Pseudo-Matthäus-Evangelium
Dieser Text mit dem Originaltitel „Über die Geburt der seligen Maria und die Kindheit des Erlösers“ stammt aus dem 8. oder 9. Jh. und vereinigt die Erzählströme aus den beiden „Ur-Kindheitsevangelien“ in besonders erfolgreicher Weise, angereichert um diverse Legenden um die Flucht nach Ägypten oder, wie berichtet, die genauen Umstände um Jesu Aufenthalt im Stall samt bußfertigem Ochs und ehrerbietigem Esel.
Die Legende um die Flucht der hl. Familie ist eines der beliebtesten Motive der Kunstgeschicht. Im Bild: Die Flucht nach Ägypten, Jörg Breu, 1501
Der unbekannte Autor beginnt mit einem Kunstgriff: Er fingiert einen Briefwechsel, in dem der 420 verstorbene Hieronymus behauptet, nun erstmals diese bisher nur auf Hebräisch vorhandene bzw. von Häretikern publizierte Schrift des Evangelisten Matthäus übersetzt zu haben.
Im 13. Jh. wurde das Pseudo-Matthäus-Evangelium selbst zur Vorlage: Es ging in die „Legenda Aurea“ des Jacobus von Voragine ein und erfuhr so eine noch weit größere Verbreitung. Die Wirkung des Textes auf Kunst, Literatur und Volksfrömmigkeit war enorm.
Hier nun einige markante Textpassagen nach dem bereits zitierten Abschnitt mit der Stallszene; ausgewählt wurden jene Stellen, die der Pseudomatthäus seinen beiden Vorläufern hinzugefügt hat. Die Heilige Familie ist auf dem langen Weg nach Ägypten:
Jesus zähmt die Drachen
18 Als sie zu einer Höhle
kamen und sich ausruhen wollten, stieg die selige Maria von ihrem
Reittier und setzte sich nieder, das Jesuskind auf ihrem Schoß. Mit
Joseph waren drei Jungen und mit Maria ein Mädchen zugleich
unterwegs. Da plötzlich stürzten viele Drachen aus der Höhle
hervor. Die Knaben schrien laut vor Entsetzen. Da kletterte Jesus
vom Schoß der Mutter und stellte sich vor die Drachen. Diese
begannen ihn anzubeten und wichen dann zurück. Da erfüllte sich,
was durch den Propheten David verkündet ist, der da sagte: „Lobet
den Herrn, ihr Drachen von der Erde, Drachen und alles
Abgründige!“
Das Jesuskind aber ging vor den Drachen auf
und ab und gebot ihnen, keinem Menschen Schaden zuzufügen. Maria
und Joseph fürchteten sehr, das Kind könne Schaden erleiden. Da
sprach Jesus: „Seid ohne Angst und vergesst, dass ich ein Kind bin;
denn ich war schon immer vollkommen und bin es auch in diesem
Augenblick; alle wilden Tiere werden zahm vor mir.“
Jesus als Drachen- und Löwenbändiger
19 In gleicher Weise
beteten Löwen und Leoparden ihn an und begleiteten sie auf ihrem
Weg. Wohin Joseph und Maria auch gehen wollten, immer schritten sie
voran und wiesen den Weg durch Senken ihrer Köpfe. Schwanzwedelnd
machten sie ihre Diensteifrigkeit deutlich und verehrten ihn mit
großer Ehrfurcht.
Maria aber war, umgeben von Löwen und
Leoparden und anderen wilden Tieren, zunächst von einem heftigen
Schrecken erfasst worden. Jesus aber schaute ihr fröhlich ins
Antlitz und sagte:
Selma Lagerlöf, der erste weibliche Literaturnobelpreisträger, ließ in ihren 1904 veröffentlichten "Christuslegenden" viele Motive aus dem Pseudomatthäus einfließen. Gemälde von Carl Larsson, 1908.
