Das Evangelium nach Philippus
Das Philippusevangelium (EvPh) ist in vielerlei Hinsicht eine skurrile Erscheinung. Das fängt damit an, dass es ausschließlich aus dem Nag-Hammadi-Fund bekannt ist. Zwar findet sich beim frühen Kirchenschriftsteller Epiphanius ein Zitat aus einem Philippusevangelium, diesen Wortlaut sucht man jedoch im Nag-Hammadi-EvPh vergebens. Andere existierende Hinweise auf ein Philippusevangelium, etwa in der Pistis Sophia, einer weiteren Nag-Hammadi-Schrift, oder in kirchenhistorischen Werken, die auf den Gebrauch eines dem Apostel Philipp zugeschriebenen Evangeliums bei den Manichäern verweisen, helfen bei der Einreihung des Textes nicht, weil nicht geklärt werden kann, ob damit das vorliegende EvPh aus Nag Hammadi gemeint ist oder ein ganz anderes, das nie gefunden werden konnte.
Die Bezeichnung Philippusevangelium ist irreführend: Nirgends wird behauptet, dieser Apostel habe den Text verfasst. Philippus wird lediglich als einziger Apostel namentlich erwähnt. Auch kann kaum von einem Evangelium die Rede sein: Das EvPh ist eine Spruchsammlung und insofern dem EvTh vergleichbar; allerdings kommt Jesus erklärtermaßen in 127 Sprüchen nur achtmal selbst zu Wort, neunmal finden sich mit Jesus assoziierbare Inhalte, die Entsprechungen in den kanonischen Evangelien haben.
Obwohl der Verfasser sich als Christ versteht, sind die Inhalte überwiegend rätselhaft oder schlicht unverständlich. Je nach Geschmack üben enigmatische Sätze einen unwiderstehlichen Reiz aus, hinter ihr Geheimnis zu dringen, oder eher ein Gefühl von Ärger ob der Unfähigkeit des Autors, sich so auszudrücken, dass ihm zu folgen ist.
Urteile über Aussagen wie die folgenden können jedenfalls nur dem Leser oder der Leserin überlassen werden:
Spruch 3: Diejenigen, die Totes erben, sind selbst tot und erben Totes. Diejenigen, die das Lebendige erben, sind lebendig und erben das Lebendige und das Tote. Die Toten erben nichts. Denn wie sollte der Tote erben? Wenn der Tote das Lebendige erbt, wird er nicht sterben, sondern der Tote wird umso mehr leben. (Lüdemann, Janßen, S. 79)
Spruch 24: Auf dieser Welt sind die, die die Kleider anziehen, wertvoller als die Kleider. Im Reich der Himmel sind die Kleider wertvoller als die, die sie (sich) angezogen haben. (Ebd., S. 81)
Spruch 57: Der Herr sagte: „Gesegnet ist der, der existiert, bevor er entstand. Denn der, der existiert, war und wird sein.“ (S. 84)
Aus heutiger Sicht ist die Entscheidung der entstehenden Großkirche, diesen Text außen vor zu lassen, jedenfalls sehr gut zu verstehen. Obwohl das „Evangelium“ sich in einzelnen Punkten, dem Gnosis-Vorwurf zum Trotz, genau auf Linie befand:
Spruch 46: Wer den Herrn nicht empfangen hat, ist noch ein Hebräer. (S. 83)
An anderen Stellen will sich nicht so recht erschließen, was genau gemeint ist:
Spruch 17: Manche sagten:
„Maria ist vom heiligen Geist geschwängert worden.“ Sie sind im
Irrtum und wissen nicht, was sie reden. Wann ist je eine Frau von
einer Frau schwanger geworden? Maria, die Jungfrau, befleckte keine
Macht. (…) die Mächte befleckten sich selbst. (Klartext
jedoch der Folgesatz, mit dem Jesus ganz und gar menschliche
Herkunft bestätigt wird:)
Und der Herr hätte nicht gesagt: „Mein Vater,
der im Himmel ist“, wenn er nicht noch einen anderen Vater gehabt
hätte, sondern er hätte einfach gesagt: „Mein Vater!“ (S.
