Apokalypsen des Jakobus
Für das Wort Apokalypse hat sich gemeinhin die Bedeutung „Untergang, Endzeitkatastrophe“ eingebürgert. Die ursprüngliche Wortbedeutung ist jedoch „Offenbarung“ – wir begegnen in einer (biblischen) Apokalypse also einer meist prophetischen Sicht der Dinge, wie sie einem Jünger offenbar wurde; diese Visionen neigen indes häufig dazu, Endzeitstimmung zu verbreiten, weshalb heutzutage kaum noch jemand in der Lage ist, Apokalypse in seinem eigentlichen, neutralen Sinn zu verstehen.
Krieg, Pest, Dürre, Tod – die vier apokalyptischen Reiter, hier in Albrecht Dürers weltberühmter Darstellung, brachten Verderben und Untergang über die Menschheit und führten dazu, dass jede biblische "Offenbarung" tendenziell als Weltuntergangsprophezeiung aufgefasst wird.
Von Nag Hammadi sind uns zwei Apokalypsen des Jakobus überliefert, beide mit identem Titel. Deshalb spricht man von der ersten und der zweiten Apokalypse des Jakobus, abgekürzt 1 ApokJk und 2 ApokJk. Die im Vergleich zu 2 ApokJk spezifisch gnostischere Ausrichtung von 1 ApokJk, deren Entstehung nicht vor der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts anzusiedeln ist, führt zu der etwas verwirrenden Situation, dass die sogenannte zweite Apokalypse des Jakobus vor der ersten entstanden sein dürfte.
Jakobus, der Herrenbruder – der perfekte Jünger im gnostisch beeinflussten Christentum
Deutlich wird ganz offensichtlich die Bedeutung, die das gnostisch beeinflusste Christentum dem Herrenbruder Jakobus beimisst – er ist der perfekte Jünger, der „Erleuchtete und Erlöser“ (2 ApokJk 55, 17 f.) und der „Empfänger der Erstlingsgabe der Gnosis“ mit der Auflage, diese an ausgesuchte andere weiterzugeben (1 ApokJk 42, 9 ff.). Im Thomasevangelium war davon die Rede, dass wegen Jakobus „der Himmel und die Erde“ entstanden seien. Und selbst von Kirchenvätern wie Hippolytus von Rom und Clemens von Alexandrien „wird Jakobus als gnostische Autorität ausgewiesen“ (Lüdemann, Janßen, S. 159). Er sei einer jener Auserwählten unter den Auserwählten gewesen, die von Jesus nach der Auferstehung Sonderbelehrungen erfahren durften. In den gnostischen Schriften nimmt Jakobus dabei häufig die Position des Petrus ein; er erhält in 1 ApokJk einen neuen Beinamen, „der Gerechte“, und in einer hier nicht näher behandelten Nag-Hammadi-Schrift, dem Brief des Jakobus, werden ihm Worte in den Mund gelegt, die laut dem kanonischen Markusevangelium eigentlich Petrus gesagt haben soll.
Die erste Apokalypse des Jakobus enthält einen Offenbarungsdialog zwischen Jesus und Jakobus, bei dem es um die Erlösung des Gnostikers aus den Fesseln des Materiellen, der irdischen Welt also, geht. Die angebotene Lösung ist wenig beruhigend: wieder einmal stellt das Martyrium die perfekte Abkürzung dar. Mit dieser Kernthese unterscheidet sich 1 ApokJk nicht von der zweiten Apokalypse und auch nicht vom Brief des Jakobus.
Gleich der erste Absatz der ersten Apokalypse enthält eine interessante Klarstellung:
Es ist aber der Herr, der mit mir gesprochen hat: „Siehe die Vollendung meiner Erlösung! Ich habe dir (bereits) ein Zeichen bezüglich aller dieser Dinge gegeben, Jakobus, mein Bruder. Denn nicht ohne Grund habe ich dich meinen Bruder genannt, obwohl du der Materie nach nicht mein Bruder bist.“ (Lüdemann, S. 160)
Jakobus der Ältere, El Greco, um 1610.
Jacobus der Ältere II, El Greco, um 1610.
