Der Kanon steht

Abseits dieser Auseinandersetzungen hatte sich der biblische Kanon bereits weitgehend gebildet: Im Westen gilt er mit dem 3. Jahrhundert als im Grunde abgeschlossen, im Osten mit dem 4. – sieht man von der nach Gnostik riechenden Johannesapokalypse ab, die im Osten erst im 10. Jahrhundert definitiv Einlass in den Kanon fand. Umgekehrt waren im Westen der Hebräerbrief sowie einige katholische Briefe noch längere Zeit umstritten, die die Ostkirche bereits anerkannt hatte.

Es war also zum größten Teil klar, was einmal kanonisch genannt werden würde – und was als apokryph, im damaligen Sinne also häretisch, zu gelten hatte.

Die Ergebnisse von Nicäa beeinflussen die Welt bis zum heutigen Tag.

Dennoch spielten die historischen Ereignisse für die Kanonbildung sicher noch eine wichtige Rolle; vor allem aber beeinflussen die Ergebnisse von Nicäa die Welt bis zum heutigen Tag – und verfügen über eine enorme symptomatische Aussagekraft.

Niemand dachte je daran, das nicäische Glaubensbekenntnis in die Bibel aufzunehmen: Diese sollte erbauliche, verständliche, göttlich inspirierte und in allererster Linie die jesuanische Tradition fortschreibende Texte enthalten, je näher an Jesus selbst entstanden, desto besser. Beim Glaubensbekenntnis handelte es sich um eine Interpretation der Schrift, die zudem auf äußerst wackeligen Beinen stand. So sagt Jesus nach Joh 14,28: „Der Vater ist größer als ich.“ Insofern auch verständlich, dass mehrfach betont wird, der Vater habe den Sohn gesandt – und niemals umgekehrt. Sogar Petrus und Paulus waren sich ausnahmsweise einig, als sie schrieben: „Gesegnet sei der Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus!“ (2 Kor 1,3.16; Eph 1,3; 1 Pet 1,3).

Der Bibel zufolge war Jesus Gott untergeordnet. Als Gott aber war Jesus geeignet, sogar dem römischen Imperium die Stirn zu bieten.

Als Gott war Jesus am besten geeignet, um den ganz und gar irdischen Machtanspruch zu stellen und sogar dem übermächtigen römischen Imperium die Stirn zu bieten. Noch bevor die erste gültige Bibel als ein zusammenhängendes Buch ausgewählter Schriften entstanden war, hatte eine – ausgesprochen fragwürdige – Interpretation der Lehre bereits eine wichtigere Rolle eingenommen, als es die Bibel selbst jemals vermochte.

Dass es um nichts anderes als Machterlangung bzw. -verfestigung ging, wird besonders im Zusatz zum nicäischen Glaubensbekenntnis deutlich:

Diejenigen aber, die da sagen „es gab eine Zeit, da er nicht war“ und „er war nicht, bevor er gezeugt wurde“, und er sei aus dem Nichtseienden geworden, oder die sagen, der Sohn Gottes stamme aus einer anderen Person oder Wesenheit, oder er sei geschaffen oder wandelbar oder veränderbar, die verdammt die katholische Kirche.

Die Auslegung der Schrift war an die Stelle der vorgeblich unantastbaren Instanz Jesus getreten. Mochten auch manche der Evangelien oder sonstigen beliebten erbaulichen Texte wahrlich „göttlich inspiriert“ gewesen sein (was selbstverständlich alle vorhandenen Texte für sich behaupteten) – was spielte es noch für eine Rolle? Entscheidend war ja nicht mehr, was Jesus gemeint oder gesagt oder getan hatte, sondern was die Sieger des in- und externen Streits um die religiös-politische Macht aus den Texten herauslasen. Mit dem Konzil von Nicäa war diese Haltung quasi legitimiert worden.