81)
Dazwischen finden sich Perlen der Weisheit wie der folgende Spruch 45:
Der Glaube empfängt, die Liebe gibt. Niemand wird ohne den Glauben empfangen können. Niemand wird ohne Liebe geben können. Daher, damit wir nun empfangen, glauben wir. Damit wir lieben, geben wir. Denn wenn jemand nicht aus Liebe gibt, hat er keinen Nutzen von dem, was er gegeben hat. (S. 83)
Warum man am Philippusevangelium in der Beschäftigung mit apokryphen Schriften aller Ungereimtheiten zum Trotz nicht vorbeikommt, liegt an
Maria Magdalena, Gefährtin des Herrn
Spruch 32: Drei waren auf allen Wegen mit dem Herrn: die Mutter Maria, ihre Schwester und Magdalena, die seine Gefährtin genannt wird. Alle drei hießen Maria: Seine Mutter, seine Schwester und seine Gefährtin.
Christus und Maria Magdalena. Peter Paul Rubens, 1618
Spruch 55: Maria Magdalena
ist die Gefährtin des Herrn; er liebte sie mehr als alle anderen
Jünger und küsste sie (oftmals) auf ihren (Mund).
Die anderen Jünger störte das und sie fragten:
„Weshalb liebst du sie mehr als uns?“ Der Erlöser antwortete:
„Weshalb liebe ich euch nicht so wie sie?“
Ob das Folgende als Antwort zu verstehen ist oder Jesus nur eine rhetorische Frage gestellt hat und Spruch 56 zufällig unmittelbar an dieser Stelle im Text angeführt wird, mag jeder für sich beantworten; im englischen Sprachraum wird zumeist ein Zusammenhang angenommen, im deutschen eher nicht. Der Spruch lautet jedenfalls:
Sind ein Blinder und ein Sehender gemeinsam im Finstern, lassen sie sich nicht voneinander unterscheiden. Kommt aber das Licht, wird der Sehende sehen, der Blinde aber in Dunkelheit verharren.
Maria Magdalena war also die Lieblingsjüngerin Jesu – und nicht Johannes, wie es im Johannesevangelium behauptet wird, oder der dort bei der Auferstehungsszene erwähnte namenlose andere „Jünger, den Jesus lieb hatte“.
Diese Zitate wurden im Zusammenhang mit der im Philippusevangelium präsentierten Darstellung der Ehe als sakralem Mysterium herangezogen, um Jesus und Maria zu verheiraten.
Freilich ist das so nirgends erwähnt; wir wissen nicht einmal mit Sicherheit, wohin Jesus Maria küsste – der Mund ist lediglich eine wahrscheinliche Annahme (und steht deshalb im obigen Zitat in Klammern). Das Küssen auf den Mund ist im Übrigen eine Sache für sich: Im Spruch 31 ist von der geistigen Ernährung die Rede, die, und zwar offenbar in beiden Richtungen, natürlich durch den Mund erfolgt und zur Vollkommenheit führt. Vollkommenheit wird durch einen Kuss erlangt und gegeben. „Deswegen küssen auch wir einander. Wir empfangen die Schwangerschaft durch die Gnade, die unter uns ist.“ (S. 82) „Schwangerschaft“ ist hier natürlich wie in der Phrase „mit einer Idee schwanger gehen“ zu verstehen.
Das Philippusevangelium gibt auf die "Ehefrage" keine Antwort.
Der Schluss, Maria Magdalena sei mit Jesus verheiratet gewesen, ist aus dieser Schrift nicht zu ziehen. Dass der Messias seine Gefährtin aber den anderen Jüngern vorgezogen hätte bzw. die Jünger mit galligem Neid auf diese intime Verbindung blickten, ist keinesfalls ohne Parallele: Davon war z. B. auch im Thomasevangelium die Rede, in dem Spruch, in dem sich Simon Petrus als Frauenhasser outet (Schlusslogion Nr. 144).