„Fürchte dich nicht,
Mutter; sie sind nicht gekommen, um dir zu schaden, sondern sind
herbeigeeilt, um dir und mir zu gehorchen.“ So nahm er ihr die
Angst.
Die Löwen aber gingen mit ihnen, gemeinsam mit
den Ochsen und Eseln und den Lasttieren, die das Erforderliche
trugen, und keinem fügten sie ein Leid zu, obwohl sie ihnen nicht
von der Seite wichen. Vielmehr waren sie zahm mitten unter Schafen
und Böcken, die sie nach Judäa mit sich geführt hatten. Sie
wandelten unter Wölfen und verspürten keine Furcht und keines wurde
vom anderen verletzt. Da erfüllte sich, was vom Propheten gesagt
wurde: Die Wölfe weiden mit den Lämmern; Löwe und Ochse fressen
Stroh zusammen.
Die Palme verneigt sich vor Jesus
20 Am dritten Tag der
Reise wurde Maria von der allzu großen Hitze in der Wüste müde, und
als sie eine Palme erblickte, sagte sie zu Joseph: „Ich möchte mich
im Schatten dieses Baumes ein wenig ausruhen.“
Eilends führte Joseph sie zu dem Baum und ließ
sie von ihrem Lasttier absteigen. Nachdem die selige Maria sich
niedergelassen hatte, hob sie ihren Blick und sah, dass die
Palmkrone voller Früchte war. Da sagte sie zu Joseph: „Wie schön
wäre es, diese Früchte von der Palme zu holen.“ Joseph aber
antwortete: „Seltsam, dass du das sagst, denn du siehst doch, wie
hoch dieser Baum ist, und es ist verwunderlich, dass du auch nur
daran denkst, von diesen Früchten zu essen. Was mich betrifft,
beschäftigt mich viel mehr das Wasser, das in unseren Schläuchen
zur Neige geht, und dass wir nichts haben, um uns und die Tiere
erfrischen zu können.“
Da wandte sich das Jesuskind, das fröhlich in
Marias Schoß saß, an die Palme und sprach: „Baum, neige deine Äste
und erfrische meine Mutter mit deinen Früchten.“ Und sogleich
senkte die Palme auf diese Aufforderung hin ihre Krone bis zu den
Füßen der seligen Maria, und sie sammelten die Früchte und alle
labten sich daran.
Nachdem sie die Früchte aber gepflückt hatten,
verharrte die Palme in gesenkter Stellung und wartete auf den
Befehl, sich wieder aufzurichten. Also sagte Jesus: „Richte dich
auf, Palme, werde stark und geselle dich zu meinen Bäumen, die im
Paradies meines Vaters sind. Erschließe dir unter deinen Wurzeln
eine Wasserader, die dort verborgen ist, denn die Wasser mögen
fließen, auf dass wir mit ihnen unseren Durst löschen können.“ Da
richtete sie sich sofort wieder auf und eine saubere, helle
Wasserquelle begann an ihrer Wurzel zu sprudeln. Als sie dies
sahen, freuten sie sich sehr und löschten ihren Durst, sie selbst,
alle Lasttiere und alles Vieh. Und sie dankten Gott
dafür.
Der Ursprung der Palme als Siegessymbol
21 Als sie am nächsten Tag von diesem Ort weiterzogen, sprach Jesus noch einmal mit der Palme: „Ich gebe dir das Vorrecht, dass einer von deinen Ästen von meinen Engeln emporgetragen und im Paradies meines Vaters gepflanzt werde. Und diesen Segen will ich über dich sprechen: dass zu allen, die in einem Wettkampf siegen werden, gesagt werde: ,Ihr habt die Siegespalme errungen.‘“
Die heilige Familie beim Palmenbaum. Pierre Puget, 1662
Als er dies gesagt hatte, erschien ein Engel des Herrn, blieb über der Palme stehen, nahm einen der Äste und flog mit ihm zum Himmel. Da fielen alle auf ihr Angesicht und rührten sich nicht mehr. Jesus aber sprach sie an: „Warum dringt Furcht in eure Herzen? Wisst ihr denn nicht, dass diese Palme, die ich habe ins Paradies tragen lassen, für alle Heiligen am Ort der Seligkeit bereitstehen wird, gerade wie sie für uns am Ort der Einsamkeit bereitgestanden hat?“ Und das erfüllte alle mit Freude und gestärkt erhoben sie sich wieder.