Jakobus wäre demnach also nicht der leibliche Bruder von Jesus, sondern durch seine besondere geistige Nähe zum Auferstandenen zum Bruder ernannt worden – womit er, wenigstens im gnostischen Verständnis, in der Wertschätzung durch Jesus höher gestellt wurde. (In der kanonischen Tradition wird Jakobus, wie berichtet, als leiblicher Bruder des Herrn angesehen; selbst Paulus spricht von „Jakobus, des Herrn Bruder“. Apokryphe Quellen behaupten indes, es habe nur ein stiefbrüderliches Verhältnis bestanden, weil Maria keine anderen Kinder gehabt habe als Jesus. [Siehe „Protevangelium des Jakobus“ im Kapitel „Bestseller der Antike“.] Diese Auffassung deckt sich übrigens mit der katholischen Lehre von der Reinheit Marias, die ja bis ans Ende ihrer Tage eine Jungfrau geblieben sei. Jakobus könne deshalb allerhöchstens ein Cousin Jesu gewesen sein; er wird mit dem nur in den Apostellisten am Ende aufgeführten Jakobus dem Jüngeren gleichgesetzt. „Diese Gleichsetzung ist aber wie auch seine Autorschaft für den Jakobusbrief im Neuen Testament nicht haltbar“, meint heiligenlexikon.de. Die Bibel kennt noch weitere Jakobs: Jakobus der Ältere, der Pilger [Stichwort Jakobsweg], Jakobus der Kleine, Jakobus, Vater des Apostels Judas Thaddäus, und ein Jakob als Großvater von Jesus …)
Jacobus der Kleine, El Greco, um 1610. Die biblisch-jakobinische Namensverwirrung wurde durch solche Darstellungen in Serie nicht eben einfacher ...
Jacobus der Jüngere, El Greco, um 1610.
Ein weiteres höchst interessantes Detail ist die Anrede, die Jakobus in Apokalypse 1 für Jesus wählt: Er spricht ihn als „Rabbi“ an. So findet sich ein mächtiges Indiz für das Lager derjenigen, die lieber Jakobus als Paulus als ersten und wichtigsten Verbreiter der christlichen Lehre gesehen hätten, weil der Herrenbruder für den Menschen und Weisheitslehrer Jesus anstelle des entrückten, wundertätigen Gottessohns eingestanden sei. Zudem wird in dieser Anrede nur allzu deutlich, wo Jesu Wurzeln verankert waren: im Judentum, im mosaischen Gesetz. Wie sich die katholische Orthodoxie zu dieser Frage stellt, wurde anekdotisch anhand des Falles Klaus Berger deutlich gemacht.
1 ApokJk ist im Übrigen so stark verstümmelt überliefert, dass tiefer gehende inhaltliche Analysen kaum noch möglich sind. Hervorgehoben sei noch die Stelle, an der Jakobus fragt:
Wer sind die sieben Frauen, die deine Jüngerinnen gewesen sind? Denn siehe, alle Frauen preisen dich selig. (1 ApokJk 38 nach Lüdemann, S. 163)
Jesus’ Beliebtheit bei den Frauen sollte im Hinterkopf behalten werden, wenn nun ein näherer Blick auf die
Zweite Apokalypse des Jakobus
Das Martyrium von Jakobus dem Jüngeren, der hier kurioserweise als Sohn des Alphäus UND als Bruder des Herrn geführt wird. Jan Luiken, 1685.
geworfen wird. Das Hauptthema darin ist die Wiedergabe einer Offenbarung, die Jakobus vom auferstandenen Jesus erhalten hat. Der Gerechte steht kurz vor seiner Hinrichtung; 2 ApokJk endet mit einem Sterbegebet, das Jakobus aus der selbst gegrabenen Steinigungsgrube heraushält. (Das Martyrium des [welchen?] Jakobus gilt als erwiesen und wird gewöhnlich für 62 n. Chr. angenommen. Über die genaue Todesart gibt es hingegen divergierende Ansichten. Der hl. Hegesippus weiß zu berichten, dass ihn die über seine Lehren außer sich geratenen Pharisäer vom Tempel in Jerusalem gestürzt, anschließend gesteinigt und schließlich mit einer Walkkeule den Schädel eingeschlagen hätten. Vermutlich fasste der Mann alle kursierenden Varianten über die Tötung des Jakobus zusammen.)