Interessant der Spruch 32, zitiert am Anfang dieses Abschnitts: Darin ist ja von drei Marias die Rede, die in einem besonderen Naheverhältnis zu Jesus stehen sollen. Die Formulierung (oder die Übersetzung der Übersetzung der Übersetzung) ist leider missglückt, denn so wie es geschrieben steht, lässt sich nicht entscheiden, ob die Schwester der Mutter Maria oder die Schwester Jesu gemeint ist. Die Wahrscheinlichkeit spricht für eine Schwester Jesu, denn dass die Eltern der Mutter Maria zwei ihrer Töchter mit dem gleichen Namen bedacht haben sollen, erscheint eher widersinnig. Der eigenen Tochter den Namen der Mutter zu geben ist hingegen seit jeher gängige Praxis. Andererseits sind uns die Familienverhältnisse natürlich heute nicht mehr erschließbar – eine Tante Jesu könnte durchaus von seiner Mutter Maria als „Schwester“ bezeichnet worden sein, obwohl sie genau genommen die leibliche Schwester ihres Mannes gewesen ist, in heutiger Terminologie also ihre Schwägerin.
Jesus hatte Brüder und Schwestern und ein gestörtes Verhältnis zur Verwandtschaft.
Dass Jesus leibliche Geschwister hatte, ist aus den kanonischen Evangelien evident – wie auch, dass sein Verhältnis zur Verwandtschaft wenigstens anfangs nicht ganz einfach war:
Mk 3,31 Und es kamen seine Mutter und seine Brüder und standen draußen, schickten zu ihm und ließen ihn rufen. 32 Und das Volk saß um ihn. Und sie sprachen zu ihm: Siehe, deine Mutter und deine Brüder und deine Schwestern draußen fragen nach dir. 33 Und er antwortete ihnen und sprach: Wer ist meine Mutter und meine Brüder? 34 Und er sah ringsum auf die, die um ihn im Kreise saßen, und sprach: Siehe, das ist meine Mutter und das sind meine Brüder! 35 Denn wer Gottes Willen tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter. (www.bibel-online.net)
Mag der Prophet im eigenen Haus auch nichts gelten, hat sich jedoch im weiteren Verlauf der Geschichte herausgestellt, dass ein enges Verwandtschaftsverhältnis zu Jesus zumindest kein Hindernis ist, dem Messias auch im geistigen Sinne ein Bruder zu sein. Der folgende Abschnitt nennt leibliche Brüder Jesu bei ihren Namen, die ihre zu diesem Zeitpunkt noch bestehende Skepsis überwinden und an Jesus glauben konnten – sie sind uns als prominente Apostel geläufig.
Mk 6,3: Ist er nicht der Zimmermann, Marias Sohn, und der Bruder des Jakobus und Joses (!) und Judas und Simon? Sind nicht auch seine Schwestern hier bei uns? Und sie ärgerten sich an ihm. 4 Jesus aber sprach zu ihnen: Ein Prophet gilt nirgends weniger als in seinem Vaterland und bei seinen Verwandten und in seinem Hause. (www.bibel-online.net)
Diese Bibelstelle findet sich fast wortident auch bei Matthäus, dort ist allerdings der zweite Name mit Josef angegeben, wie er wohl auch lautete.
Deutlich wird in diesen Zitaten aber nicht nur, dass Jesus sich zumindest mit seinen engsten Verwandten, seinen Brüdern und Schwestern (EvPh, Spruch 32), einig geworden ist, sondern auch die herausragende Bedeutung des Jakobus: Er wird unter vier Brüdern an erster Stelle genannt; allgemein wird angenommen, dass die Reihenfolge der Nennung in der Bibel mit der Rangfolge in der Gemeinschaft identisch zu verstehen ist, um die es, ungeachtet aller Nächstenliebe, einen permanenten eifersüchtigen Streit gab.
Für die Bedeutung des Herrenbruders Jakobus finden sich auch deutliche Belege unter den Nag-Hammadi-Schriften. Allen voran die: