestiegen. Sein gewaltiger Atem umweht mich. Ich kann es
mit ihm nicht aufnehmen.‘ Der Teufel aber sagte ihm: ,Ergib dich
nicht, sondern rüste dich! Gott ist nicht herabgekommen.‘ Als ich
aber die nächsten 500 Stufen herabgestiegen war, riefen die starken
Engel erneut: ,Öffnet euch, Pforten eures Fürsten! Weitet euch, ihr
Torflügel! Denn sehet, der König der Herrlichkeit ist
herabgestiegen.‘ Und wiederum sagte Hades: ,Wehe mir! Ich kann den
Atem Gottes spüren. Und du behauptest, Gott sei nicht auf die Erde
herabgestiegen.‘ Beelzebub entgegnete: ,Was fürchtest du dich? Es
ist ein Prophet, und du behauptest, es sei Gott. Der Prophet hat
sich Gott gleich gemacht. Wir wollen ihn ergreifen und zu jenen
stecken, die glauben, in den Himmel aufzusteigen.‘
Hades fragte: ,Welcher der Propheten ist es?
Ist es Henoch, der Gerechte? Aber Gott hat ihm verboten, vor dem
Ende der 6000 Jahre auf die Erde herabzusteigen. Ist es Elias, der
Rächer? Aber auch er kommt vor dem Ende nicht herab. Was bleibt mir
zu tun, da es das Verderben Gottes ist? Schon ist das Ende
da.‘
Als aber der Teufel erkannt hatte, dass das
Wort des Vaters auf die Erde herabkam, sagte er: ,Fürchte dich
nicht, Hades; wir wollen unsere Tore fest machen und stark unsere
Riegel. Denn nicht Gott selbst kommt auf die Erde herab.‘ Hades
antwortete: ,Wo verbergen wir uns vor dem Angesicht Gottes, des
großen Königs? Lass mich, widersetze dich mir nicht, denn ich bin
vor dir erschaffen worden.‘
Und dann zermalmten die eisernen Tore und die
ehernen Riegel zerbrachen. Und ich trat ein und ergriff ihn und
ließ ihn auspeitschen und legte ihn in unlösbare Ketten. Und ich
führte alle Patriarchen aus der Unterwelt hinaus und kehrte zum
Kreuz zurück.“
Die Pforten der Hölle, Auguste Rodin, nach 1917. Kunsthaus Zürich, Foto: Roland zh, CC 3.0.
Das Bartholomäusevangelium führt die weiteren
fantastischen Ereignisse aus: So weigert sich der Erzengel Michael
zunächst, mit Jesus zum Himmel aufzusteigen, erhält dann aber den
direkten Befehl. Davor schlägt er allerdings mit seinem
kilometerlangen Flammenschwert den Vorhang des Tempels in Jerusalem
entzwei, um die Juden an das Verbrechen der Kreuzigung zu erinnern.
Etwas später fragt Bartholomäus nach der Zahl der Seelen, die jeden
Tag die Welt verlassen, und Jesus gibt die Auskunft: 30.000. Und
nur drei davon fänden den Weg ins Paradies.
Ausschnitt aus Michelangelos Fresko "Das jüngste Gericht" in der Sixtinischen Kapelle: Der Apostel Bartholomäus mit seiner eigenen abgezogenen Haut. Dieses Martyrium hatte er zu erdulden, bevor er am Kreuz von seinem Leiden erlöst wurde.
Die Fantasie des Verfassers wird immer
überschäumender. Er lässt Maria berichten, wie es überhaupt möglich
gewesen sei, den Herrn zu gebären. Dazu muss sie von vier Aposteln
festgehalten werden, um nicht zu zerreißen, doch auch so ist es
schlimm genug: Bei der Rede schlagen Flammen aus ihrem Mund und
drohen die Welt zu verschlingen. Jesus kann aber rechtzeitig
einschreiten.
Dann wollen die Apostel den „Abgrund“ sehen und der Herr rollt die
Erde auf „wie eine Papyrusrolle“, um das zu ermöglichen. Immer
wieder übernimmt Bartholomäus die Rolle des forschen,
unerschrockenen Jüngers, der an den Jesusgott herantritt. So auch
bei der Frage nach dem Widersacher der Menschen. Jesus zeigt ihn
ihnen:
Da wurde die Erde erschüttert und Beliar kam herauf, gehalten von 660 Engeln und mit feurigen Ketten gebunden. Er war 1.600 Ellen hoch und 40 Ellen breit. Seine Fratze war wie ein feuriger Blitz, seine Augen aber wie Funken und aus seinen Nüstern drang ein stinkender Rauch. Sein Mund war wie ein Felsspalt und ein einziger Flügel war 80 Ellen lang.
