Marcionismus, Montanismus, Gnosis
Marcion von Sinope verbrachte die ersten 50 Jahre seines Lebens damit, als Reeder und Kaufmann ein gewaltiges Vermögen anzuhäufen. Ab ca. 135 n. Chr. begann er in Rom, seine Auffassung von Christentum zu lehren. Marcion unterschied sich dabei deutlich von der Großkirche: Insbesondere lehnte er das gesamte Alte Testament ab, denn in diesen Schriften erkannte er nichts als das Wirken eines bösen Gottes (eines Demiurgen), eines Gottes des Gesetzes. In Jesus offenbare sich hingegen der liebende Gott, der die Menschheit von der Herrschaft des (jüdischen) Gesetzes befreie; zur Erlösung brauche es nicht mehr als den Glauben an diesen guten Gott. Jesus gilt ihm nicht als Messias, sondern als ein göttliches Wesen mit einem Scheinleib, weshalb er auch nicht von den Juden getötet werden konnte.
Marcion erkannte im Alten Testament nur das Wirken eines bösen Gottes.
Mithin existierten für Marcion zwei Götter, von denen er einen strikt ablehnte. Seine mit gnostischen Elementen durchsetzte Lehre brachte ihm 144 die Exkommunikation aus der römischen Kirche ein – inklusive Rückgabe seines enormen Geldgeschenkes, welches er der Großkirche beim Eintritt überlassen hatte; ein Hinweis auf die selbst in Zeiten der Verfolgung bereits gut gepolsterte finanzielle Situation der christlichen Gemeinde.
Marcion begann zu reisen – und verbreitete seine Ansichten in Persien und Äygypten. Sein Erfolg (die letzten Spuren des Marcionismus verschwanden erst im 6. Jh.) war jedenfalls groß genug, um die römische Kirche auf den Plan zu rufen – nicht zuletzt, weil Marcion einen für sich genehmen Schriftenkanon aus den kursierenden christlichen Texten zusammenstellte. Der erste „christliche“ Bibelkanon der Geschichte bestand aus dem Lukasevangelium und den Paulusbriefen, die von ihm höchstpersönlich gereinigt, d. h. von allen Bezügen auf das Alte Testament befreit worden waren. Nur in diesen wenn auch von ihm „behandelten“ Schriften erkannte er das Wirken des liebenden Gottes allein. Paradox erscheint dabei seine Einschätzung der Schriften des Paulus: In diesen sind leib-, lust- und lebensfeindliche Tendenzen zuhauf zu finden, zusammen mit Frauen- und Eheverachtung sowie einer vermutlich essenisch beeinflussten Überbewertung eines mönchischen, asketischen Lebensstils – samt und sonders Elemente, die reichlich alttestamentarisch wirken und für die es in den Evangelien keine Belege gibt.
Der Marcionismus verbreitete sich bis Persien und Ägypten.
Warum Marcion sich ausgerechnet für diese Schriften entschied, kann aus heutiger Sicht natürlich nur vermutet werden; angesichts der überragenden Rolle von Paulus als erstem erfolgreichen Missionar und erstem schriftlichen Zeugnisleger der Christenheit darf aber angenommen werden, dass es viel mit Opportunismus zu tun hatte. Es galt schlicht und einfach, den Windschatten von Paulus auszunützen.
Für die Großkirche hieß es jedenfalls, der wachsenden Bewegung mit Entschlossenheit und in Einheit entgegen zu treten; die Bemühungen, zu einem einheitlichen Schriftenkanon zu gelangen, wurden merklich intensiviert.
Eine andere sektiererische Bewegung, die sich über großen Zulauf freuen konnte und die die von eigenen Gnaden offizielle christliche Kirche dazu zwang, ihre innere Geschlossenheit voranzutreiben, war der
Montanismus
Vom Gründer Montanus wurde angenommen, er habe angesichts des nahenden Weltenendes Offenbarungen des Heiligen Geistes empfangen. Montanus selbst hielt sich für den im Johannesevangelium (14,16) angekündigten eschatologischen Parakleten, d. h. Beistand für das Erreichen der letzten Dinge.
Diese bestanden im erwarteten tausendjährigen Reich Christi, für das es sich vorzubereiten galt. Strengste Askese, Fasten, Schlafentzug, Verzicht auf die Ehe bzw. auf jeglichen Geschlechtsverkehr lautete das Rezept. Theologisch stand die Prophetie im Mittelpunkt: Außer Montanus selbst waren noch die Prophetinnen Priska und Maximilla jederzeit bereit, die ihnen vom Heiligen Geist eingegebenen Offenbarungen in der Gemeinde zu verkünden.