Abkürzung nach Ägypten
22 Dann sagte Joseph zu Jesus: „Herr, von dieser Hitze werden wir gebraten; wir wollen, wenn das auch in deinem Sinne ist, am Meer entlangziehen, um in den Küstenstädten rasten zu können.“ Jesus aber antwortete: „Sei ohne Furcht, Joseph. Ich werde euch den Weg verkürzen. Wofür ihr dreißig Tage benötigt hättet, sollt ihr in einem Tage schaffen.“ Und siehe, noch während sie redeten, erblickten sie schon die Berge Ägyptens und konnten seine Städte erkennen.
Gott ist nichts unmöglich: Jesus ist Herr über Zeit und Raum
Freudig jubelnd gelangten sie in das Gebiet von Hermopolis und zogen in eine ägyptische Stadt mit dem Namen Sotinen ein. Da sich dort keiner ihrer Bekannten befand, den sie um Gastfreundschaft hätten bitten können, betraten sie einen Tempel, der als „Kapitol Ägyptens“ bezeichnet wurde. Darin waren dreihundertfünfundsechzig Götzenbilder aufgereiht, denen an bestimmten Tagen gehuldigt wurde. Die Bewohner der Stadt kamen auf Ermahnung der Priester in das Kapitol, um ihren Gottheiten Opfer darzubringen.
23 Als aber die seligste Maria mit dem Kind den Tempel betrat, stürzten sämtliche Götzenbilder um und lagen gänzlich zerbrochen auf dem Boden. So wurde offenkundig, dass sie nichts waren. Da erfüllte sich, was der Prophet Jesaja gesagt hatte: „Siehe, der Herr wird auf einer schnellen Wolke kommen und in Ägypten einziehen, und alle Bilder, die von den Händen der Ägypter gefertigt sind, werden vor seinem Angesicht entfernt werden.“
24 Als dies Affrodosius,
dem Vorsteher von Sotinen, zugetragen wurde, ging er mit seinem
ganzen Heer zum Tempel. Als aber die Hohepriester sahen, dass
Affrodosius mit seinem ganzen Heer zum Tempel ging, erwarteten sie,
sogleich seine Rache an jenen zu erleben, um derentwillen die
Götzenbilder zerbrochen waren.
Affrodosius aber betrat den Tempel, und als er
alle Statuen in Stücken auf dem Boden liegen sah, ging er zur
seligen Maria, die den Herrn an ihrem Busen trug, betete diesen an
und sprach zu seinem ganzen Heer und all seinen Freunden: „Wäre
dieser nicht der Gott unserer Götter, wären unsere Götter gewiss
nicht vor ihm auf ihr Gesicht gefallen und würden nicht in seiner
Anwesenheit dahingestreckt daliegen. Vielmehr bekennen sie sich auf
diese Weise stillschweigend zu ihm als ihrem
Herrn.
Wenn wir aber nicht weise genug sind, all das
zu tun, was wir unsere Götter haben tun sehen, laufen wir womöglich
Gefahr, ihn gegen uns aufzubringen und dem Verderben
anheimzufallen, wie der Pharao, der König der Ägypter, der mit
seinem ganzen Heer im Meer ertrunken ist, weil er solch großen
Wundern keinen Glauben geschenkt hat.“ Da glaubte das ganze Volk
von Sotinen an Gott, den Herrn, durch Jesus Christus. (Nach:
Schindler)