Öffentliche Aufmerksamkeit erhielt die zweite Apokalypse des Jakobus indes fast ausschließlich durch folgenden Textabschnitt, zitiert nach Lüdemann:
„Deinetwegen“ (sagt Jesus
zu Jakobus) „wird man Erbarmen haben mit jedem, dessen man sich
erbarmen wird. Denn du hast dich als Erster bekleidet, und du bist
auch der Erste, der sich ausziehen wird. Du wirst wieder werden,
wie du warst, bevor du dich ausgezogen hast.“
Und er küsste meinen Mund, umarmte mich und
sagte: „Mein Geliebter, siehe, ich werde dir Dinge offenbaren, die
selbst den Archonten unbekannt sind. Weil ich ein Vater bin, habe
ich nicht Macht über alle Dinge?
Siehe, ich werde dir offenbaren alle Dinge,
mein Geliebter. Begreife und erkenne sie, damit du dich aus diesem
Körper befreien kannst wie ich. Nun aber strecke deine Hände aus
und umarme mich!“
Sogleich streckte ich meine Hände aus, und ich
fand ihn nicht so, wie ich ihn erwartet hatte. Danach sprach er:
„Verstehe und umarme mich!“ Darauf verstand ich und ich fürchtete
mich. Und zugleich verspürte ich eine große Freude.
(…)
Ich habe gesehen, dass er nackt war, und es
gab kein Gewand, das ihn kleidete. Das, was er will, geschieht
ihm.
Das klingt nun auf den ersten Blick eindeutig homophil; allerdings ist bei der Interpretation alter, verstümmelter und mehrfach übersetzter Texte Vorsicht geboten, wie schon mehrfach betont wurde. Bei der geschilderten Kussszene zwischen Jesus und Maria Magdalena im Philippusevangelium wurde schon darauf hingewiesen, wie durch Küssen „geistige Nahrung“ gegeben und empfangen wurde (S. 152). Es handelte sich offenbar um eine zutiefst spirituelle Begegnung, bei der der Leib als Mittler fungierte. In heutiger Lesart drängt sich allerdings noch ein weiterer Gedanke auf bei der Vorstellung zweier Lippenpaare, die miteinander verschmelzen – besonders wenn die daran beteiligten Körper unbekleidet sind. Wenn wir also die Schrift beim Wort nehmen, stellt sich die Frage nach dem Vorhandensein von
Spiritualität und Erotik
Johannes gilt als der "Jünger, den Jesus lieb hatte". Der Schrift nach ist dies aber keineswegs eindeutig.
Ob dieses spirituelle Küssen auch eine erotische Komponente hatte? Gab es eine urchristliche, sinnesfrohe Tantra-Variante der jungen, vorgeblich dem Martyrium und der Askese huldigenden Religion? Im Fall einiger seiner Jüngerinnen scheint viel dafür zu sprechen; doch auch die homoerotische Begegnung, wenn es denn eine war, steht in der zweiten Apokalypse des Jakobus nicht allein da. Immerhin gibt es im Johannesevangelium mehrere Hinweise. So heißt es beim letzten Abendmahl (Joh 13,23): „Es war aber einer unter seinen Jüngern, den Jesus lieb hatte, der lag bei Tisch an der Brust Jesu.“
Dieser so seltsam anonyme Jünger, der sich an den Körper seines Herrn schmiegt, taucht noch mehrmals auf:
Joh 19,25: Es standen aber bei dem Kreuz Jesu seine Mutter und seiner Mutter Schwester, Maria, die Frau des Klopas, und Maria von Magdala. 26 Als nun Jesus seine Mutter sah und bei ihr den Jünger, den er lieb hatte, spricht er zu seiner Mutter: Frau, siehe, das ist dein Sohn! 27 Danach spricht er zu dem Jünger: Siehe, das ist deine Mutter! Und von der Stunde an nahm sie der Jünger zu sich.