Die Montanisten betrachteten das Martyrium als christliche Pflicht.
Die Montanisten sahen bei schwerwiegenden Vergehen keine Möglichkeit der Vergebung (im Gegensatz zur großkirchlichen Bußpraxis) und fassten das Martyrium geradezu als Pflicht auf: eine Flucht davor wurde als Abfall vom Glauben verstanden. Eine ausgesprochen rigide Praxis, die aber, so schwer dies auch aus heutiger Sicht nachvollziehbar sein mag, von einigem Erfolg gekrönt war: Von Kleinasien (Phrygien, im Süden der heutigen Türkei) ausgehend gewann der Montanismus eine zahlreiche Anhängerschaft und dehnte sich über Syrien und Thrakien bis Nordafrika aus.
Die Orthodoxie begann eine Phase der Selbstreflexion, die jedoch bald zur Reaktion führte: Man wandte sich von der im Grunde rechtgläubigen Bewegung ab und begann sie zu verleumden und zu verspotten. Bestechlichkeit, Habgier und dämonische Besessenheit wurden ihr vorgeworfen und die Prophetie in Ekstase als „unbiblisch“ verworfen. Der Heilige Geist wirke nicht im Einzelnen, sondern sei der Kirche als Gesamtheit und Institution gegeben.
Eine Frau an der Spitze einer christlichen Bewegung konnte nicht geduldet werden.
Abseits dieser theologischen Dispute geschah das, was die römische Kirche in Wahrheit nicht dulden konnte: Montanus und Priska starben und Maximilla – eine Frau! – führte die Bewegung weiter. Der Montanismus trug alle Züge einer selbstkasteienden, mönchischen Bewegung, die im Leid den Weg zur Erlösung sah, sie war absolut lust- und lebensfeindlich – aber frauenverachtend war sie nicht.
Als 179 auch Maximilla starb, ohne dass das angekündigte Weltende eingetreten wäre, war der Montanismus zu einer Neuorientierung gezwungen, die jedoch bravourös bewältigt wurde. 207 trat sogar der Kirchenvater Tertullian der Bewegung bei.
Immer noch gab es innerhalb der orthodoxen Kirche Versuche, den Montanismus zu integrieren, letztendlich wurde aber die gesamte Bewegung als Häresie verurteilt. Für die Entstehung des Schriftenkanons spielten die vom Montanismus plakativ repräsentierten Strömungen jedoch eine wichtige Rolle. Als (Untergangs)propheten schätzten sie besonders die Texte von Johannes: sein Evangelium, die Apokalypse. Diese Schriften, insbesondere die Offenbarung (Apokalypse), waren innerhalb der Kirche sehr umstritten, um ihre Aufnahme oder Nicht-Aufnahme in den entstehenden biblischen Kanon wurden heftige Auseinandersetzungen geführt. Die schlussendlich gefällte Entscheidung ist maßgeblich vom Montanismus beeinflusst: Sowohl das Johannesevangelium, das im Rahmen der kanonischen Evangelien eine Sonderstellung einnimmt, als auch die Johannesapokalypse fanden Einlass in den Kanon, jedoch keinerlei weitere Offenbarungsschriften.
Gnostisches Denken
Weitaus schwerer fassbar als Marcionismus und Montanismus ist die dritte Geistesströmung, die sich direkt auf die Auswahl der Schriften auswirkte: die Gnosis. Schwerer fassbar deshalb, weil darunter keine Weltanschauung oder religiöse Bewegung zu verstehen ist, sondern eine Geisteshaltung, die sich in vielerlei Spielarten und bei den unterschiedlichsten Persönlichkeiten finden ließ.
Im 2. und 3. Jh. existierten etliche „Gnostiker“, was nichts anderes bezeichnete als Intellektuelle. Gnosis heißt übersetzt Erkenntnis oder Wissen. Der gemeinsame Nenner der unterschiedlichen gnostischen Bewegungen (Valentinianer, Simonianer, Basilidianer …) bestand in der Überzeugung, durch Erkenntnis zum Heil zu gelangen.
Gnostische Elemente finden sich weit gestreut: Die Schriften von Qumran und Nag Hammadi machen deutlich, dass innerhalb des Judentums bzw. frühen Christentums gnostische Lehren aller Schattierungen vorhanden waren und gepflegt wurden. In die gnostischen Systeme flossen Elemente des Zoroastrismus ein (die Grundannahme eines göttlichen Gut-Böse-Dualismus), Erkenntnisse ägyptischer, babylonischer und persischer Weisheitslehren sowie griechischer Mysterienschulen. Wen dies jetzt an die Esoterik-Welle unserer Tage erinnert, der liegt ganz richtig: Einen Teil der gnostischen Erkenntnisse für sich zu behalten bzw. nur einem ausgewählten Zirkel von „Jüngern“ mitzuteilen, war in den meisten gnostischen Bewegungen üblich. Im Übrigen lassen sich gnostische Spuren von der Alchemie über die Katharer, den Mormonismus und die Anthroposophie bis zur Philosophie von Carl Gustav Jung und dem modernen Science-Fiction-Film „Matrix“ in ungebrochener Abfolge durch die Jahrhunderte nachweisen.
Gnostik war die Esoterikbewegung der Antike.
Das Endziel jedes guten Gnostikers bestand in der Überwindung der Materie (also des Körpers), um in den ursprünglichsten, rein geistigen Schöpfungszustand zurückzukehren. Dazu musste man sich auf die Suche nach dem göttlichen Funken machen, der in jedem Einzelnen schlummert, um diesen Schritt für Schritt von seinen hinderlichen Hüllen – der fleischlichen sowie der seelischen – zu befreien. Mit diesem Befreiungsprozess gingen Einweihungen bei Erlangen der nächsthöheren Stufe einher, die zugleich den Zugang zu esoterischem (also einer definierten Gruppe vorbehaltenem) Wissen gestattete.
Ohne Selbsterkenntnis konnte es keine Erlösung geben.
Der englische Maler und Dichter William Blake gilt als einer der wichtigsten Vertreter der Gnostik in neuerer Zeit. Sein "Ancient of Days" zeigt den Demiurgen (Schöpfergott), der den reinen, unfehlbaren göttlichen Geist in fehlerhafte, sündhafte Materie umsetzte.
Die gnostische Ablehnung des Materiellen ging so weit, dass die leibliche Existenz Jesu vielfach in Abrede gestellt wurde. Jesus habe lediglich über einen Scheinleib verfügt und habe auch nicht am Kreuz gelitten bzw. nur scheinbar gelitten, Jesus sei nur ein menschliches Gefäß für den göttlichen Christus gewesen. Diese Doketismus genannte Strömung wurde lange Zeit als ident mit der Gnosis gesehen, was nicht zutrifft. Doketismus ist aber ein wesentliches Element der Mehrzahl der gnostischen Lehren.
Sollte Jesus freilich nicht als Mensch gelitten haben, erschütterte dies das Fundament der christlichen Weltanschauung in ihren Grundfesten.
Der kappadokische Bischof Gregor von Nazianz formulierte Ende des 4. Jahrhunderts die Position, nach der Jesus sowohl göttlich als auch vollständig menschlich gewesen sei und als Mensch gelitten habe, da andernfalls eine Erlösung für den Menschen nicht möglich sei. Die Ablehnung der gnostischen Position war ein logischer Schritt, eine Unvermeidlichkeit angesichts der unabsehbaren Konsequenzen, sollte in diesem Punkt nicht klar Stellung bezogen werden.
William Blakes demiurgische Schöpfergestalt "Urizen" hier in Kontemplation über seine Schöpfung versunken. (Book of Los, 1795)
Noch leichter nachvollziehbar ist die Ablehnung des göttlichen Dualismus, der in den meisten gnostischen Bewegungen die Erschaffung der Welt erklärte: Es habe einen guten und einen bösen Gott gegeben (Licht und Finsternis), die offensichtliche und unleugbare Schlechtigkeit alles Materiellen inklusive des Körpers lasse nur darauf schließen, dass der böse Gott für die Schöpfung, in der der Mensch sich befindet, verantwortlich sei.
Die aus christlicher Sicht fatale
Schlussfolgerung daraus war zumeist dieselbe wie im Marcionismus:
Niemand anderer als der im Alten Testament beschriebene
Schöpfergott sei in Wahrheit dieser böse Gott, der Demiurg oder
Archont. Das gesamte Alte Testament sei deshalb abzulehnen;
ausschließlich das Auftreten Jesu als Repräsentation des
Lichtgottes sei von Interesse.
Das nun war freilich ein weitaus zu radikaler Standpunkt, denn die
orthodoxe Kirche hatte ja den Balanceakt zwischen Berufung auf das
jüdische Gesetz und eigenständiger Profilierung zu wahren – das
eigene Fundament in Bausch und Bogen zu verdammen stand weder
ideologisch noch realpolitisch auch nur einen Moment zur
Debatte.
Der Elitarismus der Gnostiker war der entstehenden Großkirche ebenfalls ein Dorn im Auge – schließlich ging sie mit dem Anspruch an die Sache heran, einst „katholisch“, also wörtlich „universell“ zu sein.
Scheinleibigkeit Jesu, strikte Ablehnung des Alten Testaments, göttlicher Dualismus, böser Schöpfergott: Der durchaus nachvollziehbaren Berufung auf solche Beweggründe fielen zahlreiche als gnostisch gebrandmarkte Schriften zum Opfer – im Einzelnen hervorragend dokumentiert spätestens seit den Funden von Nag Hammadi (Näheres dazu im Kapitel: Nag Hammadi – Ketzerbibel?).
Christen vs. Selbsterkenntnis
Rein politisch und machtideologisch war jedoch die Ablehnung der gnostischen Ausgangsbasis motiviert – dem Streben nach (Selbst)erkenntnis. Selbsterkenntnis hätte der Kirche das Monopol auf Erlösung im Glauben an Jesus Christus entrissen; Selbsterkenntnis hätte den mündigen, eigenständigen Menschen im Gegensatz zur viel zitierten friedlich-demütigen Herde unter der Schirmherrschaft eines Hirten gefördert.
Der so gefährlichen, individualistischen Selbsterkenntnis musste entschieden entgegengetreten werden. Schriften mit derartigen, bald als „häretisch“ bezeichneten Inhalten wurden möglichst diskret aus dem Verkehr gezogen und in den Gemeinden nicht mehr verwendet.
Christliche Spiritualität sollte sich ausschließlich auf gute Taten beschränken – für die Kirche.
Allerdings entspricht der Wunsch zur Selbstreflexion zu häufig dem Naturell des Menschen, um einfach unterdrückt werden zu können. Tatsächlich fanden Spuren gnostischen Denkens Eingang in den biblischen Kanon: Das umstrittene Johannesevangelium sei nach Meinung mancher Theologen eine gnostische Erlösungslehre, auch wenn natürlich auch bei Johannes weder die Welt von einem bösen Gott geschaffen wurde noch Jesus in Scheinleibigkeit scheingelitten hat. Ein Licht-Finsternis-Dualismus ist hingegen bei Johannes eindeutig präsent.
Das war’s aber auch schon. Die offizielle Sprachregelung, mit der spiritueller Neugier und spirituellem Streben der Menschen begegnet werden sollte, lautete: Das höchste Ziel jedes Christenmenschen sei der Himmel, und um diesen zu erreichen, könne durchaus von jedem Einzelnen etwas unternommen werden. Gute Taten zu begehen nämlich, und zwar hier auf Erden.
Der Ablass – Vergebung und Erlösung als Dienstleistung mit fixen Tarifen.
Aus diesem sicher wohlmeinenden Ansatz entwickelte sich mit der Zeit die Auffassung, diese guten Taten müssten direkt der römisch-katholischen Kirche zugute kommen, woraus über die Jahre das institutionalisierte Ablasswesen entstand – Vergebung und Erlösung als Dienstleistung mit fixen Tarifen. Wer es sich leisten konnte, war am Tiefpunkt dieser Entwicklung in der Lage, gleich einen Generalablass zu kaufen – für begangene wie für sämtliche zukünftigen Sünden. Kein Wunder, dass sich Martin Luther mit bissiger Kritik gegen diese Perversion jeglicher Spiritualität wendete. Bis die daraus entstandene Kirchenspaltung vollendet war, starben allein im Dreißigjährigen Krieg an die vier Millionen Menschen.
Bittere Ironie der Geschichte: Der Ablass, auch der Generalablass, kann innerhalb der katholischen Kirche auch heute noch erlangt werden, wenn dafür auch kein Geld mehr verlangt wird. (Siehe http://www.opusdei.at/art.php?p=11416) Und Luther versuchte, die letzten Reste gnostischen Denkens aus der Bibel zu verbannen. Zwei der vier gerne für eine Charakterisierung der Reformation herangezogenen Grundsätze lauten: Sola gratia – allein durch die Gnade Gottes wird der glaubende Mensch errettet, nicht durch eigenes Tun (Römer 3, 21–28). Sola fide – allein durch den Glauben wird der Mensch gerechtfertigt, nicht durch gute Werke (Römer 3, 28).