Die seltsamen Proportionen – der Körper ist vierzigmal so lang wie breit, Beliar ist also ein Strich in der Landschaft mit Stummelflügelchen – sollen hier nicht weiter diskutiert werden. Über die Schwächen der alten Autoren wurde ja schon viel gesagt, außerdem variieren diese Zahlenangaben in den unterschiedlichsten erhaltenen Bartholomäustexten sehr stark. Beliar legt jedenfalls eine umfangreiche Beichte ab, während Bartholomäus seinen Fuß auf seinen Nacken gestellt hat und ihn in die Erde drückt, und berichtet von den unzähligen Verführungen, mit denen gefallene Engel auf die Jagd nach Menschenseelen gehen – Trunksucht, Gelächter (!), Verleumdung, Vergnügungen, Hurerei und dergleichen mehr.
"Beliar" leitet sich von Ba'al ab, wie der regionale Götterchef vor dem Christentum genannt wurde. Daraus wurde ein christliches Synonym für das Böse selbst.
Gegen Ende erfahren wir, dass „Heuchelei und Verleumdung“ die schwerste aller Sünden sei, denn bei ihr handele es sich um die einzige Verfehlung, für die es keine Vergebung gäbe, die Sünde wider den Heiligen Geist. (Nachzulesen auch im Matthäusevangelium, Kapitel 12,31.) Was genau darunter zu verstehen ist, erklärt Jesus auf aufschlussreiche Weise:
V 4. „Jeder, der eine Verordnung erlässt gegen jeden Menschen, der meinem Vater dient, hat den Heiligen Geist gelästert. Denn jeder Mensch, der Gott ehrfürchtig dient, ist des Heiligen Geistes würdig, und wer etwas Böses gegen ihn sagt, dem wird das nicht vergeben werden.“
Die Hölle, wie sie im Hortus Deliciarum ("Garten der Köstlichkeiten"), einer zur Unterweisung von Klosterfrauen angelegten illustrierten Enzyklopädie des 12. Jhs., abgebildet ist.
Hier wird endlich klar, was mit der ganzen doch recht dick aufgetragenen Geschichte um den zur Hölle fahrenden Messias beabsichtigt wurde. Zunächst wird den Gläubigen die absolute Macht ihres Herrn Jesus Christus deutlich gemacht – mit Unterstützung der himmlischen Heerscharen zermalmt er die Pforten der Hölle und lehrt den Insassen Mores; er ist derart heilig und mächtig, dass selbst seiner Mutter alles verschlingende Flammen aus dem Mund fahren, wenn sie nur über ihn spricht.
Solcherart zu demütiger und bedingungsloser Gottesfurcht angehalten, wird dem zitternden Gläubigen der Feind erklärt: die üblichen Verdächtigen des zur Askese hindrängenden Christentums.
So schlimm Gelächter und Fleischeslust aber auch sein mögen, eine Sünde allein wiegt so schwer, dass selbst die segensreiche (und sicher auch sehr erfolgreiche) Einrichtung der Beichte samt anschließender Vergebung versagt: die Sünde wider den Heiligen Geist.
Was so klingt, als wäre es gewissermaßen ein Verstoß gegen Gott oder den Glauben selbst, wird in der Tradition der Bartholomäustexte allerdings zum Politikum: „Jeder, der eine Verordnung erlässt gegen jeden Menschen, der meinem Vater dient“, begeht den unverzeihlichen Frevel. Wer also antichristliche (sprich: antikirchliche) Gesetze verabschiedet, ist im selben Augenblick auf ewig verdammt.
Ostkirchenpropaganda ohne Chance auf Kanonisierung
Derartige Propaganda sollte wohl den inneren Zusammenhalt stärken und das Gefühl geben, nicht nur einer gerechten Sache zu dienen, sondern der einzig wahren und heiligen und gerechten Sache überhaupt: dem christlichen Glauben; was de facto natürlich auf Gehorsam gegenüber der Institution christliche Kirche hinausläuft.
Für eine Kanonisierung kam der Text trotz seiner der Kirchenmacht förderlichen Intention nie in Frage – er entstand spät, ist nicht völlig frei von jedem gnostischen Verdacht und von seinem ganzen Charakter her eine Schrift, die sich in ihrer Deftigkeit eindeutig ans einfache Volk wendet.
Wie schon bei den zuvor präsentierten „Bestsellern der Antike“ spielte jedoch die Nichtaufnahme in die Bibel für die Wirkung des Bartholomäusevangeliums und Nachfolgeschriften wie dem Nikodemus-Evangelium keine Rolle; die Häufigkeit der ikonografischen Darstellung der „Höllenfahrt Christi“ belegt dies mehr als deutlich. Allerdings beschränkte sie sich in diesem Fall eindeutig auf die Ostkirche, den armenischen, byzantinischen, koptischen und später russisch-orthodoxen Raum.