In Folge hören wir noch dreimal vom „Jünger, den Jesus lieb hatte". In einem Fall wird erneut darauf hingewiesen, dass er „an seiner Brust gelegen“ hatte. Der Knabe hat keinen Namen und keine über Edelstatisterie oder Stichwortgeber hinausgehende Funktion in der Evangelienhandlung – er ist einfach da und Jesus hat ihn lieb; das dafür aber mehr als ausgiebig: Fünf Erwähnungen in einem Evangelium sind wahrlich nicht ohne. Bloß: Wenn er daran eindeutig zu identifizieren sein soll, muss dieses „Liebhaben“ als einziges Erkennungsmerkmal schon etwas ganz Besonderes gewesen sein und sich von der allumfassenden, geistigen Liebe, die Jesus der Welt zuteil werden ließ, unterschieden haben. Allzu viele Interpretationsmöglichkeiten bleiben da nicht mehr offen: Mit diesem Jünger erlebte Jesus eindeutig eine Intimität, die er mit keinem anderen seiner (männlichen) Anhänger teilte. Oder handelt es sich bei all dem lediglich um Wunschdenken des Evangelisten?
Hatte Jesus Johannes lieb?
In der christlichen Tradition wird der anonyme
„Jünger, den Jesus lieb hatte“ allerdings doch identifiziert, und
zwar als Johannes selbst. Dafür gibt es jedoch keinen eindeutigen
Beleg: In Joh 19,35 steht eine gleichfalls anonyme Bemerkung, die
die Behauptung aufstellt, der Verfasser sei ein Zeuge der
Kreuzigung gewesen, der neben Maria, Maria und Maria auch der
„Jünger, den Jesus lieb hatte“, beigewohnt hatte; die Identität von
Verfasser und Jünger geht daraus nicht eindeutig hervor. In Joh
21,20 erkundigt sich Petrus nach dem bewussten „Jünger“, den er
Jesus nachfolgen sieht: „Herr, was wird aber mit diesem?“ Jesus
antwortet kryptisch: „Wenn ich will, dass er bleibt, bis ich komme,
was geht es dich an?“ Folgt er Jesus nun nach oder bleibt er auf
dessen Geheiß? Petrus wird eindeutig zum Folgen aufgefordert, der
liebe Jünger folgt ihm freiwillig, soll aber eigentlich „bleiben,
bis“ Jesus „kommt“.
Diesem wirren Absatz folgt einer, der mit dem Satz beginnt: „Dies
ist der Jünger, der dies alles bezeugt und aufgeschrieben hat, und
wir wissen, dass sein Zeugnis wahr ist.“
Wiederum ist in keiner Weise eindeutig, dass der von sich selbst in der dritten Person sprechende Verfasser-Jünger mit dem Lieblingsjünger ident ist: Obwohl beim Durchlesen spontan dieser Eindruck entsteht, muss man bei kritischerer Textanalyse feststellen, dass der schlechte Text dieser Passage nicht einmal zulässt, den grundsätzlichen Geschehnissen zu folgen.
Was bleibt, ist noch zu bemerken, dass auch das Johannesevangelium von irgendjemandem verfasst worden ist, der die Autorenschaft dem Apostel Johannes zugeschrieben hat – 70 bis 120 Jahre nach Jesu Kreuzigung. Der christlichen Tradition zufolge hat zwar Johannes uns als einziger Zeit- und Augenzeuge unter den Evangelisten etwas Schriftliches hinterlassen, die historisch-kritische Auslegung der Schrift im Sinne der modernen Bibelwissenschaft kam jedoch zu einer anderen Schlussfolgerung.
Evangeliensinnlichkeit
Die hl. Maria Magdalena salbt Christus die Füße ein. Friedrich Herlin, 1462–65. Ein Gerücht für die Jahrtausende: Maria Magdalena wird das Salben der Jesusfüße zugesprochen. So stand es nie in der Bibel.