Dieser Umstand spricht dafür, dass der Schriftenkanon großteils bereits gefunden war – man war ja bereits soweit, darüber hinauszugehen. Es wird mitunter behauptet, das Konzil von Nicäa habe aus 40 oder sogar 400 vorhandenen Evangelien die geeignetsten ausgewählt und den Rest verboten; einige der nunmehr offiziell verbotenen Schriften seien daraufhin versteckt worden und in Nag Hammadi wieder aufgetaucht.

Die Auslegung der Schrift trat an Jesu Stelle als höchste religiöse Autorität.

Nun, möglich ist alles. Wahrscheinlicher ist, dass zum Zeitpunkt des nicäanischen Konzils die Mehrzahl der sicher zahlreich vorhandenen Evangelien bereits als untauglich – heißt mit der späteren Siegermeinung unvereinbar – ausgeschieden worden waren. Inwieweit die Evangelieninterpreten auf die noch in Frage kommenden Texte Einfluss nahmen und diese für ihre Zwecke zurechtbogen, kann nicht beantwortet werden. Es existieren apokryphe Evangelien, aber keine alternativen Evangelien (eine Art „directors cut“ des Lukasevangeliums etwa). Die vielen Ungereimtheiten in den Bibeltexten, die zahllosen vagen, widersprüchlichen oder schlicht unsinnigen Aussagen weisen jedoch überaus deutlich darauf hin, dass an diesen Schriften nach Lust und Laune (oder besser nach Unlust und Siegerlaune) herumgedoktert worden war.

Die Wahl der Evangelien ist ein Spiegel der Machtverhältnisse.

Sicher widerspiegelten die Schriften aber auch die buchstäblich herrschende Atmosphäre – dafür sprechen vor allem die „systematische Steigerung des Jesusbildes in den drei ersten Evangelien“ sowie die „fortschreitende Vergottung Jesu im vierten Evangelium“ (Karlheinz Deschner, Der gefälschte Glaube). Ob es regelrechte Auftrags-Evangelien gegeben hat, kann gleichfalls nur in den Raum gestellt werden; historische Belege dafür fehlen. Angesichts der Schamlosigkeit, mit der hier der eigene Vorteil über alles gestellt wurde, wäre ein solches Vorgehen allerdings mehr als wahrscheinlich gewesen und hätte ganz logisch und stimmig zur allgemeinen Meinungsmache gepasst.

Mit dem Konzil von Nicäa hatte sich eine bestimmte christliche Denkrichtung durchgesetzt. Ein Schriftenkanon, bestehend aus dem Alten Testament und 27 neuzeitlichen Schriften, die im „Neuen Bund“ (Testament = Bund) zusammengefasst worden waren, war gefunden worden. Darunter die vier später kanonisch genannten Evangelien von Markus, Matthäus, Lukas und Johannes, die Apostelgeschichte, die Paulusbriefe, weitere Briefe und die Apokalypse nach Johannes. Die Sprache, in der diese zum Teil schon seit Jahrhunderten kursierenden Texte vorlagen, war Griechisch.

Die Zeit für die erste Bibel war gekommen – in der Sprache Roms. Angeblich gab bereits Kaiser Konstantin dem Eusebius von Caesarea einen entsprechenden Auftrag, bei dem 50 Bücher entstanden sein sollen; dagegen spricht, dass von Eusebius, dem „Vater der Kirchengeschichte“, ein reichhaltiges Schrifttum überliefert ist, jedoch keine Spur einer Eusebius-Bibel existiert. Dafür spricht, dass diese Bibel, so sie existiert hat, sicher nicht zur Gänze mit der Lehrmeinung der Trinitarier in Einklang zu bringen gewesen und nach deren vollständigem Triumph ein erstes Ziel der systematischen Vernichtung geworden wäre.

Die Frage nach der Eusebius-Bibel lässt sich nach heutigem Wissensstand schlichtweg nicht beantworten.

Die Un-Heilige Schrift
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