Geht es um sinnliche Erlebnisse, halten sich die Evangelien weitgehend bedeckt; die Ausnahme ist dafür ausgesprochen exotisch:
Lk 7,37 Und siehe, eine Frau war in der Stadt, die war eine Sünderin. Als die vernahm, dass er zu Tisch saß im Haus des Pharisäers, brachte sie ein Glas mit Salböl 38 und trat von hinten zu seinen Füßen, weinte und fing an, seine Füße mit Tränen zu benetzen und mit den Haaren ihres Hauptes zu trocknen, und küsste seine Füße und salbte sie mit Salböl. (www.bibel-online.net)
Die Evangelisten Johannes und Lukas wissen zu berichten, dass auch Maria aus Bethanien so verfahren sei. Weder diese Maria noch die namenlose Sünderin sind im Übrigen ident mit Maria Magdalena, wie es über Jahrhunderte behauptet und geglaubt wurde; dazu aber mehr im Kapitel „Eine ganz besondere Frau“.
Was immer der tiefere, symbolische Gehalt dieser rituell anmutenden Geste gewesen sein mag, in der Demut, Zuneigung und Opferbereitschaft deutlich werden: unangenehm war es gewiss nicht, mit königlichem, kostbarem Öl eingerieben zu werden und sich die Füße küssen zu lassen.
Jesus, der Mann, war also der Sinnlichkeit nicht abhold, zumal er die körperliche Berührung, den Kuss auf den Mund, für die Vermittlung seiner spirituellen Botschaften benötigte. Erleuchtung/ Erlösung und körperliche Begegnung waren eng miteinander verknüpft; inwieweit die Vermittlung der Lehre auch eine mehr genussvoll leibliche Dimension hatte, bleibt fürs Erste der Spekulation überlassen; dass es diese Dimension aber grundsätzlich gab, scheint außer Frage zu stehen. Und warum auch nicht?
In der sinnlichen Begegnung machte Jesus keinen Unterschied der Geschlechter, wie er ja auch sonst die Geschlechterdifferenzen als etwas einschätzte, was es zu überwinden galt. Er stand offenbar über kleinlichen Konzepten, die die Statthaftigkeit oder Nicht-Statthaftigkeit körperlicher Begegnung vom Geschlecht abhängig machen. Er verband mit Nähe ein umfassenderes, grenzenloses Ganzes, in dem es um Liebe ging. Jesus’ Liebesbegriff war höchstwahrscheinlich von antiken Überlegungen beeinflusst, die der Hellenismus nach Palästina gebracht hatte.
Eros, Philia und Agape
Der Pelikan, der sich seine Brust aufreißt, um seine Jungen mit seinem Blut zu füttern, ist ein altes Sinnbild der aufopfernden Liebe.
Demzufolge existieren drei Erscheinungsformen der Liebe: Eros, die sinnlich-erotische Liebe, auch als Erkennen von Schönheit oder romantischer Liebe gedeutet, Philia, die Freundesliebe auf der Basis von Respekt und Verständnis, und Agape, die selbstlose Liebe, die das Wohl des anderen im Auge hat (auch als „Feindesliebe“ verstanden). Stoika, der vierte Begriff in diesem Zusammenhang, beschreibt die Interessenliebe und sei hier nur der Vollständigkeit halber angeführt.
Im antiken philosophischen Verständnis wurde die geistig-seelische Verbindung als höchste, ideale Form der Liebe angesehen, die erotische Liebe wurde aber nicht gering geschätzt, sondern als Erkenntnisweg verstanden: Von der Liebe zu einem schönen Menschen konnte man durch die Erotik letztlich zur Erkenntnis der Schönheit an sich gelangen.
Jesus predigte Nächstenliebe – und Feindesliebe. Und er war der Sinnlichkeit nicht abhold: Eros, Philia und Agape. Ein umfassendes und in seiner gelebten Geschlechtsneutralität revolutionäres Verständnis, wie es von einem Mann mit visionärem Weitblick auch nicht anders zu erwarten gewesen war.
Damit soll die Ketzerbibel von Nag Hammadi geschlossen werden. Der Fund in Ägypten hat noch etliche weitere Texte hervorgebracht, die der Beachtung wert wären, jedoch würde eine selbst kurze Beschäftigung mit jeder einzelnen der annähernd 50 unterschiedlichen Schriften den Rahmen dieses Buches deutlich sprengen. Es ist an der Zeit, sich einer Gruppe von apokryphen Schriften zuzuwenden, die seit jeher bekannt sind und das Christentum zum Teil weitaus mehr beeinflusst haben, als es der Bibel jemals möglich war: den Bestsellern der Antike.